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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Früherer SPD-Bürgermeister von Berlin "Sie sagten mir, ich sei zu alt, zu weiß und zu rechts"
Die SPD brauche mehr Arbeitsbiografien in der Partei, findet Berlins Ex-Bürgermeister Michael Müller. Im Interview spricht er über junge Parteikollegen, die ihn an den Rand drängen wollen – und was diese von Olaf Scholz lernen können.
In knapp sechs Wochen wird gewählt, doch die SPD verharrt im Umfragetief. Läuft es schlecht, könnte die SPD-Fraktion im Bundestag – derzeit 207 Abgeordnete stark – auf die Hälfte zusammenschmelzen. Da viele Sozialdemokraten ihre Direktmandate verlieren könnten, sind Landeslisten oft die einzige Möglichkeit, sicher im Bundestag zu bleiben. Umso härter werden die Auseinandersetzungen um die aussichtsreichsten Plätze geführt – das Nachsehen haben mitunter bekannte SPD-Politiker.
So auch Michael Müller. Der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin und heutige Bundestagsabgeordnete unterlag beim Kampf um einen sicheren Listenplatz kurz vor Weihnachten einem SPD-Mann aus der zweiten Reihe. 2021 schickte der Berliner Landesverband Müller noch als Spitzenkandidaten ins Rennen – nun steht der 60-Jährige gar nicht mehr auf der Liste. Um Abgeordneter zu bleiben, muss der Außenpolitiker sein Direktmandat verteidigen.
Müller will aber nicht aufgeben, setzt auf seine außenpolitische Kompetenz und Regierungserfahrung. Ein Gespräch über einflussreiche linke Netzwerke in der SPD, die Hoffnung auf die Wahlkampfwende und was mit Donald Trump auf Deutschland zukommt.
t-online: Herr Müller, Sie sind als ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin ein bundesweit bekanntes Gesicht der SPD. Doch bei der Wahl am 23. Februar wurde Ihnen ein sicherer Listenplatz verwehrt – von Ihren eigenen Berliner Genossen. Wie fühlt sich das an?
Michael Müller: Natürlich tut das weh. Aber unabhängig von mir geht es um ein möglichst gutes Wahlergebnis für die SPD. Das erreicht man, indem man verschiedene Milieus anspricht, die sich dann auch in den Wahllisten widerspiegeln müssen. Leider gehen manche in der SPD einen anderen Weg. Das ist besorgniserregend.
Bei 15 Prozent in den Umfragen könnte man meinen, die SPD braucht gerade jeden prominenten Wahlkämpfer. Stattdessen wählte sie den weitgehend unbekannten Ruppert Stüwe auf den ersten Listenplatz. Was ist da los im Berliner Landesverband?
Die SPD ist immer stark, wenn sie die Mitte besetzt: inhaltlich und personell. Auf der Delegiertenkonferenz im Dezember hieß es hingegen, man wolle so viele linke Kandidaten wie möglich aufstellen. Das macht man, wenn man die eigene Agenda durchsetzen will, aber nicht, wenn man eine Wahl gewinnen will.
Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Die Berliner SPD ist traditionell eher ein linker Landesverband. Hinzu kommt ein Generationenwechsel, der gerade viele junge Leute in die Partei zieht, insbesondere aus dem akademischen Bereich. Das allein ist natürlich kein Problem. Aber: Menschen aus der Wirtschaft, Selbstständige, Einzelhändlerinnen und Handwerker gibt es immer weniger bei uns.
Wir müssen alle einen Gang hochschalten.
SPD-Bundestagsabgeordneter Michael Müller
Wollte sich die SPD nicht wieder stärker der "arbeitenden Mitte" zuwenden?
Mit meiner Kandidatur habe ich versucht, genau das deutlich zu machen. Ich bin seit 20 Jahren in der Politik, habe aber davor 15 Jahre in unserem kleinen Familienbetrieb als selbstständiger Buchdrucker gearbeitet. Ich habe weder Abitur noch ein Studium. Diese Biografien werden leider immer seltener, nicht nur bei der SPD. Wir brauchen aber auch diese Lebens- und Berufserfahrung in der Politik, sonst kreisen wir Politiker nur noch um uns selbst.
Ihr SPD-Kollege Johannes Arlt, ein fachlich versierter Verteidigungspolitiker, hat in Mecklenburg-Vorpommern ein ähnliches Schicksal erlebt: Auch er muss um sein Direktmandat kämpfen, um im Bundestag zu bleiben.
Das betrifft noch weitere Landesverbände und ist wohl kein Zufall. Dass das Folgen für die Partei hat, wurde offenbar in Kauf genommen.
Welche Folgen meinen Sie?
Volksparteien wie die SPD oder die CDU stehen dafür, den gesellschaftlichen Konsens abzubilden. Das gelingt aber nur, wenn man in der Lage ist, unterschiedliche Parteiströmungen und damit unterschiedliche Erfahrungen, Positionen und Schwerpunkte zusammenzubinden. Wenn das nicht mehr möglich ist, koppelt sich eine Partei irgendwann von der gesellschaftlichen Wirklichkeit ab.
Warum haben Sie Ihre Leute nicht mobilisiert, um gegenzuhalten?
Habe ich, wir waren auch knapp dran: Im ersten Wahlgang haben drei Stimmen gefehlt. Aber es gibt starke Netzwerke in der SPD, die um Einfluss ringen. Das hat mit Karrierewegen und Machtambitionen zu tun, ist aber immer auch mit Inhalten verbunden. In Berlin war es eine Funktionärsgruppe um Annika Klose und Rahed Saleh, die aber nicht unbedingt die Mehrheit der Parteimitglieder vertreten, wie wir immer wieder bei Mitgliederentscheiden sehen. Die eigenen Truppen in einer Partei zu organisieren, ist natürlich legitim, aber man sollte sich um Ausgleich bemühen. Das stand hier offenbar nicht im Vordergrund.
Wie lautete denn die Begründung dafür, dass man Sie an den Rand gedrängt hat?
Einige jüngere Parteimitglieder sagten mir, ich sei zu alt, zu weiß und zu rechts, und dass sie sich von mir nicht repräsentiert fühlen.
Was haben Sie geantwortet?
Dass ich das natürlich völlig anders sehe. Ich kann nicht wegdiskutieren, dass ich 60 Jahre alt bin. Aber was heißt denn "rechts"? Ich bin seit 42 Jahren Sozialdemokrat, ich sehe mich als linken Politiker, der aber auch in der Lage ist, die gesellschaftliche Mitte anzusprechen – von der Migrations- über Wirtschafts- bis zur Außenpolitik.
Fremdeln Sie mittlerweile mit Ihrer Partei?
Nein, ich bin durch und durch Sozialdemokrat, aber ich bin der festen Überzeugung: Eine Liste, auf der nur 60-jährige Ex-Bürgermeister oder Buchdrucker stehen, wäre falsch. Genauso falsch ist aber auch eine Liste mit ausschließlich jungen Akademikern. Ich habe darum gekämpft, dass wir diese Mischung hinbekommen: jung, erfahren, Frau, Mann, Ost, West, links und auch eben die Mitte.
Ihr Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf gilt als bürgerlich, bis 2021 war er in CDU-Hand. Wie schwer wird Ihr Wahlkampf, wenn der Rest Ihrer Berliner Genossen nach links rückt?
Unabhängig von innerparteilichen Entscheidungen wird es schwer. Andererseits erlebe ich nach der Entscheidung der Berliner SPD auch viel Zuspruch in meinem Wahlkreis. Wählerinnen und Wähler und natürlich auch viele Parteimitglieder sprechen mich an und sagen, dass sie mich jetzt erst recht unterstützen werden, weil sie finden, dass ich zur SPD gehöre und sie mich weiter im Bundestag sehen wollen.
Die Bundes-SPD versucht seit Monaten, sich als Kraft der Mitte zu etablieren. Auf dem Parteitag am Samstag nannte Ihr Kanzlerkandidat Olaf Scholz die SPD die Partei, die sich für die "normalen Leute" einsetze. Unterlaufen die Berliner Genossen damit nicht den eigenen Wahlkampf?
Olaf Scholz ist ein gutes Beispiel. Er hat jahrelang als Anwalt im Arbeitsrecht gearbeitet. Damit hat er nicht nur seine eigene Arbeitswelt, sondern auch die seiner Mandanten erlebt. Wenn er jetzt für den Mindestlohn, bessere Arbeitsbedingungen oder sichere Industriearbeitsplätze eintritt, können die Menschen das ernst nehmen. Es muss doch völlig egal sein, wie alt jemand ist, wenn er oder sie Expertise in die Partei bringt, unsere Botschaften glaubwürdig vertritt und die Themen dann auch anpackt.
Scholz lieferte eine solide, aber nicht übermäßig kämpferische Rede. Muss da noch mehr kommen vom Kanzler?
Wir müssen alle einen Gang hochschalten: der Kanzler, aber auch wir alle in der SPD. Ich fand die Rede bemerkenswert klar, im Gegensatz zu Friedrich Merz, bei dem man nie so genau weiß, was er vorhat. Es geht jetzt um drei Dinge, wie Franz Müntefering kürzlich bei einer Veranstaltung in meinem Büro gesagt hat: kämpfen, kämpfen und kämpfen.
Markus Söder ist ein prima Wahlkämpfer für die SPD.
SPD-Bundestagsabgeordneter Michael Müller
Derselbe Franz Müntefering, der vor Wochen einen SPD-Kanzlerkandidaten Boris Pistorius ins Spiel brachte?
Die Diskussion um Scholz oder Pistorius ist abgehakt. Ich habe in meinem Umfeld auch niemanden mehr, der diese alte Debatte aufwärmt.
Der frühere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat im Interview mit t-online gerade gesagt: "Die Wahrscheinlichkeit weist darauf hin, dass die SPD mit Scholz an der Spitze erkennbar nicht die stärkste Partei wird." Wird ein Wahlsieg nicht immer unwahrscheinlicher?
Der heiße Wahlkampf beginnt gerade erst. Ich bin überzeugt, dass wir noch etwas an der Stimmungslage verändern können. Unsere Botschaften sind klarer, glaubwürdiger und besser für dieses Land als das, was die Union verspricht. Wir müssen jetzt noch lauter und sichtbarer werden.
Steinbrück sagte auch, er spüre in der SPD eine Art "Hypnose", man könne das Wahlwunder von 2021 einfach wiederholen. Hat er recht?
Nein, da liegt Steinbrück falsch. Niemand sagt, wir könnten es einfach wiederholen. Uns ist allen bewusst, wie hart der Weg wird.
Die SPD stellt Merz gerne als fahrig und unkontrolliert da. Sind Fehler des CDU-Gegners wie schon 2021 die letzte Hoffnung der Sozialdemokraten?
Die Fehler oder Fehltritte der anderen gehören vor allem im Wahlkampf immer dazu. Die eigene Stärke und die Schwäche des Gegners sind wie zwei kommunizierende Röhren: Wenn die Mischung stimmt, hat man gute Chancen auf den Wahlerfolg.
Ist Markus Söder der heimliche Wahlkampfhelfer der Sozialdemokraten?
Markus Söder ist ein prima Wahlkämpfer für die SPD, weil er die Unruhe in der Union offenlegt. CDU und CSU sind Schwesterparteien, aber eigentlich sind sie sich spinnefeind. Ich bin nicht mal sicher, ob Markus Söder überhaupt für die CSU kämpft. Er kämpft ausschließlich für sich selbst, ohne Rücksicht auf Verluste.
Deutschland muss eine Führungsrolle übernehmen, in Europa und darüber hinaus.
SPD-Bundestagsabgeordneter Michael Müller
Sprechen wir über Außenpolitik. US-Präsident Donald Trump hat angekündigt, sich Grönland und Kanada einverleiben zu wollen, militärische Gewalt hat er nicht ausgeschlossen. Wie sollte Deutschland darauf reagieren?
Wir wollen nicht eskalieren, aber wir müssen Trump gegenüber Stärke zeigen. Ein starkes Deutschland in einem starken Europa, das eigenverantwortlich handelt. Trumps Äußerungen zeigen vor allem eines: Dass er "America First" mit aller Härte und auf allen Ebenen dekliniert. Ob er sich Grönland unter den Nagel reißen will oder nicht, die Botschaft lautet: Amerika kümmert sich ab jetzt nur noch um die eigenen Interessen.
Die USA waren seit dem Zweiten Weltkrieg ein Garant für Deutschlands Sicherheit. Was folgt aus der Ansage Trumps?
Dass wir nicht mehr allein auf die USA als verlässlichen Partner bauen sollten. Unsere europäischen Belange werden in Washington keine Priorität mehr einnehmen. Es wird hauptsächlich um US-Interessen gehen, die im Wesentlichen im pazifischen Raum liegen.
Worauf muss sich Deutschland einstellen?
Wir können nicht erwarten, dass andere Aufgaben für uns erledigen. Das, was Lars Klingbeil vor einer Weile formuliert hat, ist das Gebot der Stunde: Deutschland muss eine Führungsrolle einnehmen, in Europa und darüber hinaus.
Auch eine militärische?
Das kann man nicht trennen. Das betrifft die Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik gleichermaßen. Die Amerikaner, Briten und Franzosen werden uns diese Dinge nicht mehr abnehmen. Als größte Volkswirtschaft in Europa stehen wir in der Pflicht, noch sichtbarer zu werden als in der Vergangenheit. Das betrifft gerade auch diplomatische Bemühungen, die zu einer ausgewogenen Außen- und Sicherheitspolitik zwingend dazugehören.
Dazu müsste der Wehretat aber noch mal deutlich steigen. Robert Habeck forderte unlängst 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung, Trump verlangt fünf Prozent von den Nato-Partnern. Wo stehen Sie?
Ich möchte mich auf keine Zahl festlegen. Klar ist: Wir werden über die zwei Prozent hinausgehen. Wie viel genau, muss daran gemessen werden, was die Bundeswehr braucht und nicht, was Trump will.
In der Regierung soll es Unstimmigkeiten über ein neues Waffenpaket für die Ukraine geben. Verteidigungsminister Pistorius pocht auf die Unterstützung, im Kanzleramt scheint man zu zögern. Braucht es das Paket noch vor der Wahl?
Es ist unsere erklärte außenpolitische Linie. Wir unterstützen die Ukraine, solange es nötig ist. Und im Moment ist diese weitere Unterstützung nötig, da die russischen Angriffe weitergehen und nicht zu erkennen ist, dass sich eine Verhandlungssituation abzeichnet. Ob sich das ändert, werden wir erst nach dem 20. Januar sehen, nachdem Donald Trump ins Weiße Haus eingezogen ist.
Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch.