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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ex-Botschafter in der Ukraine "Der Westen versteht nicht, wie Russen verhandeln"
Der frühere Karrierediplomat Hans-Jürgen Heimsoeth war von 2008 bis 2012 Botschafter in der Ukraine. Ein Gespräch über Putins Radikalisierung, Friedensmanifeste, undiplomatische Botschafter und deutsche Fehler.
t-online: Herr Heimsoeth, wie sehr wird dieser Krieg langfristig die Welt verändern?
Hans-Jürgen Heimsoeth: Lange habe ich die Wiedervereinigung für das größte historische Ereignis seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehalten. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Für Deutschland wird die Deutsche Einheit das immer so sein, aber für Europa und wohl auch die Welt werden es wohl dieser Krieg Russlands gegen die souveräne Ukraine und die Folgen daraus sein. Man blicke nur auf die aufmerksame Begleitung des Konflikts durch andere Autokratien.
Sie kennen die Region gut, waren sowohl in Moskau an der Botschaft tätig als auch später als Botschafter in der Ukraine. Hand aufs Herz: Haben Sie es für möglich gehalten, dass der Kalte Krieg mit so einer Wucht zurückkehrt?
Nein, an einen derartig massiven russischen Angriff auf die Ukraine habe ich zu meiner Zeit in Kiew nicht geglaubt. Wir haben schon bald nach dem russisch-georgischen Krieg 2008 gesehen, dass die Krim und der Donbass Ansatzpunkte für russische Destabilisierung sein könnten. Die Bundesrepublik zog daraus Konsequenzen, eröffnete 2009 ein Generalkonsulat in Donezk und unterstützte mehrere Entwicklungsprojekte auf der Krim und im Osten, um das Lebensniveau in diesen Gebieten zu heben. Spätestens ab 2014 hätte man aber mit einem Konflikt rechnen sollen.
Eine internationale Karriere
Hans-Jürgen Heimsoeth (69) wurde als Sohn des Diplomaten Harald Heimsoeth in Uttarakhand (Indien) geboren. Er wuchs in New York City, Indonesien und Belgien auf. 1981 trat er in den Auswärtigen Dienst ein, arbeitete ab 1983 im Referat für die Sowjetunion im Auswärtigen Amt und von 1984 bis 1987 in der Politischen Abteilung der Deutschen Botschaft in Moskau. Von 2008 bis 2012 war er Botschafter der Bundesrepublik in der Ukraine, anschließend bei der Ständigen Vertretung bei der OECD und schließlich Botschafter in Schweden. Seit 2019 ist er Sonderbeauftragter für Östliche Partnerschaft.
Hätte der Krieg verhindert werden können?
Ja. Und zwar 2014, als Putin die Krim völkerrechtswidrig annektierte. Die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine war 1994 von der Russischen Föderation, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten im "Budapester Memorandum" garantiert worden …
… im Gegenzug dafür, dass die Ukraine ihre Atomwaffen abgab.
Genau. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien hätten damals sofort scharf reagieren müssen. Aber da geschah wenig.
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Ein schwerer Fehler?
Absolut. Putin wusste damals nicht, wie der Westen reagieren würde. Er schickte "kleine grüne Männchen", von denen er sich schnell hätte distanzieren können. Auch die Machtübernahme im Donbass geschah schleichend. Hätte der Westen damals deutlich reagiert, hätten wir heute wahrscheinlich keinen Krieg. Stattdessen bestätigte sich für Putin der Eindruck, den er schon im Konflikt über den syrischen Chemiewaffeneinsatz gewonnen hatte: Im Zweifel greifen die USA lieber nicht ein.
Hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Situation falsch eingeschätzt?
Man täte Merkel unrecht, wenn man ihr Untätigkeit vorwerfen würde. Die meisten europäischen Staaten glaubten damals nicht an eine Ausweitung des Konflikts und mehrere waren nicht scharf auf Sanktionen. Sie hat diese damals im EU-Rahmen durchgesetzt.
Aber an Nord Stream 2 hat sie bis zum Schluss festgehalten.
Ja, leider.
2001 hielt Putin eine Rede im Bundestag auf Deutsch, in der er die Werte der Demokratie beschwor. Haben wir uns von ihm bluffen lassen, oder hat er sich verändert?
Er hat sich wohl in den Jahren 2003/2004, spätestens nach der Orangenen Revolution in der Ukraine, radikalisiert und ist dann wieder in eine Geheimdienstler-Paranoia verfallen. Dass er so weit gehen würde, die Ukraine anzugreifen, habe ich trotzdem erst für möglich gehalten, als er im Juli 2021 seinen bekannten Namensartikel veröffentlichte.
Warum ab diesem Moment?
Weil er ganz deutlich sagt, dass er die Ukraine als Teil eines großrussischen Reiches betrachtet und eine voll souveräne Ukraine nicht akzeptiert.
Die Ukraine wirft Deutschland immer wieder vor, sie zu wenig zu unterstützen. Fürchten Sie einen irreparablen Schaden der deutsch-ukrainischen Beziehungen?
Die Stimmungen in den Bevölkerungen sind sehr schnelllebig. Deutschland hat seit Kriegsbeginn einen sehr weiten Weg zurückgelegt. Es tut bereits enorm viel, zum Beispiel bei der Unterstützung der ukrainischen Luftabwehr. Das wird meiner Beobachtung nach auch immer mehr anerkannt. Und was man nicht vergessen darf: Schon vor dem Krieg war Deutschland nach den USA einer der wichtigsten Partner der Ukraine. Neben vielen anderen Projekten hat es die Dezentralisierung des Landes und die Stärkung der kommunalen Verwaltungen stark unterstützt. Das hat auch zur Resilienz der Ukraine im jetzigen Krieg beigetragen.
Kommen die nach langer Diskussion beschlossenen Lieferungen von Leopard-2-Panzern nicht trotzdem zu spät?
Ich hätte sie mir früher gewünscht. Wenn wir wollen, dass die Ukraine nicht verliert, müssen wir helfen, die unsäglichen Terrorangriffe aus der Luft vollständig zu verhindern, die unschuldigen Frauen und Kinder zu schützen und auch den Verlust an Menschenleben bei den Soldaten so gering wie möglich zu halten. Nur wenn die Ukraine stark auf dem Schlachtfeld ist, wird Putin seine Haltung ändern.
Macht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj umgekehrt einen Fehler, wenn er immer wieder den Eindruck erweckt, Deutschland tue nicht genug?
Man muss die Lage der Ukraine sehen. Entscheidend ist doch, dass analysiert wird, was notwendig ist, damit die Ukraine diesen asymmetrischen Krieg nicht verliert. Wie kann man der Ukraine helfen, Russland die Möglichkeit zu nehmen, die ukrainische Infrastruktur und die Menschen in den Städten wahllos mit Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern zu treffen.
Wie lange halten die Ukrainer noch durch?
Die Resilienz der Russen im Zweiten Weltkrieg aber auch in anderen Situationen ist legendär. Die Ukrainer verfügen über die gleiche Resilienz und einen starken Willen. Derzeit wird das Land durch die Luftangriffe zermürbt. Außerdem kann die Ukraine im Gegensatz zu Putin nicht mal eben 300.000 Soldaten zusätzlich mobilisieren. Deswegen ist ein sich lang hinziehender Krieg gefährlich. Umso wichtiger ist die Unterstützung des Westens.
Was halten Sie von Manifesten, die zu Friedensverhandlungen aufrufen?
Das "Friedensmanifest" von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer sendet ein völlig falsches Signal. Es ist wohlfeil. Die Unterzeichnerin Margot Käßmann forderte im Interview mehr Fantasie auch im Hinblick auf die russische Zivilgesellschaft oder auch die orthodoxe Kirche. Ja, warum nutzt Frau Wagenknecht dann nicht ihre sicherlich mannigfachen Kontakte in der russischen Zivilgesellschaft, um die Leute dazu zu bringen, sich gegen Putin zu wenden? Gleiches gilt für die kirchlichen Kontakte von Margot Käßmann, der früheren EKD-Ratsvorsitzenden. Warum überzeugt sie nicht den russischen Patriarchen Kyrill, sich vom Krieg zu distanzieren? Das wäre nützlicher als dieses Papier. Als junger Diplomat in der Sowjetunion habe ich zwei Dinge gelernt: Der Westen tut sich schwer zu verstehen, wie Russen verhandeln und wie sie zu Verhandlungen bewegt werden können. Nämlich nicht über eine rational-dialogische Art.
Sondern?
Entscheidungen treffen russische Anführer aus machtpolitischen Erwägungen. Und sie treffen sie nicht aufgrund von Gesprächen, sondern eher "im stillen Kämmerlein" nach Analyse der "facts on the ground", der Fakten. Wir haben unseren Einfluss immer überschätzt. Deswegen bin ich überzeugt, dass der einzige Weg zu Verhandlungen ist, dass die russische Seite versteht, dass sie diesen Krieg langfristig nicht gewinnen kann. Dafür müssen wir die Ukraine so stark wie möglich machen.
Wie und wann kann dieser Krieg enden?
Das wird sehr schwer, weil im Zentrum des Konflikts eine historisch falsche, aus der vergangenen imperialen Epoche stammende russische Mythologie steht, dass die gesamte Ukraine eigentlich zu Russland gehört. Putin plant nun offenbar einen Zwischenschritt: einen Friedensschluss auf Basis der offiziell annektierten, aber der noch nicht ganz eroberten Gebiete. In Russland gibt es bereits Landkarten, die diese Gebiete als russisch ausweisen. Aber damit wird er sich nicht zufriedengeben. Ich fürchte deshalb, dass der Konflikt noch lange dauern könnte. Und dass die verheerenden Folgen nicht nur die sind, die wir gerade in der Ukraine sehen. Sondern dass er auch die russische Gesellschaft über Generationen hinweg spalten wird.
Trotzdem ein Blick auf die Zeit nach dem Krieg: Worauf kommt es dann an?
Es kommt darauf an, den Ukrainern die berechtigte Hoffnung zu bewahren, dass sie als friedlicher Staat im Kreis der EU-Staaten über ihr Schicksal selbst entscheiden können.
Sollte die Ukraine dafür schnell in die EU aufgenommen werden?
Man sollte keine falschen Hoffnungen erwecken. Dafür muss die Ukraine wie andere Beitrittskandidaten alle Bedingungen erfüllen. Aber sie hat seit dem Assoziierungsabkommen 2014 schon große Fortschritte auf dem Weg der Integration gemacht. Bei der Bekämpfung der Korruption etwa: Vor zehn Jahren stand sie laut Korruptionsindex von Transparency International gleichauf mit Russland auf Platz 137 – heute ist sie bei 116 und nähert sich anderen Beitrittskandidaten wie Serbien an. Russland hat sich nicht bewegt.
Aber gerade gab es erst zwei spektakuläre Korruptionsfälle in der ukrainischen Regierung.
Ja, Korruption bleibt ein wichtiges Thema auf dem weiteren Weg in die EU. Aber da liegt der vielleicht größte Trumpf der Ukraine, auch im Vergleich mit Westbalkan- und einigen EU-Ländern: Es hat eine überaus wache Zivilgesellschaft, zahlreiche Aktivisten und Whistleblower. Zudem sind inzwischen gute Institutionen, Staatsanwaltschaft, Gerichte aufgebaut worden, um die Korruption zu bekämpfen. Die Transparenz ist in zahlreichen Bereichen viel besser. Und wie man jetzt ja auch sieht, reagiert der Präsident.
Der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrej Melnyk, hat sich immer wieder mit undiplomatischem Verhalten hervorgetan. Bundeskanzler Scholz nannte er eine "beleidigte Leberwurst", andere betitelte er gar als "Arschlöcher". Verändert sich der Stil der Diplomatie gerade?
Die neue Generation von Diplomaten muss auf eine Welt mit sozialen Medien vorbereitet werden. Aber eine Sache wird sich nie ändern: Die Währung von Diplomatie ist Vertrauen. Wenn man als Diplomat das Vertrauen bei seiner Gastregierung verliert, wird man zwar weiter wahr-, aber nicht mehr ernst genommen.
Melnyk verteidigte sich stets damit, dass ihm sonst niemand zugehört hätte. Hat er damit nicht recht?
In der Öffentlichkeit war er mit seinem Auftreten wahrnehmbar, viele sagen wichtig. Aber sein direkter Einfluss war gering, da er seine Zugänge verlor. Diese aufzubauen und zu wahren, ist eine der wichtigsten Aufgaben eines Diplomaten.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock fiel unlängst damit auf, dass sie öffentlich erklärte, der Westen befinde sich "im Krieg" mit Russland. Wie schädlich ist so ein undiplomatisches Verhalten?
Lassen wir die Kirche im Dorf. Fakt ist, Putin führt einen wirklichen Krieg gegen die Ukraine, auch wenn er diesen nie erklärt hat, und einen hybriden Krieg gegen Deutschland und den Westen. Übrigens hat auch Angela Merkel 2020 nach dem russischen Hackerangriff auf den Bundestag von einer "hybriden Kriegsführung" Russlands gegen uns gesprochen. Das war kein Ausrutscher. Beschäftigen wir uns doch mit den wirklichen Gefahren.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
- Interview mit Hans-Jürgen Heimsoeth