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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine "Die Russen haben es erkannt"
Kaum ein Symbol steht so sehr für Putins Aggression gegen die Ukraine wie die Krimbrücke. Doch sie wird kaum mehr für Militärtransporte genutzt – dafür setzt Russland auf neue Wege.
Mitte Juli 2023 erschüttern zwei Explosionen eines der wichtigsten Symbole des Regimes von Wladimir Putin. Ukrainische Überwasserdrohnen schlagen in Pfeiler der Kertschbrücke ein, die die Halbinsel Krim mit dem russischen Festland verbindet. Jeweils 850 Kilogramm Sprengstoff entfalten ihre Wirkung: Ein Ehepaar, das mit seiner Tochter auf dem Weg in den Urlaub die Brücke passieren will, stirbt bei dem Angriff, die 14-Jährige überlebt. Auto- und Zugverkehr werden zeitweise eingestellt. Doch das Prestigebauwerk stürzt nicht ein.
Es ist bereits der zweite Angriff auf die Kertschbrücke (auch Krimbrücke genannt) seit Beginn des russischen Angriffskriegs. Im Oktober 2022 war ein mit Sprengstoff beladener Lastwagen auf der Brücke explodiert, fünf Menschen kamen dabei ums Leben. In beiden Fällen übernahm der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU die Verantwortung. Russland gab sich nach beiden Attacken betont gelassen: Nach dem schwereren, zweiten Angriff sprach Moskau von einer Reparaturzeit von zwei bis drei Monaten. Dann sollte der Verkehr wieder uneingeschränkt die Brücke passieren.
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Doch offenbar ist dem nicht so. Es gibt Hinweise, dass Russland die Brücke kaum noch für Militärtransporte nutzt. Bisher galt die Brücke als wichtigste Nachschubroute für die russischen Truppen an der Front in der Ukraine. Russland scheint jetzt jedoch umzusatteln. Zeigt die ukrainische Bedrohung des Bauwerks bereits Wirkung? Kommt Putins Kriegslogistik nun ins Wanken?
Das bedeutet die Krimbrücke für Putin
Ein Blick zurück: Wohl kaum ein anderes Projekt untermalt die angeblichen Ansprüche Russlands auf die Halbinsel Krim wie der Bau der Kertschbrücke. Noch im März 2014 – also im selben Monat, in dem Russland auch die Krim völkerrechtswidrig annektierte – gab der damalige russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew den Auftrag zur Planung der Kertschbrücke. Im Mai 2018 eröffnete Kremlchef Putin die Straßenstrecke der Brücke höchstpersönlich, indem er an der Spitze einer Kolonne mit einem Baustellen-Lkw über das 19 Kilometer lange Bauwerk fuhr.
Mit der Annexion hatte Putin die Krim zwar in sein Reich eingegliedert, für Russen, die die Halbinsel als beliebten Ferienort kennen, war sie jedoch weiterhin nur schwer erreichbar. Lediglich per Schiff oder Flugzeug konnte die Krim besucht werden. Die Kertschbrücke änderte das. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs kommt der Brücke zudem eine militärstrategische Bedeutung zu, vor allem die Truppen in den besetzten südukrainischen Gebieten erhalten über das Bauwerk ihren Nachschub. Der Ukraine ist die Brücke deshalb seit jeher ein Dorn im Auge.
Russland stellt Militärtransporte über Krimbrücke ein
Nun aber scheint Russland die Brücke offenbar nicht mehr für militärische Transporte zu nutzen. Der Chef des SBU, Wasil Maljuk, sagte bereits Ende März zu ukrainischen Medien: "Vor unseren erfolgreichen Angriffen fuhren täglich 42 bis 46 Züge mit Waffen und Munition über die Brücke. Heute sind es vier bis fünf Züge. Vier davon befördern Passagiere und ein weiterer Konsumgüter."
Die ukrainische Agentur Molfar, die ihren Sitz in London hat, untersuchte kürzlich Satellitenbilder des Anbieters Maxar von der Kertschbrücke und kam zum gleichen Schluss wie Maljuk: "Der Verkehr russischer Militärzüge auf der Krimbrücke wurde infolge des erfolgreichen Angriffs im vergangenen Jahr gestoppt."
Der Militärexperte Gustav Gressel hält die Auswertung der Satellitenbilder zumindest mit Einschränkungen für schlüssig: Mit Blick auf die Zugbewegungen ließen sich solche Schlussfolgerungen anstellen, da in Rangierbahnhöfen wie der Station Taman auf dem russischen Festland der Zugverkehr leicht überwacht werden könne. "Allerdings muss man beachten, dass die Satellitenbilder am Tage aufgenommen werden", sagt der Experte vom European Council on Foreign Relation (ECFR) t-online. "Im Gesamtvolumen der militärischen Transporte ist die Bedeutung der Krimbrücke zweifelsohne zurückgegangen", erklärt Gressel. Die Frage sei jedoch, wie stark der Rückgang tatsächlich ausfalle.
Zur Person
Gustav Gressel (*1979) ist Senior Fellow im Berliner Büro der Denkfabrik European Council on Foreign Relations. Der Österreicher beschäftigt sich vor allem mit Verteidigungspolitik, Russland und Osteuropa. Gressel ist einer der meistgefragten Experten zum Krieg in der Ukraine.
Putin sucht neue Wege
Denn Russland hat seine Militärtransporte über die Krimbrücke nicht einfach ersatzlos gestrichen. Putins Armee bezieht ihren Nachschub schlicht auf anderen Wegen – in diesem Fall über die einzig verbliebene Alternative: den Landweg über die Ost- und Südukraine. Dort sind Schienenverbindungen für die Kremltruppen zur Lebensader geworden. Und Russland baut diese Infrastruktur zunehmend aus.
Erst im November berichteten russische Medien, dass eine neue Eisenbahnlinie gebaut werden soll, die Rostow am Don im Süden Russlands über Taganrog, die ukrainischen Städte Mariupol, Berdjansk, Melitopol und schließlich Dschankoj auf der Krim miteinander verbindet. Am 18. März – zur Feier des zehnten Jahrestags der Krim-Annexion – verkündete Putin in Moskau vor seinen Anhängern, dass die rund 240 Kilometer lange Strecke von Rostow bis Berdjansk fertiggestellt sei. "Wir werden diese Arbeit fortsetzen, und bald werden die Züge bis zur Krim fahren, und dies wird eine weitere alternative Route sein, zusätzlich zur Krimbrücke", sagte der Kremlchef.
Militärexperte Gressel bestätigt das im Gespräch mit t-online. Ob die Strecke schon militärischen Transporten standhalten könne, lasse sich jedoch kaum bewerten. "Allerdings sind die Kämpfe im Süden auch lange nicht so intensiv wie die im Osten", erklärt Gressel – noch also sind größere Transporte dort kaum notwendig. Die weniger intensiven Kämpfe haben jedoch auch mit der logistischen Infrastruktur zu tun: "Die Ukrainer schätzen, dass die Russen eine Offensive im Oblast Saporischschja erst nach ihrer Donbass-Offensive angehen, wenn diese Infrastruktur fertig ist", fügt Gressel hinzu.
Laut dem ehemaligen Direktor des britischen Royal United Services Institute (RUSI), Michael Clarke, könnte diese Offensive im kommenden Jahr anstehen: "Die Eisenbahn ist ein Element der logistischen Vorbereitungen Russlands für die erwartete strategische Offensive im Frühjahr 2025", erklärte er der "Times" aus London.
"Die Russen haben erkannt, dass es sich um ein höchst vulnerables Nadelöhr handelt"
Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer sieht einen entscheidenden Vorteil für Putin: "Russland hat es geschafft, seine 'Hauptarterie' für die Kriegslogistik durch mehrere 'Nebenarterien' zu entlasten", sagt er im Gespräch mit t-online. Die Bemühungen der Ukraine, die Krimbrücke zu zerstören, hätten noch nicht gefruchtet, so Reisner. "Und die Russen haben erkannt, dass es sich um ein höchst vulnerables Nadelöhr handelt."
Zur Person
Markus Reisner (*1978) ist Oberst des österreichischen Bundesheeres. Der Militärexperte hat besonders durch seine Analysen der Frontlage im Ukraine-Krieg internationale Bekanntheit erlangt. Zudem forscht Reisner zur Militärgeschichte.
"Dass nun auch auf westlicher Seite die Bedeutung der Krimbrücke etwas heruntergespielt wird, könnte als Hinweis an die Ukraine gewertet werden, sich eher auf andere Ziele zu konzentrieren", meint Reisner mit Blick auf die Berichte, das Bauwerk habe in seiner strategischen Bedeutung eingebüßt. Die Krimbrücke bleibe zwar wichtig als Alternative für Russlands Kriegslogistik – momentan sei sie aber auch nicht viel mehr als das, sondern vor allem ein Symbol. "Die neuen Hauptwege für den Nachschub durch die Süd- und Ostukraine sind bereits so gut wie fertig", sagt auch Reisner.
Westliche Waffen stellen die Ukraine vor Probleme
Der Ukraine sind die russischen Bestrebungen zur Verbesserung der Kriegslogistik nicht entgangen. Doch scheint sie aktuell nicht die Mittel zu haben, die Bauarbeiten effektiv zu stören oder gar zu verhindern. Zwar habe die Ukraine bereits mehrfach versucht, diese Baustellen zu treffen, sagt Gustav Gressel, doch diese seien gut geschützt durch Flugabwehrstellungen und Störsender. "Die Letzteren sind dafür verantwortlich, dass die Ukrainer mit verschiedensten westlichen Waffen nichts mehr treffen", erklärt Gressel.
Dazu gehört etwa die Ground Launched Small Diameter Bomb (kurz GLSDB), die die USA an die Ukraine abgegeben hat. Die Lieferung war mit hohen Erwartungen verbunden, versprachen die bodengestützten Bomben Kiews Truppen doch zielgenaue und durchschlagende Angriffe. Doch der Effekt verpuffte offenbar: Russlands elektronische Kriegsführung scheint den GPS-gestützten Waffen aus westlicher Produktion bisher überlegen zu sein. Ähnlich verhält es sich mit manchen der gelieferten präzisionsgelenkten Waffen wie GMLRS (Guided Multiple Launch Rocket System) und manchen Typen der ATACMS-Raketen aus den USA.
"Das ist kein Wunder", sagt Oberst Markus Reisner. Die USA haben diese Waffen in den vergangenen 20 Jahren für den Krieg im Irak beziehungsweise gegen die Taliban in Afghanistan entwickelt. "Einen Gegner wie Russland mit weit fortgeschrittenen Fähigkeiten in der elektronischen Kriegsführung hatte man damals nicht im Sinn."
Elektronische Kriegsführung
Laut dem Militärexperten Gressel kann die Ukraine für diesen Zweck deshalb aktuell lediglich jene GMLRS- und ATACMS-Typen einsetzen, die über Sprengköpfe mit Streumunition verfügen. "Diese richten aber eher nur bei Baustellenfahrzeugen, die leicht zu ersetzen sind, Schaden an. Nicht an den Bauwerken selbst", so Gressel. Auch aus diesem Grund bitte die Ukraine stets um Munition, die ohne GPS funktioniere, erklärt der Militärexperte. Dazu gehöre etwa der deutsche Taurus-Marschflugkörper. "Den bekommen sie aber nicht."
Für die Ukraine sieht Oberst Markus Reisner aktuell vor allem drei Möglichkeiten, die russische Kriegslogistik zu stören. "Um den Nachschub nachhaltig zu unterbrechen, bräuchte es eine größere Offensive bis zum Asowschen Meer oder aber eine Luftkampagne auf die Verkehrsknotenpunkte wie Brücken, relevante Weichen oder Verladebahnhöfe", so der Experte. "Dafür fehlen der Ukraine jedoch die Mittel."
Eine dritte Möglichkeit wäre, selbst die elektronische Kriegsführung gegen Russland auszuweiten, um GPS-basierte westliche Waffen wieder einsetzbar zu machen. "Ein Mittel könnten Gegenangriffe auf das russische GPS-Pendant Glonass sein", sagt Reisner. "Ob diese derzeit politisch gewollt sind, ist jedoch zu bezweifeln", so der Experte mit Blick auf das Zögern des Westens, das System zu stören, wie es Russland selbst vor allem im Baltikum bereits tut. "Solange muss sich die Ukraine weiter mit selbst produzierten ukrainischen und westlichen Systemen zur elektronischen Kriegsführung begnügen. Diese sind zwar leistungsfähig, jedoch nicht im ausreichenden Maße vorhanden."
- Statement von Gustav Gressel
- Telefoninterview mit Markus Reisner
- molfar.com: "Zero Traffic and Detours: Why Attacking the Crimean Bridge Isn't Needed Anymore" (englisch)
- independent.co.uk: "Satellite images show Russia no longer using Crimean bridge to supply troops in Ukraine" (englisch)
- thetimes.co.uk: "What does Putin’s railway to Crimea mean for the Ukraine war?" (englisch)
- esut.de: "Die Kertsch-Brücke – Eine Achillesferse der russischen Logistik"
- ukrinform.net: "Russia no longer using Crimea Bridge to transport weapons – SBU chief" (englisch)