Ukrainische Gegenoffensive Es steht Wort gegen Wort
Eine Woche nach Beginn der ukrainischen Gegenangriffe äußert sich Putin zum Kriegsgeschehen. Seine Darstellungen entsprechen nicht den Analysen von Experten.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat von katastrophalen Verlusten für die Ukraine bei deren Gegenoffensive gesprochen. "Meiner Berechnung nach hat die Ukraine 25 bis 30 Prozent der vom Ausland gelieferten Technik verloren", sagte er am Dienstag bei einem Treffen mit russischen Militärkorrespondenten.
Zudem seien die Verluste der Ukrainer zehnmal höher als auf russischer Seite. Er äußerte sich das erste Mal seit Langem vor Medienvertretern ausführlich zum Ukraine-Krieg und dessen Folgen. Lesen Sie hier mehr dazu.
"Nicht an einem Frontabschnitt hat der Gegner Erfolg gehabt", behauptete Putin. Aus Kiew heißt es hingegen, dass die ukrainische Armee mehrere Siedlungen im Süden des Landes zurückerobert habe. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walery Saluschny, erklärte in den Onlinediensten, dass "sowohl die defensiven als auch die offensiven" Kämpfe im Süden und Osten der Ukraine weitergingen. "Wir haben Gewinne, wir wenden unseren Plan an, und wir rücken vorwärts", fügte Saluschny hinzu.
Stoltenberg: Putin muss an Verhandlungstisch
Indes bescheinigte auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg der Ukraine bei einem Besuch im Weißen Haus in Washington "Fortschritte" bei ihrer Gegenoffensive. "Je mehr Land die Ukrainer befreien können, desto stärker ist ihre Position am Verhandlungstisch", sagte er in einem Gespräch mit US-Präsident Joe Biden. Dem US-Sender CNN sagte Stoltenberg, dass Putin angesichts der Gewinne der Ukrainer "verstehen wird, dass er sich an den Verhandlungstisch setzten muss".
Die Einschätzung aus Moskau steht auch im Gegensatz zu den Beobachtungen von Experten des "Institute for the Study of War" (ISW). Zwar lassen sich die ukrainischen Aussagen über Frontfortschritte auch dort nicht umfassend prüfen. Doch die Geolokalisierung von entsprechendem Videomaterial scheint die Vorwärtsbewegung ukrainischer Truppen an einigen Stellen zu bestätigen.
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Vollmundige Behauptungen – ohne Zahlen
Zudem vermuten die ISW-Experten, dass Putin auch die ukrainischen Verluste an westlicher Militärausrüstung systematisch falsch darstelle. Sein Ziel könne es dabei sein, die Gegenoffensive als gescheitert darzustellen und den Westen so davon abzubringen, die Ukraine weiterhin finanziell und militärisch zu unterstützen.
Laut dem Kremlchef handelt es sich bei den ukrainischen Verlusten zur Hälfte um Gefallene und Schwerverletzte, die nicht wieder einsatzfähig gemacht werden könnten. Zahlen wollte er nicht nennen. Stattdessen verwies Putin auf das Verteidigungsministerium in Moskau.
Konkreter wurde er bei den Kampf- und Schützenpanzern: Während ihrer Offensive habe die Ukraine über 160 Panzer und mehr als 360 gepanzerte Fahrzeuge verloren, sagte er. Die eigenen Verluste bezifferte er auf 54 Panzer, wobei ein Teil davon wieder repariert werden könne.
Experten gehen bereits seit Längerem davon aus, dass Putin insgeheim hoffe, westliche Regierungen würden des Kriegs in der Ukraine bald überdrüssig und könnten sich abwenden. Der ehemalige russische Offizier und überzeugte Ultranationalist Igor Girkin mutmaßt hingegen, dass Putins Äußerungen darauf hindeuten, dass der Präsident von seinem Verteidigungsministerium weiterhin falsch über die wahre Lage auf dem Schlachtfeld informiert werde.
Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Das russische Verteidigungsministerium hatte zuletzt ebenfalls von hohen Verlusten der Ukrainer gesprochen und die Abwehr aller Angriffe vermeldet. Allerdings haben sich die Angaben des Ministeriums in der Vergangenheit mehrfach als übertrieben und teilweise falsch herausgestellt.
Putin hält neue Mobilmachung nicht für nötig
Zudem bezeichnete der Kremlchef eine Verhängung des Kriegsrechts in Russland als unnötig. Auch eine neue Welle der Mobilmachung sei nicht notwendig. Er begründete dies mit der angeblich hohen Zahl an freiwilligen Armee-Bewerbern. Seit Januar hätten mehr als 150.000 Russen einen Vertrag als Zeitsoldat beim Militär unterzeichnet, sagte der Staatschef.
Im April hatten anonyme Quellen aus russischen Regierungskreisen dem Wirtschaftsmagazin "Bloomberg" bestätigt, dass die Militärführung dieses Jahr rund 400.000 neue Soldaten rekrutieren wolle. Laut Aussage eines desertierten Luftwaffenoffiziers versucht der Kreml, neue Rekruten mit vergleichsweise hohen Soldversprechen anzulocken. Demnach bekommen erfahrene Soldaten weiterhin ihre Vorkriegsgehälter, während unerfahrenen Neuzugängen teils mehr als das Doppelte versprochen wird.
Putin: Ukraine ist verantwortlich für Staudammzerstörung
Einmal mehr warf Putin der ukrainischen Seite die Schuld an der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden des Landes vor. Das ukrainische Militär habe mit Himars-Raketen gezielt auf den Damm geschossen. Russland habe kein Interesse an der Zerstörung gehabt, schließlich sei russisch kontrolliertes Gebiet überschwemmt worden.
Er bedauere, dass der Dammbruch eine ukrainische Offensive in der Gegend verhindert habe. Solch eine Offensive wäre für Russland gut gewesen, "weil es für sie ganz schlecht gewesen wäre, dort anzugreifen", sagte Putin. Die Ukraine und der Westen machen Russland für die Zerstörung des Damms und die Flutung großer Teile des südukrainischen Gebiets Cherson verantwortlich.
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP
- understandingwar.org: "Russian Offensive Campaign Assessment, June 13, 2023" (englisch)
- atlanticcouncil.org: "Russia policy after the war: A new strategy of containment" (englisch)
- bloomberg.com: "Russia Seeks 400,000 More Recruits as Latest Ukraine Push Stalls" (englisch)
- bbc.com: "Dmitry Mishov, Russian airman who defected, gives BBC interview" (englisch)