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Ukraine-Krieg | Entführte: "Fesselten ihn an die Wand und warfen mit Messern"


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Entführungen in der Ukraine
"Sie fesselten ihn an die Wand, lachten und warfen mit Messern"


Aktualisiert am 05.10.2023Lesedauer: 4 Min.
Ukrainischer Soldat vor der Eroberung durch Russland in Melitopol (Archivbild): Die Stadt wurde gleich zu Beginn des Krieges gestürmt.Vergrößern des Bildes
Ukrainischer Soldat vor der Eroberung durch Russland in Melitopol (Archivbild): Die Stadt wurde gleich zu Beginn des Krieges gestürmt. (Quelle: imago stock&people/imago-images-bilder)
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Viele Einwohner in Melitopol wollen den russischen Besatzern trotzen – doch oftmals kommen sie nicht gegen die Gewalt an. Entführungen und Folter gehören nun zum Alltag.

Die Stadt Melitopol gilt als logistisches Zentrum der Russen in der Südukraine, zugleich ist der Widerstand der dort noch lebenden Einwohner groß. Rund 150.000 Menschen zählte die Stadt vor der russischen Invasion. Doch schon im März 2022 übernahm Russland die Kontrolle und erklärte Melitopol zur Hauptstadt der Region Saporischschja.

Seither häufen sich die Berichte über Verschleppung, Folter und Mord. Die russischen Besatzer sollen extrem brutal gegen Zivilisten vorgehen – vor allem gegen die, die sich solidarisch mit ihrer Heimat, der Ukraine, zeigen. Auch der Bürgermeister der Stadt, Iwan Fedorow, befand sich zeitweise in russischer Gefangenschaft. Die unabhängige russische Nachrichtenseite "Meduza" bezeichnet Melitopol als "größtes Gefängnis Europas".

Hilfshotline für entführte Menschen

Aufgrund der Situation wurde bereits im März 2022 eine ukrainische Hotline für Entführungsopfer und Angehörige eingerichtet: "Vikradeni Melitopoltsi", "Entführte Einwohner von Melitopol". Eine Mitarbeiterin der Hotline, Natalia, berichtet "Meduza", dass anfangs viele Verwaltungsangestellte entführt wurden, später Lehrkräfte und Bauern. Außerdem leben Geschäftsleute in ständiger Gefahr – "um Lösegeld zu erpressen", erzählt Natalia.

Die Hotline habe seit Beginn des Krieges mehr als 300 Entführungen registriert. Über 100 Menschen seien immer noch in russischer Gefangenschaft. Die Dunkelziffer könnte laut den Hotline-Betreibern aber drei- bis viermal so hoch liegen.

"Zehn Leute umringten mich"

Auch der Landschaftsarchitekt Maxim Iwanow und seine Freundin Tatiana Bech wurden im April 2022 nach eigenen Aussagen verschleppt. Damals waren sie mit einer ukrainischen Fahne auf dem Auto unterwegs – die wurde ihnen zum Verhängnis. "Zehn Leute umringten mich, warfen die Fahne zu Boden und zertrampelten sie. Sie sagten: 'Jetzt werden wir euch zur Umerziehung bringen'", erzählt Iwanow "Meduza". Seine Berichte ließen sich nicht unabhängig prüfen.

Doch die Folgen waren offenbar verheerend: Der Landschaftsarchitekt berichtet von Schlägen durch Gummiknüppel in Gefangenschaft. Andere pro-ukrainische Menschen seien gemeinsam mit ihnen festgehalten worden. Er und seine Freundin seien gezwungen worden, "Ruhm für Russland" zu rufen. Zwei Tage später seien sie freigelassen worden – doch im August kam es zur zweiten Festnahme.

Rippen gebrochen

Iwanow erzählt, er und Tatiana hätten damals für den Unabhängigkeitstag der Ukraine Flugblätter verteilt. Daraufhin hätten Russen das Paar durchsucht und in Iwanows Telefon Chats entdeckt, in denen er Bewegungen des russischen Militärs weitergegeben hatte. Bei einem Verhör auf der Polizeiwache wurde der Mann laut eigener Aussage geschlagen, ihm seien seine Rippen gebrochen worden. Am nächsten Tag wurde Iwanow in den Stadtteil Novy gebracht und erneut verprügelt.

"Mir wurde klar, dass ich in diesem Moment getötet werden könnte", sagt er dem russischen Nachrichtenportal. "Ich bat um ein Telefon, um meine Eltern anzurufen und mich zu verabschieden. Sie antworteten mir: 'Ob du überleben oder sterben wirst, wird niemand erfahren.' Dann brachten sie mich in eine Garage und gingen weg. Als ich die Augen öffnete, sprudelte das Blut, und alles um mich herum war blutverschmiert", so Iwanow.

"Der ist fertig, den nehmen wir mit"

Fünf Tage später sei er zusammen mit anderen Häftlingen zum Waschen nach draußen gebracht worden. "Ich zog mich aus, und die Leute, die zusahen, scherzten untereinander und sagten: 'Der ist fertig, den nehmen wir mit.' Wahrscheinlich sahen sie, dass mein Rücken und meine Rippen ganz schwarz und lila waren und beschlossen, dass es genug war", erinnert sich Iwanow.

Später wurden er und seine Freundin Tatiana zur städtischen Polizeistation gebracht. Iwanow berichtet, er sei mit Elektroschocks gefoltert worden. Tatiana wurde freigelassen, ihr Freund sei einen Monat lang weiter misshandelt worden. Ende Oktober 2022 wurde er Iwanows Aussagen zufolge in ukrainisch kontrolliertes Gebiet gebracht. Er sei 40 Kilometer von Wassiljewka bis zum ukrainischen Kontrollpunkt in Kamenskoje gelaufen. "Es war der reinste Horror", berichtet Iwanow "Meduza".

Er fand Schutz bei einer verlassenden Tankstelle. "Es gab immer wieder Granatenbeschuss. In der Nähe gab es eine Explosion (...). Ich dachte, diese Tankstelle würde mein Grab sein", sagt der Mann.

 
 
 
 
 
 
 

"Er hat nie verstanden, warum sie ihn mitgenommen haben"

"Meduza" berichtet außerdem vom 23-jährigen Leonid Popow, bei dem Schizophrenie diagnostiziert wurde. Er wurde erstmals im Mai 2022 festgenommen. Seine Mutter erzählte den Journalisten: "Betrunkene Kadyrowzy-Offiziere fesselten ihn an die Wand, lachten und warfen mit Messern, folterten ihn mit Elektroschocks. Er hat nie verstanden, warum sie ihn mitgenommen haben." Kadyrowzy-Offiziere sind Kämpfer aus der Einheit des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, die für ihre extreme Brutalität bekannt sind (hier lesen Sie mehr dazu).

Etwa zur gleichen Zeit nahmen die Russen den Aussagen der Mutter zufolge Leonids jüngeren Bruder Jaroslaw fest. Er erzählte seiner Mutter, dass er und 30 andere Gefangene in einer sehr engen Zelle festgehalten wurden, in die sie nach einer Weile "eine betrunkene oder geistig kranke Person" steckten, die ständig schrie.

Die Soldaten hätten zu den Gefangenen gesagt: "Wenn ihr ihm nicht das Maul stopft, werden wir euch alle wie Kätzchen erschießen." Daraufhin hätten einige Gefangene den Mann geschlagen – bis er starb, heißt es in dem Bericht. Was aus Jaroslaw geworden ist, ist nicht bekannt. Die Berichte ließen sich nicht unabhängig prüfen.

Leonid magerte stark ab

Sein Bruder Leonid wurde im April 2023 offenbar erneut entführt. Drei Monate später wurde er in einem Zustand extremer Erschöpfung ins Krankenhaus gebracht: Er wog 40 Kilogramm bei einer Größe von 195 Zentimetern. Leonids Vater durfte seinen Sohn mitnehmen, noch am selben Tag wurde er erneut vom Militär abgeführt. Es ist ebenfalls nicht bekannt, wo Leonid Popow jetzt ist.

Es sind nicht die ersten Berichte, die von entführten Menschen aus Melitopol an die Öffentlichkeit dringen. Bürgermeister Fedorow hat bereits mehrmals über seine Zeit in russischer Gefangenschaft gesprochen (hier lesen Sie mehr dazu). Er regiert die Stadt inzwischen von Saporischschja aus. Doch er zeigt sich siegessicher im Kampf gegen Wladimir Putins Truppen: "Russland kontrolliert unser Gebiet nur physisch", sagte er der österreichischen Tageszeitung "Standard" im Juni. "Sie beherrschen aber nicht uns – unsere Haltung, die Stimmung unserer Bürgerinnen und Bürger."

Verwendete Quellen
  • meduza.io: ""Я понимал, что меня могут прямо сейчас убить. Просил дать телефон, чтобы попрощаться с родителями" Российские военные превратили Мелитополь в "самую большую тюрьму в Европе", пишут "Важные истории"" (russisch)
  • derstandard.de: "Bürgermeister von Melitopol: 'Russland wird uns nie die Seele nehmen'"
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