Ramstein-Treffen zur Ukraine Ausgerechnet Kiew zeigt Verständnis für die "Angst der Deutschen"
Am Dienstag könnte die Ukraine-Kontaktgruppe eine wichtige Entscheidung treffen. Doch die Bundesregierung zögert – und nicht nur sie. Ausgerechnet Kiew hat Verständnis für die "Angst der Deutschen".
Zum 15. Mal trifft sich am Dienstag eine mächtige Runde von Militärs und Verteidigungsministern auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz, um über die weitere Unterstützung der Ukraine zu beraten. Zu der Konferenz auf der größten US-Lustwaffenbasis außerhalb der Vereinigten Staaten hat US-Verteidigungsminister Lloyd Austin die Mitglieder der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe eingeladen.
Zu der Gruppe gehören neben den Nato-Staaten und der Ukraine Vertreter von mehr als 50 Ländern, darunter Australien, Österreich, Kenia, Japan und Tunesien. Die Ramstein-Treffen dienen den Verbündeten der Ukraine als Plattform, um Waffenlieferungen an Kiew zu koordinieren. Es wird erwartet, dass auch am Dienstag weitere Militärhilfen für die Ukraine verkündet werden.
Ganz oben auf Kiews Wunschliste: Taurus und ATACMS
Neben den bekannten Wünschen der ukrainischen Regierung – Nachschub von Artilleriemunition, weitere Flugabwehr zum Schutz ukrainischer Städte sowie Drohnen – dreht sich die öffentliche Debatte im Vorfeld des Treffens vor allem um zwei Waffensysteme: die deutschen Taurus-Marschflugkörper und die ballistischen Kurzstreckenraketen ATACMS der USA.
Die Ukraine bittet seit Monaten um die Waffensysteme, die eine deutlich höhere Reichweite haben, als die bisher vom Westen gelieferte Waffen. So kann das deutsche Taurus-System Ziele in 500 Kilometern Entfernung bekämpfen, die ATACMS-Raketen sollen bis zu 300 Kilometer weit fliegen können. Experten zufolge sind die Waffen kein "Gamechanger", könnten Kiew aber bei der Befreiung ihrer Territorien von Russland helfen.
Kiew argumentiert, man brauche die Präzisionswaffen, um russische Nachschubwege in den besetzten ukrainischen Gebieten zu stören. Doch im deutschen Kanzleramt gibt es Berichten zufolge Bedenken, ob die ukrainische Armee die weitreichenden Flugkörper auch gegen Ziele in Russland einsetzen könnte. Die Ukraine hat dies mehrfach verneint und betont, sich an Absprachen zu halten.
In Kiew verweist man zudem auf London und Paris, die mit Storm Shadow beziehungsweise Scalp-EG zwei ähnliche Waffensysteme mit hoher Reichweite geliefert haben – und sich zuvor von der Ukraine die Zusicherung geholt haben, damit nicht auf Russland zu schießen.
Dennoch besteht das Kanzleramt offenbar auf eine technische Lösung: eine Reichweiten-Begrenzung, die der Hersteller Taurus Systems GmbH vor einer möglichen Lieferung einbauen solle. Ob (und wann) der Hersteller eine für das Kanzleramt zufriedenstellende Lösung findet, wird sich zeigen. Öffentlich schweigt der Kanzler eisern.
Plant Biden die ATACMS-Wende?
In den USA scheint hingegen Bewegung in die Debatte zu kommen. Hatte die Regierung von Joe Biden über Monate die Forderungen nach ATACMS noch zurückgewiesen, mehren sich seit einigen Wochen die Medienberichte über einen möglichen Durchbruch. Vergangenen Montag berichtete die Nachrichtenagentur Reuters, dass die US-Regierung "kurz davor" stehe, einer Lieferung von ATACMS-Raketen sowie von weiteren Präzisionswaffen zuzustimmen.
Teil des Pakets sollen außerdem 155-Millimeter-Artilleriegranaten sein, die mit Streumunition gefüllt sind. Der ukrainische Bedarf an Artilleriegeschossen im Kaliber 155 Millimeter ist enorm und bringt selbst westliche Munitionsarsenale an ihre Grenzen. Daher entschied sich die Biden-Regierung im Juli dafür, Streumunition im selben Kaliber aus den eigenen Beständen an Kiew abzugeben. Laut der ukrainischen Armee setze sie die umstrittene Munition erfolgreich ein gegen die russischen Invasionstruppen (hier lesen Sie mehr zu der Gefahr von Streumunition).
Ob es auf dem Ramstein-Treffen zu einem Durchbruch kommt, ist jedoch fraglich. Während der neue ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow bei der Ukraine-Kontaktgruppe seinen ersten internationalen Auftritt hinlegt, reist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Dienstag zur UN-Vollversammlung in New York. Von dort geht es am Donnerstag weiter zum nächsten hochrangigen Treffen: ins Weiße Haus zu Joe Biden.
Auch die deutsche Entscheidung für oder gegen eine Taurus-Lieferung wird wohl nicht beim Ramstein-Treffen verkündet. Das sorgsame Abwägen der Entscheidung findet nach t-online-Informationen ausschließlich im Kanzleramt statt, und der Kanzler ist am Dienstag in New York zur UN-Versammlung. Und auch Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) könnte in Ramstein nichts verkünden, da er aufgrund einer Corona-Erkrankung nicht persönlich dort erscheinen kann. Zudem kündigte der Minister bereits im Vorfeld ein neues Waffenpaket für rund 400 Millionen Euro an – doch Taurus-Marschflugkörper sind nicht dabei.
Forderungen nach Taurus-Lieferung werden lauter
Unterdessen werden im deutschen Parlament die Rufe nach einer Taurus-Lieferung immer lauter. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Oberst a.D., Roderich Kiesewetter, rechnet in Kürze mit einer Entscheidung über die Lieferung deutscher Marschflugkörper vom Typ Taurus an die Ukraine – laut dem Verteidigungsexperten womöglich doch schon in Ramstein.
"Am Dienstag ist ein Ramstein-Treffen, und da werden wir bestimmte Neuerungen erleben, die Omid Nouripour schon letzte Woche angekündigt hat", sagte Kiesewetter am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Anne Will". "Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in der kommenden Woche ein Datum bekommen, bis wann Taurus, bis wann F-16, aber eben auch bis wann ATACMS geliefert werden."
Der Grünen-Bundesvorsitzende Omid Nouripour hatte am Donnerstagabend im ZDF gesagt, er gehe davon aus, dass "sehr schnell auch tatsächlich die Verkündung kommen wird, dass die Taurus rübergehen, weil die gebraucht werden". Es gebe noch einige Details zu klären und Gespräche mit Partnern zu führen, das werde aber schnell
geschehen.
Ukraine hat Verständnis für die "Angst der Deutschen"
Die Ukraine pocht derzeit weiter auf eine rasche Lieferung der Taurus-Systeme – und zeigt sich verständnisvoll gegenüber dem deutschen Zögern. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko sagte auf einer Veranstaltung der "Bild" vor wenigen Tagen, gerichtet an Kanzler Scholz: "Wir wissen auch, wie schwer es ist, die immer neue Hilfe in der deutschen Gesellschaft zu erklären." Klitschko erneuerte jedoch zugleich seine Bitte an die Bundesregierung: "Schicken Sie uns die Taurus-Raketen."
Auch der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland und aktuelle Botschafter seines Landes in Brasilien, Andrij Melnyk, hatte Verständnis für das deutsche Vorgehen geäußert: "Wir verstehen diese Angst der Deutschen, dass das Land in den Krieg hineingezogen wird", sagte Melnyk kürzlich dem Deutschlandfunk. Gleichwohl müsse man berücksichtigen, dass die Ukraine die Waffen dringend benötige, um die Angriffe der russischen Besatzungstruppen zu unterbinden.
Zudem seien die Taurus-Lenkwaffen für den Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive entscheidend. Experten zufolge könnte die heiße Phase der Offensive in wenigen Wochen enden. Ob bis dahin die deutschen Marschflugkörper die Front erreicht haben, ist fraglich.
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- reuters.com: Berlin says missile supply to Kyiv won't automatically follow US supplies (englisch)
- reuters.com: White House: Biden to meet with Zelenskiy, more aid coming for Ukraine (englisch)
- reuters.com: Ukraine could get long-range missiles armed with US cluster bombs (englisch)
- bild.de: Die bewegende Klitschko-Rede
- deutschlandfunk.de: Vize-Außenminister Melnyk: Wir verstehen die Angst der Deutschen