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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Weihnachten in der Ukraine Ein Winter, der alles ändern könnte
Das Weihnachtsfest in der Ukraine verläuft auch im dritten Kriegsjahr wenig besinnlich. Die Wintermonate könnten dieses Mal besonders hart werden, warnen Hilfsorganisationen.
Am Weihnachtstag gehen in vielen ukrainischen Ortschaften Menschengruppen von Tür zu Tür. Sie tragen traditionelle Kleidung mit Stickmustern im Wyschywanka-Stil und singen Lieder. Die Muster, die oft Blumen nachempfunden sind, sollen dem Glauben zufolge ihren Träger vor bösen Geistern schützen. Dazu führt der Anführer jeder Gruppe einen auffälligen Stab mit sich, an dessen Spitze ein farbenfroher Stern steht. Die Sternsinger sind unterwegs.
Dass sich diese Tradition seit Jahrhunderten hält, ist eigentlich ein Wunder. Besonders in der Sowjetzeit gab es viele Versuche, das ukrainische Brauchtum zu ersticken, um die landeseigene Kultur zu verbannen. Doch die ukrainischen Sternsinger traten dann schlicht nicht mehr öffentlich auf – im Verborgenen aber ging die Tradition weiter. Es war ein Akt des zivilen Widerstands.
Der im Februar 2022 von Russland begonnene Angriffskrieg hat die Ukraine nachhaltig verändert – auch abseits der offensichtlichen Entwicklungen auf dem Gefechtsfeld. Seit dem vergangenen Jahr feiern die Ukrainer nach Parlamentsbeschluss offiziell am 25. Dezember Weihnachten.
Zuvor war das Fest nach orthodoxem Brauchtum stets am 7. Januar begangen worden – wie in Russland. Damit sollte Schluss sein. Auch darüber hinaus ist das ukrainische Weihnachtsfest mitten im Krieg alles andere als normal.
Orbáns angeblicher Vorstoß für einen "Weihnachtsfrieden"
Noch kurz vor den Feiertagen hatte es Aufregung um einen von Viktor Orbán angeblich vorgeschlagenen "Weihnachtsfrieden" gegeben. Mitte Dezember warf die ungarische Regierung dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor, einen Anruf Orbáns nicht angenommen zu haben. Dieser wollte mit Selenskyj demnach einen Waffenstillstand über die Feiertage zwischen Russland und der Ukraine beraten.
In Kiew hatte man dazu eine klare Meinung: Präsidentenberater Mychailo Podoljak erklärte vergangene Woche, dass es keinen ungarischen Vorschlag über einen "Weihnachtsfrieden" gegeben habe. Die Aussagen Orbáns und seiner Regierungsvertreter seien ein reiner "PR-Stunt".
Und überhaupt: "Was bedeutet 'Weihnachtsfrieden', wenn Russland diesen offensichtlich nicht einhalten will und nicht einmal daran interessiert ist, seinen Vormarsch ohne Rücksicht auf Verluste zu stoppen, und sei es nur um 100 Meter?", fragte Podoljak. "In bestimmten Richtungen werden zunehmend Angriffe auf die Energieinfrastruktur durchgeführt, einschließlich Raketen- und Drohnenangriffe“, so der Präsidentenberater.
Massive Angriffe auf Energieinfrastruktur
Auch an den Tagen vor Weihnachten setzte Russland seine Angriffe mit Drohnen und Raketen fort. Viele davon richteten sich gegen die kritische Infrastruktur. Am vergangenen Samstagmorgen drehte die Ukraine dann offenbar den Spieß um: Sechs Drohnen schlugen in Wohnhäuser in Kasan ein, eine weitere traf ein Industrieobjekt.
Offiziellen Angaben zufolge gab es bei dem Angriff keine Verletzten. Kasan befindet sich mehr als 1.000 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Obwohl sich die Ukraine bislang offiziell nicht zu der Attacke bekannt hat, gilt sie als deren Reaktion auf einen russischen Raketenangriff auf Kiew.
Hilfsorganisationen sehen die Ukraine derweil angesichts der anhaltenden Angriffe auf die Energieinfrastruktur vor schweren Wintermonaten. Christof Johnen, Leiter Internationale Zusammenarbeit beim Deutschen Roten Kreuz (DRK), sagte t-online: "Es ist davon auszugehen, dass dieser Winter für die Zivilbevölkerung der bisher härteste wird."
Viel der ukrainischen Infrastruktur wurde bereits zerstört, nur wenig kann repariert oder neu aufgebaut werden. Den ganzen Winter über soll es Pläne für Stromabschaltungen geben. Mehr zur Situation der Energieinfrastruktur lesen Sie hier.
DRK: "Schwache Gruppen sind im Winter noch vulnerabler"
Johnen erklärte, dass das DRK die ukrainische Schwestergesellschaft URK nun mit drei gezielten Maßnahmen unterstütze: "Erstens bei der Bereitstellung von Bargeld und Gutscheinen für Empfänger häuslicher Pflege, damit Heizkosten und der Grundbedarf in den Wintermonaten gedeckt werden kann."
Ein besonderer Schwerpunkt liege dabei auf der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer. Dort unterstütze das Rote Kreuz als zweite Maßnahme über das URK besonders vulnerable Menschen mit Bargeldzahlungen. "Im Winter haben viele Familien Mehrausgaben unter anderem für das Heizen und Medikamente, sodass sozioökonomisch schwache Gruppen im Winter noch vulnerabler sind", so Johnen.
Die dritte Maßnahme des DRK bestehe darin, zusätzliche mobile Heizkessel zur Winterfestmachung kritischer Infrastrukturen wie Krankenhäusern zu finanzieren, so Johnen.
All dies werde durch Bundesmittel und Spenden finanziert. "Dabei ist zu bemerken, dass das Spendenaufkommen für die Ukraine mit rund zehn Millionen Euro zwar weiterhin relativ hoch ist, die Spenden aber im Vergleich zu den Vorjahren rückläufig sind", sagte Johnen.
Starker Spendenrückgang
Auch DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt hatte kürzlich im Interview mit der "Rheinischen Post" einen deutlichen Spendenrückgang beklagt. Bisher seien 40 Millionen Euro eingegangen, im Jahr 2023 seien es 99 Millionen Euro gewesen, sagte Hasselfeldt der Zeitung. Ein Viertel der Spenden an das DRK floss also in die Ukraine. "Wir verzeichnen einen deutlichen Rückgang, der mich angesichts der humanitären Lage weltweit bedrückt." Wie Sie für die Ukraine spenden können, lesen Sie hier.
Einen Lichtblick gibt es vor dem Fest dann doch: Als humanitäre Geste zu Weihnachten haben die Ukraine und Russland Briefe und Pakete für Kriegsgefangene ausgetauscht. Der Ombudsmann des ukrainischen Parlaments, Dmytro Lubinez, und die russische Menschenrechtsbeauftragte, Tatjana Moskalkowa, trafen dazu in Belarus zusammen. Den Ort nannten sie nicht. Es war das erste öffentlich bekannte Treffen ranghoher staatlicher Vertreter der Kriegsparteien seit Langem.
Es seien jeweils 1.500 Weihnachtspäckchen für Kriegsgefangene sowie Briefe von Angehörigen ausgetauscht worden, schrieb Moskalkowa auf der Onlineplattform Telegram. Lubinez teilte mit, es seien auch Listen mit Kriegsgefangenen sowie in Russland festgehaltenen ukrainischen Zivilisten übergeben worden. Mit der Aktion verbunden war demnach auch die Rückgabe von mehr als 500 Leichen ukrainischer Soldaten aus Russland. Dies war schon vorher mitgeteilt worden. Beide Seiten erwähnten die Vermittlung durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz.
- Schriftliche Stellungnahme von Christof Johnen, DRK
- newsukraine.rbc.ua: "Ukraine's energy system situation: Power outage schedules to be applied whole winter" (englisch)
- kyivindependent.com: "Zelensky rejected opportunity to discuss Christmas truce with Orban, Hungarian minister claims" (englisch)
- zdf.de: "Warum die Ukraine Weihnachten verlegt hat"
- ukraineverstehen.de: "Weihnachten als Politikum?"
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa