Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Friedrich Merz Was ist denn mit dem los?
Friedrich Merz will seit mindestens 20 Jahren Bundeskanzler werden. Jetzt steht er kurz vor der Erfüllung seines Traumes – und patzt. Versuch einer Erklärung.
"Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" – einer der besten deutschsprachigen Buchtitel aller Zeiten, auch wenn ich offen gestanden nie verstanden habe, was uns Peter Handke damit eigentlich sagen wollte. Ein Torwart hat beim Elfer doch gar nichts zu verlieren.
Was ich aber als Hobbyspieler sehr gut verstehe, ist die Angst des Tennisspielers vor dem Sieg in einem Grand-Slam-Turnier. Es steht 4:3 im entscheidenden fünften Satz, der Führende hat drei Breakbälle, müsste jetzt nur das Break machen und seinen Aufschlag heimbringen: Sieg! Doch dann passiert etwas. In seinem Kopf rasen die Gedanken, der Arm wird steif wie ein Brett, das Handgelenk zittert, und die Beine gehorchen nicht mehr, fühlen sich an wie die von Pinocchio. Gerade noch gingen die Nervenstränge des Armes bis in die Schlägerspitze, plötzlich liegt der wie ein totes Stück Plastik in der Hand. Nichts geht mehr. Die Bälle fliegen ins Irgendwo. Das Match geht verloren.
Ist es diese Angst des Tennisspielers vor dem Matchball, die Friedrich Merz befallen hat? Jahrzehntelang hat er auf diese Chance gewartet, für sein Comeback in der CDU gerackert, die Partei so weit wie möglich hinter sich versammelt, sie nach der diffusen Merkel-Ära zu einer neuen geformt, ist Kanzlerkandidat der Union geworden und liegt in den Umfragen weit vorn. Sein Lebensziel Bundeskanzler ist in Griffweite. Und plötzlich patzt er, stolpert, stammelt, strauchelt. Redet nicht mehr wie er selbst, sondern klingt wie der Resonanzboden all jener, die auf ihn einschwatzen: So musst Du das jetzt machen, Friedrich, mach mal weniger Kante, sei mal liebenswürdiger, verschreck die Leute nicht so. Und Merz will alles richtig machen – und macht dabei doch alles falsch. Weil er nicht mehr Friedrich Merz ist.
Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online erscheint jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!".
Länger arbeiten bis zur Rente? War nicht so gemeint. Eine echte Wirtschaftswende? Ja, schon, aber doch nicht so, wie sie die FDP fordert. Taurus für die Ukraine? Ja, schon, aber erst müssten dann mal über Monate ukrainische Soldaten an dieser Waffe in Deutschland ausgebildet werden. Von kleinen Paschas oder Ähnlichem ist gar nichts mehr zu hören. Der markant-kantige Merz ist plötzlich so rundgelutscht und schmeichelnd wie ein Campino-Bonbon auf der Zunge.
Obendrein vergibt er schon wild Ministerposten in seinem künftigen Kabinett an alle möglichen Koalitionspartner, als sei er bereits Kanzler – und entzieht diese dann aber auch wieder. Erst konnte er sich FDP-Chef Christian Lindner weiter als Finanzminister vorstellen. Dann war er plötzlich über seinen Wunsch-Finanzminister "völlig entsetzt", als dieser Milei und Musk als Chiffren einer radikalen Wirtschaftswende in die Diskussion brachte.
"Völlig entsetzt" über seinen Wunsch-Finanzminister
Umgekehrt war es bei den Grünen. Da hatte Merz vormals gesagt, "mit diesen Grünen" könne er sich nicht oder kaum eine Koalition vorstellen. Um sich jetzt öffentlich statt eines FDP-Finanzministers Lindner einen Wirtschaftsminister Robert Habeck in seinem Kabinett vorstellen zu können. Dieser Habeck ist der Kanzlerkandidat und damit die Inkarnation "dieser Grünen", mit denen Merz nicht wollte. Obendrein hat er mit dieser Einlassung das erst wenige Wochen alte Treuegelübde des Markus Söder („Du kannst Dich auf uns verlassen!“) einem Stresstest unterzogen, der natürlich negativ ausfiel. Komplett unnötig das alles. Er hätte auch so wissen können, dass er sich auf eine derartige Aussage Söders ein Ei braten kann.
Zappas Song über den Kanzlerkandidaten Merz
Das passt alles nicht so richtig zusammen. Merz ist aus dem Tritt. Er erinnert an einen großen Song der Achtziger. Vielleicht kennt er Frank Zappa noch aus jener Zeit, in der Merz auf seinem frisierten Mofa durchs Sauerland röhrte. Zappa hat auf seinem Klassiker-Album "Sheik Yerbouti" von 1979 einen Song eingespielt, als hätte er dabei den Unions-Kanzlerkandidaten dieser Tage vor Augen gehabt. "The Beat Goes On And I’m So Wrohohong" leiert Zappas "Dancin' Fool" auf der Tanzfläche atonal und zu schmerzhaft schrägen Tönen der Band im Refrain.
Der Beat des Wahlkampfes geht auch weiter, und Merz muss schleunigst mehr Gefühl für Takt und Rhythmus an den Tag legen. Sich selbst finden. Seinen Tanz tanzen. Sonst wird das mit seinem Lebenstraum nochmal eng. Olaf Scholz kann diese Wahl nach Lage der Dinge nicht mehr gewinnen, das stimmt. Aber Merz kann sie immer noch verlieren.
- Eigene Überlegungen