Strategischer Einsatz Diese kleine Waffe könnte zum größten Gegner der Ukraine werden
Neben Raketenangriffen muss die Ukraine vermintes Gelände fürchten. Die tödlichen Sprengladungen könnten die Offensive erheblich verlangsamen.
Der ukrainische Fortschritt bei der Gegenoffensive könnte durch kleine, aber äußerst wirksame Waffen behindert werden: Minen. Die russischen Streitkräfte haben sie offenbar in riesiger Menge verlegt – an der Front und in Gebieten, die sie bereits wieder geräumt haben. Dabei werden die Landminen strategisch platziert. Das zeigte sich zuletzt in Mala Tomacha nahe Saporischschja, als die ukrainische Armee ein vermintes Feld angriff. Denn trotz Spezialwaffen, die Minen zum Explodieren bringen, konnten ein deutscher Leopard-Panzer und andere Fahrzeuge nicht durchbrechen – sie wurden von russischen Truppen entdeckt und angegriffen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gab vor wenigen Tagen selbst zu, dass der militärische Fortschritt nicht einfach sei, weil 200.000 Quadratkilometer vermint worden seien.
"Die Schlacht um Mala Tomachka unterstreicht die Bedeutung der Minenräumung in der gegenwärtigen Phase des umfassenderen Krieges Russlands gegen die Ukraine. Der ukrainische Angriff scheiterte, aber ohne die Angriffe aufs Minenfeld wäre er schneller gescheitert", schreibt Davi Axe im US-Magazin Forbes. Mit "MCLC" – die Abkürzung steht für "Mineclearing line charges" ("Minenräumende Sprengladungen") – würden zwar keine Schlachten gewonnen. Dennoch seien sie wichtig. "Ein Beispiel für eines der nicht so sexy aussehenden technischen Geräte, die für den Durchbruch von entscheidender Bedeutung sind", beschrieb Mark Hertling, ein pensionierter General der US-Armee, die Sprengladungen.
21 Meilen Hindernisse
Die "New York Times" sieht "21 Meilen Hindernisse", die der ukrainischen Gegenoffensive entgegenstehen. "Abgesehen von natürlichen Hindernissen ermöglichen kilometerlange russische Verteidigungsanlagen – Schützengräben, Panzersperren und Minen – den ukrainischen Truppen bestenfalls schrittweise Fortschritte", beschrieb die Zeitung die Lage. Und, so werden ukrainische Soldaten zitiert, selbst wenn man ein Feld geräumt hätte, würden russische Soldaten neue Minen schnell nachlegen.
Die Minenräumung hat, das veranschaulichte der Vorfall bei Saporischschja, einen Nachteil: Sie macht die gegnerischen Truppen aufmerksam. Die Explosionen und die Minenfahrzeuge bleiben nicht unentdeckt – und machen nachrückende Truppen anfällig für Angriffe aus der Luft und mit Artillerie. In dieser Woche kursierte ein Video auf Twitter, das einen ukrainischen Soldaten beim Verlassen eines Schützenpanzers zeigen sollte. Nach wenigen Schritten trat er auf eine Mine – offenbar konnte er sich aber schwerst verletzt retten.
Oberst: Verlust von Minenräumgerät "dramatisch"
"Die Bereitstellung von mehr Mitteln zur Minenabwehr würde die Situation verbessern, löst aber nicht alle Herausforderungen. Die Russen wenden beim Verlegen von Minen verschiedene Methoden an, darunter manuelle, maschinelle und ferngesteuerte Ansätze, was die Komplexität erhöht, da verschiedene Minentypen unterschiedliche Räumungen erfordern", schreibt ein angeblich ehemaliger ukrainischer Offizier mit dem Twitternamen Tatarigami_UA in einer Analyse der Situation. Er sieht die Verminung als signifikante Gefahr für die ukrainischen Truppen.
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Der österreichische Oberst Markus Reisner analysierte in den vergangenen Tagen für t-online die Probleme der ukrainischen Armee. Dabei ging es auch um die Beseitigung von Minen. "Besonders dramatisch ist deswegen auch der Verlust des kostbaren Minenräumungsgeräts, das eine noch viel größere Rolle spielt als die Kampfpanzer". Die Ukraine habe die Verluste aber bereits in der Gefechtsvorpostenlinie erlitten. "Das ist das Ungewöhnliche. Ebenso wie sich die Gegenwehr der Russen entgegen allen Annahmen bis jetzt sehr synchronisiert und fähig dargestellt", so Reisner.
Das britische "Royal United Services Institute for Defence and Security Studies" sagt, dass Russland einen Mix aus Anti-Panzer- und Anti-Personen-Minen verwende – letztere sind zwar international geächtet, Russland hat aber das Dokument nicht unterschrieben. Es gebe auch Zeichen dafür, dass Minen dort vermehrt strategisch eingesetzt werden, wo es bereits natürliche Hindernisse gibt. Einige Minen würden auch, so das Institut, über Raketenwerfer verteilt.
Angeblich 40 Prozent des Landes vermint
Wie viele Minen russische Truppen verlegt haben, ist noch nicht abzusehen. "Was wir sehen, ist eine industrielle Größenordnung", sagte Michael Newton, Chef der Minenräumorganisation Halo in der Ukraine, gegenüber der "Moscow Times". Neben der Gefahr für die Soldaten seien auch Zivilisten betroffen. Der ukrainische Premierminister Denys Schmyhal sagte der Zeitung bereits im Januar, Russland habe in der Ukraine das "größte Minenfeld der Welt" angelegt und behauptet, dass über 40 Prozent des Landes "mit Minen verseucht" seien.
Die UN hat die bevorstehende Minenräumung in der Ukraine mit der Räumung von Sprengstoffen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen. "Womit wir in der Ukraine konfrontiert sind, gleicht sehr, womit Europa am Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert war", sagte der Leiter des UN-Programms für Minenräumung, Paul Heslop, am vergangenen Mittwoch in Genf. Heslop verwies darauf, dass Europa 15 Jahre gebraucht habe, um das Problem zu lösen.
Um die Landminen zu räumen, die die ukrainische Wirtschaft am meisten bremsen, veranschlagte Heslop für die kommenden fünf Jahre bis zu 300 Millionen Dollar (275 Millionen Euro) pro Jahr an Kosten. Die UN will Kiew bei der Bewältigung dieser Aufgabe helfen.
- forbes.com: "Blocked By Russian Mines, Ukrainian Troops Are Flinging Explosive Line-Charges" (englisch)
- washingtonpost.com: "Ukraine faces mines and manpower challenges in offensive’s early weeks" (englisch)
- nytimes.com: "21 Miles of Obstacles" (englisch)
- themoscowtimes.comRussia Lays Mines at 'Industrial Level' Ahead of Ukrainian Counteroffensive" (englisch)
- static.rusi.org: Meatgrinder: "Russian Tactics in the Second Year of Its Invasion of Ukraine"
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa