Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Nicht schon wieder
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Leid gibt es so mannigfach in der Welt, dass viele Leute hierzulande es gar nicht mehr so genau wissen möchten. Zehn Millionen Vertriebene im sudanesischen Bürgerkrieg, das tägliche Gemetzel in der Ukraine, Tod und Zerstörung im Gazastreifen, es ist alles fürchterlich.
Und nun wird auch in Syrien wieder hart gekämpft. Von der Türkei unterstützte Milizen haben die nördliche Millionenmetropole Aleppo erobert und stoßen auf Hama vor; auch dort lebt mehr als eine Million Menschen. Die Armee von Diktator Baschar al-Assad kann dem Ansturm nicht standhalten und hat wieder einmal die Russen zu Hilfe gerufen. Putins Piloten bombardieren Islamistenkämpfer auf Motorrädern ebenso wie Krankenhäuser, Geburtsstationen und Schulen, um die Moral der Bevölkerung zu brechen. Als ob es nach fast 14 Jahren Bürgerkrieg noch irgendetwas zu brechen gäbe.
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Wer noch nicht aus Syrien geflohen ist, wünscht sich nichts sehnlicher als Frieden, Brot und Wasser. An allem mangelt es akut. In den Dörfern um Hama toben erbitterte Gefechte, und auch im Osten geht das Kämpfen wieder los: Gestern haben von den USA unterstützte Kurden in der Euphrat-Stadt Deir al-Zor zu den Waffen gegriffen. In der Luft schwirren israelische Drohnen, eine tötete gestern auf der Flughafenautobahn in Damaskus den Verbindungsmann der pro-iranischen Hisbollah zur syrischen Armee. Er soll eine Schlüsselrolle beim Waffenschmuggel in den Libanon gespielt haben. Die Iraner schwören Rache und wollen wieder Revolutionsgarden nach Syrien schicken; schon einmal haben sie gemeinsam mit Putins Todesschwadronen Assad die Herrschaft gesichert, indem sie große Teile des Landes in einen Friedhof verwandelten.
Syrien ist ein Trümmerfeld – und wird nun erneut zum Schlachtfeld im Stellvertreterkrieg fremder Mächte. Türken, Russen, Iraner, Israelis, Saudis, Emiratis, Amerikaner: Alle mischen mit, versuchen, ihren Einfluss auszudehnen und Rivalen zurückzudrängen. Dabei ist dem Kriegsfürsten im Kreml, den Turbanträgern in Teheran und dem bedrängten Schlächter Assad jedes Mittel recht. Am härtesten treffen die Folgen Zivilisten, die sich nicht wehren oder fliehen können.
Mehr als 50.000 Menschen irren auf der Suche nach Schutz umher. Die humanitäre Lage im Nordwesten des Landes habe sich in den vergangenen Tagen "auf dramatische Weise verschärft", berichten die wenigen verbliebenen Hilfsorganisationen. Getreide geht aus, Gemüse kostet plötzlich Mondpreise, auf manchen Märkten gibt es gar nichts mehr. "Ich stand heute seit 3 Uhr morgens an, um das tägliche Brot für meine Familie zu bekommen", berichtet ein Aleppiner einem Reporter der Deutschen Presse-Agentur.
"Die jüngste Eskalation in Syrien droht, das Land zurück in die dunkelsten Tage zu ziehen", warnen die Helfer des Norwegischen Flüchtlingsrats, die noch im Land ausharren. Sie berichten von Vertriebenen, die ohne Winterkleidung in der Kälte schlottern, seit Tagen kaum etwas gegessen haben, verzweifelt nach Wasser suchen. Die meisten Hilfsorganisationen haben aus Furcht vor Bombardements ihre Aktivitäten eingestellt. Die Weltgesundheitsorganisation rechnet vor: Im Nordwesten Syriens gibt es für fünf Millionen Menschen gerade mal noch 20 Krankenwagen.
Es ist fürchterlich, und es geht einem besonders nahe, wenn man das Vorkriegs-Syrien gekannt hat. Seit Anfang der Neunzigerjahre habe ich das Land mehrfach bereist und zeitweise in Damaskus studiert. Auch damals war nicht alles gut, der Diktator und seine Foltergeheimdienste unterdrückten jede Kritik, viele Menschen lebten in ärmlichen Verhältnissen. Aber es herrschte Frieden, die Menschen kultivierten ihre berühmte Warmherzigkeit und Gastfreundschaft, die vielen Denkmäler aus fünftausend Jahren Hochkultur luden zu ausgedehnten Reisen ein: die Altstädte von Damaskus und Aleppo, die römischen Ruinen in Palmyra und Bosra, die byzantinischen Toten Städte, die Kreuzritterburg Krak des Chevaliers. Dann kam die amerikanische Invasion im Irak 2003, Abertausende Flüchtlinge und Terroristen aus Saddams zerfallendem Reich strömten ins multiethnische Syrien, klimabedingte Missernten und Spekulationen an den Rohstoffbörsen infolge der Weltfinanzkrise 2008 verteuerten die Lebensmittelpreise, Brotrevolten brachen aus, beflügelt von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten sehnten sich die Menschen nach Freiheit, das Regime reagierte brutal.
Heute sind der Aleppiner Basar und die Tempel von Palmyra zerstört, in den Gassen von Damaskus herrschen Angst und Not, seit Beginn des Bürgerkriegs sind mindestens eine halbe Million Menschen gestorben und sieben Millionen geflohen. Man sieht die Bilder des Elends und kann es doch kaum fassen. In diesen Tagen denke ich an die Freunde, die ich einst in Syrien hatte. An den einäugigen Tariq aus Mayadin bei Deir al-Zor, der in einem Wüstentempel mit mir tanzte. An den feinsinnigen Murtada, der so gern geheiratet hätte. An Abu Hud, "Vater Walfisch", der in seinem Lädchen in der Damaszener Altstadt kühles Flaschenbier feilbot. An Therése und Fathiye, die arg knausrig waren, aber im Innenhof ihres Hauses köstlichen Fattusch-Salat zubereiteten. An die Ulknudel Tarif, der von morgens bis abends Witze erzählte. Ich denke an sie alle, ich weiß nicht, wie es ihnen geht, ob sie überhaupt noch leben, aber ich wünsche es mir sehr. So viel Leid herrscht derzeit in der Welt, dass manche Leute es gar nicht mehr so genau wissen wollen. Ich möchte es wissen. Ich möchte die Menschen nicht vergessen.
Ohrenschmaus
Es gab bessere Zeiten in Syrien. Die Musik ruft sie in Erinnerung.
Drama in Frankreich
Das Szenario hatte sich abgezeichnet, heute tritt es ein: Der französische Regierungschef Michel Barnier muss sich einem Misstrauensvotum stellen. Nachdem der Premier am Montag seinen Sparhaushalt per Dekret und ohne Abstimmung durchs Parlament gedrückt hatte, reichten sowohl das linke Lager als auch die Rechtsradikalen um Marine Le Pen entsprechende Anträge in der Nationalversammlung ein. Da Barniers Mitte-Rechts-Koalition dort keine eigene Mehrheit hat, droht ihr nach nur drei Monaten die Abwahl – und der hochverschuldeten Grande Nation eine Fortsetzung der politischen Blockade. Warum das auch für Deutschland ein Problem ist, habe ich hier erklärt.
Wie aber geht es im Fall eines Regierungssturzes weiter? Zunächst bliebe Monsieur Barnier geschäftsführend im Amt, Staatspräsident Emmanuel Macron müsste dann einen neuen Premier ernennen. Als Kandidaten werden Verteidigungsminister Sébastien Lecornu, der frühere sozialistische Premier Bernard Cazeneuve, der vormalige Innenminister Gérald Darmanin und Ex-EU-Kommissar Thierry Breton gehandelt. Alternativ könnte die lahme Ente im Élysée-Palast eine "Technokratenregierung" einsetzen, also ein Kabinett aus Experten, hohen Verwaltungsbeamten und Ökonomen. Neuwahlen des Parlaments sind nach den vorgezogenen Abstimmungen von Juni/Juli hingegen erst wieder im Sommer 2025 möglich. Mehr Hintergründe erfahren Sie von meiner Kollegin Frederike Holewik.
Heil auf heikler Mission
Bei VW brodelt es weiter: Seit Montag macht die IG Metall mit Warnstreiks gegen die milliardenschweren Sparpläne des Autobauers mobil, Gesamtbetriebsratschefin Daniela Cavallo kritisierte in einer Rede vor Tausenden Beschäftigten in Wolfsburg die üppige Ausschüttung von Dividenden an die Eigentümerfamilien Porsche und Piëch.
Auch heute dürfte es hoch hergehen im Stammwerk am Mittellandkanal: Wenn die Mitarbeiter um 9.30 Uhr zur Betriebsversammlung zusammenkommen, werden neben Frau Cavallo auch Konzernchef Oliver Blume und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil das Wort ergreifen. Wegen des enormen Andrangs wird die Versammlung per Videoleinwand nach draußen übertragen. Der SPD-Ressortchef darf sich als Politiker zwar nicht konkret zum laufenden Tarifstreit äußern, dürfte sich die Gelegenheit zu plakativen Wahlkampfs-Slogans aber nicht entgehen lassen. Die nächste Verhandlungsrunde ist dann für den 9. Dezember geplant.
Scholz antwortet
Erstmals seit dem Ampel-Aus und der Neuwahl-Entscheidung steht Olaf Scholz heute im Bundestag den Abgeordneten Rede und Antwort. Nach einer Eröffnungsrede des Kanzlers können die Parlamentarier ihn eine Stunde lang mit Fragen zu allen Themen löchern – folglich wird auch im Parlament Wahlkampf-Atmosphäre herrschen. Genau in einer Woche will der Noch-Regierungschef im Bundestag die Vertrauensfrage stellen, über die dann am 16. Dezember abgestimmt werden soll. Wird wirklich allerhöchste Zeit.
Bild des Tages
"Was für eine Partie, was für ein Drama, was für ein Kampf!" – Beobachter sind hingerissen. Tatsächlich: Was die beiden Finalisten in der siebten Partie der Schach-Weltmeisterschaft in Singapur gestern gezeigt haben, war spektakulär. Fünf Stunden und zweiundzwanzig Minuten lang lieferten sie sich eine erbitterte Schlacht voller Winkelzüge, überraschender Manöver, genialer Züge und schwerer Fehler. Am Ende verspielte der 18-jährige Inder Dommaraju Gukesh – in einschlägigen Kreisen als "Wunderkind" bejubelt – trotz einer vorteilhaften Stellung die erstmalige Führung gegen den 32-jährigen Titelverteidiger Ding Liren aus China: wieder ein Remis! Nun stehen die beiden Superhirne mit 3,5:3,5 gleichauf. Wer zuerst 7,5 Punkte erreicht, ist Weltmeister. Weiter geht es heute mit Partie Nummer acht.
Lesetipps
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Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen luftigen Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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