Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das Zeug wird völlig überschätzt
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
ich gestehe, ich habe eine Schwäche. Mit Bonbons, Kaugummi und Lakritz können Sie mich jagen, aber wenn in der Adventszeit selbstgebackene Plätzchen aufgetischt werden, kenne ich kein Halten. Kein Wunder, dass sich in meinem familiären Umfeld regelrechte Back-Festivals abspielen: Da wird nach den Geheimrezepten meiner Vorfahren mütterlicher- und schwiegermütterlicherseits geknetet, gerührt und verziert. Was dann aus dem Ofen kommt, ist nicht einfach Gebäck. Es sind lukullische Offenbarungen. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte: So köstliche Weihnachtsleckereien sind andernorts schwer zu finden. Manche Freunde erkundigen sich bereits Mitte September mit unruhigem Blick bei mir, ob sie denn auch in diesem Jahr wieder in den Genuss unseres traditionellen Tütchens kommen. Es würde mich nicht wundern, wenn ihnen dabei die Hände zittern wie einem Junkie.
Es sind wirklich allerfeinste Leckerbissen, und ich verleibe sie mir an den dunklen Dezemberabenden ohne falsche Bescheidenheit tellerweise ein. Als er den norddeutschen Winter schuf, muss der Herrgott einen schlechten Tag gehabt haben, aber mit der Weihnachtsbäckerei lässt sich die Finsternis ertragen. Schon die Namen der Gaumenfreuden lassen die Zunge Walzer tanzen: Himbeerschnittchen, Bärentatzen, Vanillekipferl, Marzipankrönchen, Linzer Kolatschen, Nussmakronen, Spitzbuben, Zimtsterne, Bethmännchen, Königsgabe, Datteltaler, Quittenbrot, Butter-S – und schließlich die Krone der kulinarischen Schöpfung, die … oder Moment, bevor ich Ihnen die verrate, muss ich rasch etwas klarstellen.
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Es gibt nämlich etwas, das den Zuckerbäckerfreuden meiner Verwandtschaft in diesem Jahr Konkurrenz macht. Bestimmt haben Sie schon davon gehört oder sie sogar selbst probiert: An jeder zweiten Supermarktkasse steht jetzt diese Dubai-Schokolade herum. Alle Welt redet davon, unter Teenagern gibt es gegenwärtig kein beliebteres Lebensmittel. Oder sollte ich lieber Suchtmittel sagen?
Jedenfalls hat das Zeug einen enormen Wirbel ausgelöst, obwohl es, Entschuldigung, sauteuer ist: Die Originalhändler verlangen für eine 100-Gramm-Tafel unfassbare 12 Euro und bezeichnen das sogar als "reduzierten Preis". Imitate gibt’s für die Hälfte, aber auch das ist preislich immer noch kilometerweit jenseits von Milka, Ritter-Sport und Co. Dabei kostet die Herstellung der Dubai-Schokolade nur einen Bruchteil des Verkaufspreises, wie mein Kollege Markus Abrahamczyk weiß.
Schon wahr: Die Zutaten dieser Süßigkeit muten für mitteleuropäische Gaumen recht ausgefallen an. Aber wer sich ein wenig für den Orient interessiert, für den ist das nun allerorten gepriesene "Engelshaar" ein alter Hut. Als ich vor bald 30 Jahren in Damaskus, Amman und Kairo studierte, gönnten meine Kommilitonen und ich uns nach dem Vokabelbüffeln gelegentlich ein Schälchen Knaafe, so heißt die zuckersüße Sünde auf Arabisch. Aber spätestens nach dem dritten Löffel waren wir pappsatt. Eine etwas zu mächtige Allerweltsnachspeise halt. Heute reißt sich halb Mitteleuropa um das Zeug.
Warum? Weil die Hersteller aus Dubai und der Türkei, deren Namen ich mir hier verkneife, ein Händchen für Marketing haben. Mit der Hilfe von Influencern auf Instadings und Tikdings, kunstvollen Verpackungen sowie künstlicher Verknappung haben sie unter jungen Leuten einen Hype um die angeblich superleckere und superluxuriöse Edel-Schokolade erzeugt.
Doch der Genuss hat seinen Preis: Gefüllt ist das Zeug mit Pistazien, deren Anbau in hohem Maße schädlich ist. "Hoher Wasserverbrauch, Monokulturen und lange Transportwege belasten die Umwelt massiv", schreibt das Nachhaltigkeitsportal "Utopia". Und weiter: "Pistazienbäume gehören zu den durstigsten Nutzpflanzen der Welt." Für die Produktion eines einzigen Kilos Pistazien werden demnach bis zu 11.000 Liter Wasser benötigt. Erdnüsse brauchen "nur" 2.700 Liter. Zudem schützen Bauern die empfindlichen Pistazienpflanzen mit großen Mengen Pestiziden, die das Grundwasser verseuchen.
Sie sehen also: Der Hype um die Dubai-Schokolade hat eine dunkle Seite. Da lobe ich mir doch die Gutsle meiner Vorfahren! Ein Plätzchen in Ehren kann nämlich niemand verwehren. Oder ein Stückchen Schokoladenbrot aus dem Rezeptbuch meiner Großmutter. Das ist sie nämlich: die nach Ansicht des dienstältesten und daher superkompetenten Tagesanbruch-Autors allerköstlichste Leckerei der Welt. Das genaue Rezept darf ich Ihnen aus Gründen nicht verraten, nur so viel: Sie brauchen eine Menge Zucker, Mandeln, Butter und Bitterschokolade, dazu Eier und etwas Mehl. Zum Schluss kommt noch Schokoguss obendrauf und – tja, Pistazien. Augen zu und rein in den Mund!
Ohrenschmaus
Der Song zum Tagesthema kommt von einer Frau. Und was für einer!
Neue Wahlprogramme
Nach der planmäßig verlorenen Vertrauensfrage von Noch-Kanzler Olaf Scholz beginnt der Wahlkampf. Schließlich ist es bis zum 23. Februar nicht mehr lang hin. Heute beschließen die Führungsgremien von SPD sowie CDU und CSU die Entwürfe für ihre Wahlprogramme. Auch die Grünen stellen ihres vor (unser Reporter Johannes Bebermeier kennt es schon).
Was auffällt: Alle Parteien setzen auf Wirtschaftsthemen und formulieren dabei unterschiedliche Prioritäten, was im Sinne echter Entscheidungsalternativen erfreulich ist. Weniger erfreulich ist hingegen, dass sie sich bezüglich der Finanzierung ihrer Vorhaben arg bedeckt halten. Besonders bei der Union bleiben viele Fragezeichen. Denn während SPD und Grüne sich zumindest zu einer Reform der Schuldenbremse bekennen und über Steuererhöhungen Einnahmen generieren wollen, versprechen CDU und CSU starke Entlastungen, ohne zu sagen, woher das Geld dafür eigentlich kommen soll. Was Friedrich Merz und Markus Söder machen, nennt man Wünsch-dir-was-Politik. Genau daran ist nach dem Verfassungsgerichtsurteil schon die Ampel gescheitert.
Drohnen vor Gericht
Wie weit geht Deutschlands Verantwortung für US-amerikanische Drohneneinsätze im Ausland, die über den Militärstützpunkt Ramstein laufen? Mit dieser komplexen Frage beschäftigt sich nach jahrelangem Rechtsstreit – und teils gegensätzlichen Urteilen des Verwaltungsgerichts Köln, des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts in Münster und des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig – ab heute das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Beschwerdeführer sind zwei von einer Menschenrechtsorganisation unterstützte Jemeniten, deren Verwandte 2012 bei einem US-Drohneneinsatz in ihrem Heimatort getötet wurden. Abzuwägen haben die Richter zum einen, ob die USA bei ihrem "Krieg gegen den Terror" aus deutscher Sicht das Völkerrecht verletzt haben – und zum anderen, inwieweit die Bundesregierung die Pflicht hat, auf eine völkerrechtlich einwandfreie Nutzung der Air Base hinzuwirken. Ein Urteil wird zwar erst in einigen Monaten erwartet, aber allein die Tatsache, dass Karlsruhe den Klägern eine mündliche Verhandlung gewährt, ist für diese ein kleiner Sieg.
Bild des Tages
Das Foto zeigt einen Befreiungskämpfer mit einem ehemaligen Gefangenen in Assads Foltergefängnis Sednaya nahe Damaskus. Noch immer suchen Tausende Syrer verzweifelt nach verschwundenen Angehörigen. Die Schergen des Diktators haben wohl Hunderttausende Menschen zu Tode gequält und ermordet.
Zitat des Tages
"Der Kniefall von Herrn Söder in Warschau war eine der obszönsten, abscheulichsten und schändlichsten Provokationen eines deutschen Politikers seit Bestehen der Bundesrepublik. Willy Brandts in der ganzen Welt anerkannte Geste, sich für die Schuld der Deutschen am Zweiten Weltkrieg und am Holocaust zu entschuldigen, derart lächerlich zu machen, ist ein Skandal."
Tagesanbruch-Leser W.S. aus Mutterstadt bei Mannheim
Der Hintergrund: Bayerns Politikdarsteller Markus Söder hielt es für eine gute Idee, für seinen Instagram-Account ein Bildchen knipsen zu lassen, wie er bei einem Besuch in Polens Hauptstadt Willy Brandts historische Geste imitiert. Anschließend ließ er sich mit einer Bratwurst ablichten und fand die ebenfalls super. Nun reißt die Kritik nicht mehr ab.
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Kommt Deutschland mit der Neuwahl auf einen klaren Kurs? Im Ausland wachsen die Sorgen, berichtet mein Kollege Patrick Diekmann.
Bisher hießen sie Affenpocken, nun Mpox: Das Virus breitet sich in Deutschland aus, in Nordrhein-Westfalen musste bereits eine Schule geschlossen werden. Meine Kollegin Melanie Rannow erklärt Ihnen, wie gefährlich der Erreger ist.
Übernimmt Prinz William schon bald den Thron? Mein Kollege Benedikt Amara berichtet über den anschwellenden Konflikt im britischen Königshaus.
Zum Schluss
Herr Scholz bereitet sich auf Heiligabend vor.
Ich wünsche Ihnen einen besinnlichen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Heike Vowinkel, von mir lesen Sie am Donnerstag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.