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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine Putin setzt die Segel
In der Ukraine tobt seit knapp 29 Monaten ein blutiger Abnutzungskrieg. Derzeit kann weder die ukrainische noch die russische Armee entscheidende Vorteile erringen. Politisch könnte es für Wladimir Putin jedoch kaum besser laufen.
Auf den ersten Blick gibt es aktuell vergleichsweise wenig Bewegung im Ukraine-Krieg. Die Frontlinien erscheinen relativ stabil, weder den russischen Invasoren noch der ukrainischen Armee gelingen Durchbrüche oder große Geländegewinne. Doch der Schein trügt: In dem blutigen Abnutzungskrieg geht es längst nicht mehr darum, möglichst viel Land zu erobern. Sowohl die Ukraine als auch Russland versuchen der jeweils anderen Seite möglichst hohe Verluste an Material und Soldaten zuzufügen. Dabei ist egal, wo gekämpft wird. Mit dieser Strategie möchte Moskau die Ukraine mittelfristig erdrücken.
Aber beide Seiten zeigen momentan ähnliche Abnutzungserscheinungen und die ukrainische Armee hält stand, vor allem seit im Frühjahr wieder kontinuierlicher Nachschub an Waffen und Munition aus dem Westen kommt. Im Norden im Raum Charkiw konnte die Ukraine die russischen Truppen zurückdrängen, im Südosten im Raum Donezk eroberte wiederum Russland einige Ortschaften. Werden kleine Städte und Dörfer von einer der beiden Parteien eingenommen, sind sie oft nur noch Trümmerwüsten. Es ist ein Kampf um jeden Kilometer, ein ständiges Hin und Her.
Trotz eigener hoher Verluste und ausbleibender militärischer Erfolge hat Kremlchef Wladimir Putin momentan politischen Rückenwind, der ihn in seinem Kriegskurs bestärken wird. Denn eines ist klar: Putin liebt es, wenn westliche Regierungen ihre Ukraine-Strategie hinterfragen. Das gilt besonders für die USA, die mit der Wiederwahl von Donald Trump im November dem Kreml in die Karten spielen könnten.
Hohe Verluste in der Region Charkiw
Diese abwartende Haltung Russlands wirkt sich auch auf das Geschehen auf den Schlachtfeldern in der Ukraine aus. Moskau hat die russische Wirtschaft auf einen längeren Krieg eingestellt, auch die Rekrutierung neuer Soldaten läuft im Hintergrund weiter. Personelle Engpässe gibt es allerdings auf beiden Seiten, was vor allem mit der Frontlänge von über 1.000 Kilometern zusammenhängt.
Auf den Gefechtsfeldern wirkt sich das wie folgt aus: Offensiven finden – im Vergleich zu Kriegsbeginn – nur noch mit wenigen Soldaten statt, vorrückende Panzer werden kaum noch durch Infanterie geschützt, Stellungen nur mit wenig Mann verteidigt und in der Folge all dessen spielen Drohnen eine immer größere Rolle.
Besonders zeigten sich die Personalengpässe im Raum Charkiw. Hier hatte die russische Armee im Frühjahr eine Offensive gestartet, mehrere Ortschaften erobert und einen Brückenkopf in der Region errichtet, von wo aus sie die Millionenstadt Charkiw bedrohen konnte.
Experten werten die russische Offensive vor allem als Ablenkungsmanöver. Sie sollte die ukrainische Armee in Rückeroberungsgefechte zwingen, die für Kiew verlustreich sind und die ukrainischen Truppen im Norden binden. So wollte sich die russische Militärführung einen Vorteil im südöstlichen Donezk verschaffen, um dort weitere Gebiete zu erobern.
Ging dieser Plan auf?
Zumindest musste die ukrainische Armee viele Kräfte mobilisieren, um den Vorstoß abzuwehren. Laut Schätzungen von Experten sind etwa 20.000 ukrainische Soldaten im Norden Charkiws im Einsatz. Die Ukraine drängt die russischen Truppen immer weiter zurück und steht mittlerweile kurz vor der Befreiung des fast völlig zerstörten Wowtschansks. Auf den ersten Blick mag dies wie ein militärischer Erfolg für die Ukraine aussehen, weil auch viele russische Soldaten gefangen genommen oder getötet wurden – tatsächlich handelt es sich aber mehr um Schadensbegrenzung. Denn für beide Seiten waren diese Kämpfe verlustreich, die Ukraine muss jedoch viel sorgsamer mit ihren Soldaten und ihr Material umgehen.
Ukrainische Armee im Süden unter Druck
Die russische Strategie im Raum Charkiw kann daher aus Sicht des Kremls als Erfolg gewertet werden. Putin nimmt keine Rücksicht auf eigene Verluste, und während die Ukraine in Charkiw eine Gegenoffensive startete, konnten die Russen im Oblast Donezk weiter vorrücken. So konnten russische Truppen die Ortschaft Uroschajne erobern – ein symbolischer Erfolg, weil die Ukraine den Ort bei ihrer Gegenoffensive im vergangenen Jahr befreit hatte. Außerdem konnten russische Verbände beim Ort Piwnitschne – südlich von Tschassiw Jar – und bei Jewheniwka – nordwestlich von Awdijiwka – Geländegewinne erzielen.
Die ukrainische Armee gerät hier zunehmend unter Druck der Russen. Seit der Einnahme von Awdijiwka im Februar drängen die russischen Truppen die ukrainischen Verteidiger immer weiter zurück. Die Folge: Die Ukraine konnte bisher kaum standhafte erste Verteidigungslinien aufbauen, weil ihr die Zeit fehlte. Es gab an vielen Stellen lediglich provisorische Schützngräben, die von den ukrainischen Soldaten teilweise mit Schaufeln ausgehoben wurden, und diese konnten den russischen Vormarsch nicht aufhalten.
Einen weiteren Rückschlag für Kiew gibt es zudem momentan in der Region Cherson. Hier musste die ukrainische Armee offenbar die Ortschaft Krynky am Südufer des Dnipro räumen. Die Verteidigung des Brückenkopfes war militärisch aber ohnehin wenig sinnvoll, weil die Verluste hoch waren und ukrainische Truppen in den vergangenen Monaten nicht weiter vorrücken konnte. Mehr dazu lesen Sie hier.
Vorbereitungen auf einen langen Krieg
Der aktuelle Kriegsverlauf verdeutlicht, dass selbst mittelfristig nicht mit dem Zusammenbruch einer der beiden Armeen zu rechnen ist. Deswegen stellt Putin derzeit verstärkt die Weichen für einen langen Krieg. Die Rüstungsproduktion wurde angepasst, er hat sich die politische Rückendeckung Chinas gesichert und darüber hinaus erhält Russland Waffen und Munition aus Nordkorea.
Momentan deutet auch nichts darauf hin, dass Putin zu Verhandlungen bereit ist. Auf einen Vorstoß des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der für eine Teilnahme Russlands an einer nächsten Friedenskonferenz warb, regierte Kremlsprecher Dmitri Peskow zurückhaltend. Dahinter steckt Putins Kalkül: Warum sollte er verhandeln, wenn er am Ende gewinnen kann?
Das hängt weniger mit der militärischen Situation zusammen als mit Entwicklungen im Westen. Einerseits ist ein Sieg von Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl im November durch die Aussetzer von US-Präsident Joe Biden beim TV-Duell und durch das Attentat auf Donald Trump wahrscheinlicher geworden. Andererseits hat die Wahl in Frankreich dazu geführt, dass eine der europäischen Führungsmächte in den kommenden Monaten innenpolitisch mit sich selbst beschäftigt sein wird.
Russland setzt auf Trump
All das hilft Putin. Auch wenn es Russland öffentlich bestreitet, liegt vor allem eine Wahl Trumps im Interesse des Kremls. Denn der Republikaner sieht die Ukraine als europäisches Problem und er könnte versuchen, die Ukraine in einen für sie schlechten Frieden zu zwingen. Ohne US-Hilfen fiele es der ukrainischen Armee schwer, weiterzukämpfen. Auch Trumps Vizepräsident James David Vance steht für diesen Kurs.
Dieser sagte kurz nach Kriegsausbruch: "Ersparen Sie mir die gespielte Zuneigung für die Ukraine, ein korruptes, von Oligarchen geführtes Land, das einer funktionierenden Demokratie im Jahr 2022 so nahe ist wie Afghanistan." Er ergänzte: "Es ist mir egal, was mit der Ukraine passiert."
Derartige Aussagen hört die russische Führung sicherlich gerne. In der Summe sind das Gründe, warum sich Putin zurücklehnt, und die US-Wahl im November abwartet. Erst danach wird er die Segel setzen. Es ist eine Wette auf Trump und die Chance, die sich dem Kreml durch seine Wahl eröffnen könnte. Militärisch wird Russland deswegen bis dahin versuchen, den Druck auf die Ukraine aufrechtzuerhalten. Auch wenn es für Putin immer wieder Rückschläge gibt.
- understandingwar.org: Russian Offensive Campaign Assessment, July 16, 2024
- mdr.de: Ukraine erhält deutlich weniger F-16-Kampfjets als geplant