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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neuwahlen in Deutschland Sie können ihren Augen nicht trauen
Nach der Vertrauensfrage im Bundestag steuert Deutschland auf Neuwahlen zu. Der Wahlkampf wird die Politik viel Kraft kosten, die bei der Bewältigung der internationalen Krisen fehlt. Trotzdem reagieren Beobachter im Ausland erleichtert.
Nun steht es fest. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat am Montag die Vertrauensfrage im Bundestag verloren. Deutschland erwartet jetzt ein kurzer und intensiver Wahlkampf, bevor das Land am 23. Februar 2025 ein neues Parlament wählt. Und damit voraussichtlich auch einen neuen Kanzler.
Scholz könnte als der Kanzler mit der bisher kürzesten Amtszeit in die Geschichte eingehen. Die hitzige Debatte im Bundestag am Montag war also nicht nur ein harter Schlagabtausch im Wahlkampf. Sondern es ging auch um Scholz' politisches Vermächtnis.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz bezeichneten den Tag der Vertrauensfrage als "Tag der Erleichterung". Scholz und Merz stritten am Montag vor allem über die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands, die sehr wahrscheinlich auch im Fokus des bevorstehenden Wahlkampfes stehen wird. Dem setzte lediglich Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) entgegen: "Während wir uns in Zentraleuropa mit uns selbst beschäftigen, steht die Welt nicht still. Es sollte kein Grund für ein Gefühl der Erleichterung sein, dass Europa und die deutsche Politik sich weitestgehend mit sich selbst beschäftigen."
In der Tat: Die Ukraine gerät im Krieg gegen Russland immer weiter in die Defensive. In den USA wird Donald Trump im Januar als US-Präsident vereidigt. Im Nahen Osten führt Israel weiterhin Krieg gegen die Terrororganisation Hamas. Und Syrien steht nach dem Sturz des früheren Machthabers Baschar al-Assad vor einem ungewissen politischen Neuanfang. All das kostet international einflussreichen Ländern wie Deutschland große außenpolitische Kraft. Eine Kraft, die eine nur geschäftsführende Bundesregierung gerade in Wahlkampfzeiten bis zum Frühlingsbeginn wohl kaum aufbringen wird.
Deutschland hängt in den Seilen und die Kopfschmerzen im westlichen Bündnis sind mit Blick auf die Bundesrepublik dementsprechend groß. Allerdings überwiegt genau deshalb im Ausland auch die Hoffnung, dass nun weniger politisches Chaos von einer künftigen Bundesregierung ausgehen könnte. Eine Hoffnung, die trügerisch sein könnte.
Deutschland ist politisch gelähmt
Manchmal geht hierzulande etwas unter, wie zentral die deutsche Außenpolitik für die Zusammenarbeit im westlichen Bündnis ist. Deutschland ist die weltweit drittgrößte Wirtschaftsmacht, Berlin und Paris sind die zentralen politischen Machtzentren in der Europäischen Union.
Aus dieser wirtschaftlichen Kraft wächst auch eine Verantwortung für die Bewältigung internationaler Krisen. Auch wenn der deutsche Einfluss auf die globale Sicherheits- und Geopolitik durch die begrenzte militärische Stärke der Bundesrepublik eher beschränkt ist.
Aber sollte Trump die amerikanische Unterstützung für die Ukraine nach seiner Amtseinführung am 20. Januar 2025 zurückschrauben, ist vor allem Deutschland gefragt, einen größeren Beitrag Europas zur Verteidigung des angegriffenen Landes zu koordinieren. Ferner geht es für die deutsche Politik schon jetzt darum, Einfluss auf die künftige US-Regierung zu nehmen, um Schlimmeres eventuell noch zu verhindern.
Und selbst wenn die bisherigen diplomatischen Versuche von Deutschland und den USA bisher wenig erfolgreich waren: Im Nahen Osten muss ein weiterer Flächenbrand verhindert werden.
Vor diesem Hintergrund kommen der bevorstehende Wahlkampf und die Neuwahl in Deutschland zu einem besonders schwierigen Zeitpunkt. Es ist der Beginn von Trumps zweiter Amtszeit, mitten in einem sehr schwierigen Kriegswinter für die Ukraine und einer Zeit wachsender Instabilität in der Weltwirtschaft. Und neben Deutschland steckt auch Frankreich weiterhin in einer Regierungskrise – eine große Belastungsprobe für das westliche Bündnis und die Europäische Union.
Eines liegt nun auf der Hand: Die gesamte Regierungspolitik wird in Deutschland in den kommenden Monaten auf Wahlkampfpapier geschrieben sein. Auch außenpolitische Fragen werden verkürzt, plakativ und teilweise verbunden mit Populismus dargestellt. Es wird um Frieden in Europa gehen, um ein Eindämmen der Migration, um die Verhinderung eines angeblich drohenden Krieges mit Russland.
"Könnte sich als gute Nachricht erweisen"
Die Streitigkeiten im bevorstehenden Wahlkampf werden einen realistischen Blick auf die internationalen Herausforderungen vermutlich weiter verzerren. So kann Scholz eben nicht für einen Frieden in der Ukraine sorgen, wenn dieser von Kremlchef Wladimir Putin nicht gewollt ist.
Und Merz wird laut Sicherheitsexperten wie Carlo Masala mittelfristig wahrscheinlich auch nicht die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten und zugleich die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands gewährleisten können.
Solche Auseinandersetzungen gehören eben zum Wahlkampf, heißt es hierzulande oft. Aber der noch geschäftsführenden Bundesregierung ist es nun laut Verfassung verboten, längerfristige Entscheidungen zu treffen, bis sie letztlich nach der kommenden Bundestagswahl ausscheidet.
Das hat zwei Folgen: Erstens ist Deutschlands Regierungshandeln in einigen zentralen Fragen gelähmt. Zweitens sind entscheidende politische Akteure mit Wahlkampf beschäftigt, anstatt mit Krisenpolitik.
Umso überraschender ist es für einige innenpolitische Beobachter, dass die Vertrauensfrage im Ausland überwiegend positiv aufgenommen wurde.
Die britische "Financial Times" schrieb nach dem Kollaps der Ampelkoalition im November: "Das Gezänk und die Unentschlossenheit, die die Regierung plagen, sind unerträglich geworden." Ein geteiltes Deutschland würde nur Trump in die Hände spielen. Es sei zwar bedauerlich, dass das "mächtigste EU-Mitglied" nun durch den Wahlkampf lahmgelegt sei. Aber: "Die sogenannte rot-gelb-grüne Koalition oder Ampelkoalition war ernsthaft am Ende und konnte nicht weiter bestehen."
Auch das amerikanische Politik-Magazin "Foreign Policy" sieht in dem Ende der Ampelkoalition eher einen Grund für Hoffnung. "Tatsächlich könnte sich die Krise in Berlin jedoch als gute Nachricht erweisen. Die Koalition aus Scholz' Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten war die dysfunktionalste, zögerlichste und am stärksten gespaltene deutsche Regierung seit Jahrzehnten", heißt es dort in einem Meinungsbeitrag.
Hoffnung auf kommende Bundesregierung ist verfrüht
Die Regierungskrise und die stetigen Streitigkeiten innerhalb der Bundesregierung waren nicht nur für die deutsche Bevölkerung eine nervliche Belastungsprobe, sondern auch für internationale Beobachter. Die Nerven liegen auch international blank.
Nach 16 Jahren unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war man im westlichen Bündnis zwar so manchen Ärger gewohnt, besonders mit Blick auf die deutsch-russischen Beziehungen. Aber politische Instabilität in Deutschland? Das war für viele internationale Partner der Bundesrepublik neu. Selbst nach drei Jahren Ampelregierung können sie ihren eigenen Augen noch immer nicht trauen.
Nun herrscht die Hoffnung, dass die Bundesrepublik nach der Wahl im Februar und der anschließenden Regierungsbildung zur politischen Regierungsbildung zurückfinden wird.
Aber diese Hoffnung kommt verfrüht. Mehr noch: Sie ist womöglich unrealistisch. Auch nach der Bundestagswahl werden wahrscheinlich zwei Parteien regieren müssen, die sich inhaltlich stark unterscheiden.
Es wird auch weiterhin Probleme dabei geben, einen großen Strukturwandel einzuleiten und einen ausgeglichenen Haushalt aufzustellen. Im künftigen Bundestag könnten die populistischen Parteien AfD und BSW stärker werden, was die Suche nach politischen Mehrheiten noch komplizierter machen wird.
Die Kopfschmerzen könnten also anhalten.
Deshalb scheint aktuell vor allem eines sicher: Von der Instabilität der deutschen Politik profitiert besonders Wladimir Putin. Er nutzt diese Zeit der Umbrüche in Deutschland, Frankreich und den USA, um militärische Tatsachen in der Ukraine zu schaffen. Russische Medien sehen das innenpolitische Chaos in Deutschland darüber hinaus als Ausdruck des Scheiterns der deutschen Ukrainepolitik. Es ist ein weiterer Versuch des Kreml, um im laufenden Informationskrieg die deutsche Öffentlichkeit zu spalten.
- Eigene Recherche
- foreignpolicy.com: Why Germany’s Government Collapse Could Be Good News (englisch)
- ft.com: The end of Germany’s dysfunctional coalition offers Europe new hope (englisch)
- letamsk.ru: Немецкий политик: правительству ФРГ следует признать, что Россия уже выиграла на Украине (russisch)
- welt.de: "Russland hat diesen Krieg gewonnen"