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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Militärische Lage in der Ukraine "Das kann die Probleme der Ukrainer lindern"
Besonders im Donbass sind die Ukrainer unter Druck der russischen Armee. Auch in Kursk könnte sich die Lage bald stark verändern, warnt Militäranalyst Franz-Stefan Gady.
In den vergangenen Tagen ist viel Bewegung in den Ukraine-Krieg gekommen. Die USA haben der Ukraine die Freigabe von Präzisionswaffen gegen Ziele auf russischem Gebiet erteilt. Kiews Truppen haben diese auch sogleich gegen ein Waffendepot und einen Kommandoposten in und nahe der russischen Region Kursk eingesetzt. Russland wiederum hat mit einer Anpassung seiner Nukleardoktrin reagiert – sowie womöglich zum ersten Mal überhaupt eine Interkontinentalrakete auf dem Gefechtsfeld eingesetzt.
Abseits der Freigabe von Präzisionswaffen jedoch haben die USA kürzlich eine weitere Entscheidung gefällt, die der Militäranalyst Franz-Stefan Gady als "viel wichtiger" bezeichnet. Im Interview mit t-online erklärt er, welche Waffen Washington nun erstmals an die Ukraine liefert, und warum sie die besonders schwierige Lage der ukrainischen Truppen im Donbass zumindest etwas erleichtern könnten.
Herr Gady, Russland hat laut ukrainischen Angaben am Donnerstag erstmals eine konventionell bestückte Interkontinentalrakete auf die Ukraine abgefeuert. Was bezweckt Moskau damit?
Franz-Stefan Gady: Ich würde die Meldung mit Vorsicht genießen. Der genaue Typ der Rakete ist unklar. Ich vermute, es handelt sich um eine abgespeckte Variante einer Interkontinentalrakete oder tatsächlich eine neue Variante einer Mittelstreckenrakete. Militärisch ist dieser Angriff nicht ungewöhnlich. Vielmehr will Russland damit klar Eskalationsängste in Europa schüren.
Das war wohl die Reaktion auf die Freigabe westlicher Präzisionswaffen. Die ukrainische Armee hat bereits ATACMS-Raketen aus den USA sowie britische Storm-Shadow-Marschflugkörper in Russland eingesetzt. Welche Bedeutung hat die Freigabe der Waffensysteme für den Kriegsverlauf?
Es kommt ganz darauf an, welche Grenzen der Ukraine gesetzt wurden. Die Freigabe der Waffensysteme ist wohl eine Antwort auf die Involvierung Nordkoreas in den Krieg. Es scheint so, dass daher alle nordkoreanischen Truppenverbände zu legitimen Zielen erklärt wurden – auch außerhalb von Kursk. Viel wichtiger erscheint mir jedoch eine andere Entscheidung.
Und welche?
Washington hat die Lieferung von Antipersonenminen an die Ukraine erlaubt. Das hatte die Biden-Regierung zuvor noch ausgeschlossen. Offenbar ist sie jedoch zu dem Schluss gekommen, dass die Minen den Ukrainern entscheidend helfen können. Das sehe ich ähnlich.
Zur Person
Franz-Stefan Gady (*1982) ist unabhängiger Militäranalyst. Gady berät Regierungen und Streitkräfte in Europa und den USA unter anderem in Fragen der Zukunft der Kriegsführung. Gady war mehrfach in der Ukraine, in Afghanistan und im Irak, wo er jeweils ukrainische, afghanische Einheiten und Nato-Truppen sowie kurdische Milizen bei Einsätzen begleitet hat. Mit "Die Rückkehr des Krieges. Warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen" ist gerade Gadys erstes Buch erschienen.
Welchen Vorteil haben die Minen denn?
Der Einsatz von Minen kann besonders im Donbass hilfreich sein, um den russischen Vorstoß zu verlangsamen. Dabei geht es darum, Verteidigungsstellungen auszubauen und zu schützen. Letztlich kann das auch die Personalprobleme der Ukrainer zumindest lindern und die Versorgung der Russen hinter der Front erschweren.
Wie genau funktioniert das?
Noch weiß man nicht genau, welche Minen geliefert werden. Möglicherweise sind aber sogenannte ADAM dabei. Das sind Artilleriegeschosse, die mehrere Dutzend Minen in sich tragen. Diese können hinter die russischen Linien gefeuert werden, wo die Minen dann ausgelegt werden. So würden zumindest kurzzeitig Gebiete gesperrt.
Insgesamt scheint die Situation an der Front derzeit aus Perspektive der Ukraine düster. Besonders im Donbass rücken russische Truppen stetig vor. Wie beobachten Sie das Lagebild?
An einzelnen Abschnitten ist die Front derzeit nicht stabil. Doch es ist nicht so, dass die gesamte Frontlinie zu kollabieren droht. Das wurde zuletzt oft etwas überzeichnet. Die ukrainischen Streitkräfte haben durchaus die Fähigkeit, die Front auch über die Wintermonate zu halten.
Dennoch kann von Entwarnung keine Rede sein. Wo genau ist die Situation kritisch?
Sicherlich im südlichen Teil der Region Donezk. Hier sollte man die russische Angriffsspitze bei Pokrowosk im Auge behalten. Genauso steigt der Druck auf Tschassiw Jar. Hier ist die Front am dynamischsten, es ist auch mit zusätzlichen Gebietsverlusten zu rechnen. Denn die russische Offensive ist noch längst nicht am Ende. Dieser Frontabschnitt bereitet mir am meisten Sorgen.
Den ukrainischen Streitkräften fehlen Infanteristen. Die Reihen sind extrem ausgedünnt.
Franz-stefan gady
Was unternehmen die Ukrainer, um die russischen Vorstöße zu stoppen?
Sie ziehen derzeit zusätzliche Reserven heran, doch auch diese sind endlich. Im Süden von Donezk zeigt sich besonders, dass es der Ukraine derzeit nicht so sehr an Material mangelt, sondern vor allem am Personal. Den ukrainischen Streitkräften fehlen Infanteristen. Die Reihen sind extrem ausgedünnt. Doch auch den Russen geht ihre Offensive nicht mehr so leicht von der Hand wie zuvor.
Woran liegt das?
Da die Ukraine mittlerweile über mehr Munition verfügt, ist die Artillerieüberlegenheit der Russen gesunken. Sie liegt in Donezk derzeit bei etwa eins zu zwei bis eins zu vier. Im Sommer 2022 kamen noch auf ein ukrainisches Geschoss bis zu zehn russische. Außerdem scheint die Ukraine beim Einsatz von Drohnen an einzelnen Frontabschnitten jetzt überlegen zu sein.
Kann das den Mangel beim Personal ausgleichen?
Nein, das ist ein Trugschluss.
Das müssen Sie erläutern.
Drohnenoperationen sind besonders personalintensiv. Es braucht nicht nur einen Piloten, sondern auch stets mehrere Soldaten, die ihn absichern und anleiten. Es bleibt also abzuwarten, wie lange die Ukrainer in Donezk die Russen aufhalten können. Abschreiben sollte man sie nicht.
Zuletzt richteten sich alle Augen vor allem auf die russische Region Kursk, wo die Ukrainer seit Anfang August eine Operation vorantreiben. Nun sollen die Russen aber gemeinsam mit Nordkoreanern zum Gegenschlag ansetzen.
Das ist richtig. Eine größere russische Offensive ist dort derzeit in Vorbereitung. Das bleibt noch abzuwarten. Doch die Ukrainer könnten dort in Bedrängnis kommen, obwohl sie eine beträchtliche Anzahl an Soldaten in Kursk versammelt haben. Genaue Angaben werden dazu jedoch nicht gemacht.
Welche Probleme gibt es auf ukrainischer Seite in Kursk?
Zunächst einmal gibt es lediglich eine große Versorgungsstraße in die Region Richtung Sudscha. Diese ist auf beiden Seiten stark vermint und steht unter starkem Beschuss mit russischen Gleitbomben und Drohnen. Es gibt dadurch eine Art Kanalisierungseffekt. Die ukrainische Versorgung gleicht einem Spießrutenlauf.
Welche Konsequenzen könnte das haben?
Wenn die Russen an mehreren Angriffsachsen erfolgreich sind, droht die Einkesselung ukrainischer Verbände. Das hängt jedoch davon ab, wie effektiv die Ukrainer die Vorstöße der russischen Truppen verzögern können. Ein mögliches Resultat der Gegenoffensive ist zudem eine russische Pufferzone in der ukrainischen Region Sumy, wenn sich die Ukrainer aus Russland zurückziehen müssen. Ich glaube, dass es für die Ukrainer schwierig wird, den Abschnitt zu halten.
Die Kursk-Offensive ist in der Ukraine umstritten, weil dafür weniger Soldaten im Donbass kämpfen können. Zusätzlich erschien nun eine Umfrage von Gallup, laut der sich 52 Prozent der Ukrainer für eine schnelle Beendigung des Krieges über Verhandlungen aussprechen. Ist die Bevölkerung kriegsmüde?
Natürlich ist nach mehr als zweieinhalb Jahren Krieg zunehmend Müdigkeit in dem Land spürbar. Jede Familie ist in irgendeiner Art und Weise von dem Krieg betroffen. Und viele Menschen realisieren wohl, dass die Maximalziele, also die vollständige Rückeroberung der besetzten Gebiete, kaum mehr umsetzbar sind. Dennoch sollte man diese Umfrage nicht überbewerten.
Erklären Sie das bitte.
Man muss hier im Westen verstehen, dass es keinen Zusammenhang zwischen fehlender Waffenhilfe und einem schnellen Ende des Krieges gibt. Die Ukraine würde auch ohne westliche Waffenlieferungen weiterkämpfen. Davon bin ich überzeugt. Es wird derzeit vielmehr diskutiert, welche Bedingungen ein langfristiger Waffenstillstand hätte.
Welche wären das?
Es braucht vor allem Sicherheitsgarantien, im besten Fall eine Mitgliedschaft in der Nato oder der EU. Das ist jedoch politisch derzeit kaum durchsetzbar – noch weniger wohl unter einer US-Regierung von Donald Trump. Die Furcht ist daher, dass die Ukraine letztlich ohne solche Garantien verbleibt. Dann könnte es in den nächsten Jahren einen Nachfolgekrieg geben. Um das zu verhindern, müssen Mächte wie die USA zwingend Sicherheitsgarantien übernehmen.
Herr Gady, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefoninterview mit Franz-Stefan Gady