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Frankreich wankt: Nächste Eurokrise?


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Tagesanbruch
Frankreich wankt

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 29.11.2024 - 05:55 UhrLesedauer: 7 Min.
Sehenden Auges in die Staatskrise: Emmanuel Macrons Regierungen haben zu viel Geld ausgegeben.Vergrößern des Bildes
Sehenden Auges in die Staatskrise: Emmanuel Macrons Regierungen haben zu viel Geld ausgegeben. (Quelle: Sarah Meyssonnier/Reuters Pool/AP/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

was fällt Ihnen zu Frankreich ein? Die Olympischen Spiele vielleicht, die Strände an der Côte d'Azur oder der Mont Blanc? Ist es ein Spaziergang an der Seine, der vor Ihrem geistigen Auge erscheint, um anschließend in den Glamour von Paris einzutauchen? Wenn Sie an derlei denken, ist das ein gutes Zeichen. Die Welt ist schön, Frankreich auch, das Leben eine Freude. Voilà! So soll es sein.

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Sie erinnern sich vielleicht, dass das nicht immer so war. Frankreich hat uns im Frühjahr und Sommer ganz schön in Aufregung versetzt. Mit angehaltenem Atem haben wir zugesehen, wie Präsident Emmanuel Macron und seine Partei von einer Krise in die nächste taumelten, Radikale von rechts und links die Mitte in die Zange nahmen und antidemokratische Kräfte nach der Macht griffen. Am Ende blieb die Katastrophe aus: Die liberalen und konservativen Überlebenden des Ansturms rauften sich zu einer Koalition zusammen und bekamen immerhin eine Minderheitsregierung zustande. Bei unserem Nachbarn war alles erst mal wieder gut und die Instabilität, die das ganze europäische Projekt hätte erfassen können, wurde abgewendet. Hatten wir gedacht.

Tja. Weit gefehlt.

Für das, was die stolze Nation nebenan gegenwärtig am besten beschreibt, hat sie uns die passenden Worte gleich mitgeliefert: die Malaise und die Bredouille. Sie begleiten Premier Michel Barnier, der erst seit September im Amt ist, auf Schritt und Tritt. Blickt er in die Staatskasse, müssen ihm die Tränen kommen: Frankreich ist so hoch verschuldet, dass die EU das Land ins Visier genommen hat und auf den Finanzmärkten Fluchtimpulse einsetzen. Das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit Frankreichs ist so tief gesunken, dass seine Schuldscheine nur zu Kursen den Besitzer wechseln, wie man sie zuletzt 2012 während der Eurokrise gesehen hat. Damals brannte die Hütte lichterloh. Auch jetzt gehen wieder die Alarmglocken an.

Die wichtigste Aufgabe von Regierungschef Barnier ist deshalb, das galoppierende Defizit im Staatshaushalt unter Kontrolle zu bekommen. Mit mehr als 6 Prozent des Sozialprodukts rauscht die Grande Nation dieses Jahr in die Miesen. Zum Vergleich: Die Schuldenbremse, die uns in Deutschland an die Leine legt, zurrt ein Limit von 0,35 Prozent fest. Während die hiesige Regel Investitionen und wirtschaftliches Gedeihen stranguliert, haben Macron und seine Premiers ungezügelt wirtschaften können und mit dem Geld aus dem Staatssäckel nicht gekleckert, sondern geklotzt. Die Stagnation und das deutsche Dümpeln hat sich unser Nachbar damit erspart. Aber die goldene Mitte, das vernünftige Maß, wurde auch dort nicht angestrebt. Stattdessen schmiss der Staat die Milliarden raus, als gäbe es kein Morgen.

Wenn man das lange genug so macht, dann ist der Tag ohne Morgen irgendwann gekommen. Deshalb wächst nun die Gefahr in Frankreich täglich. Premier Barnier muss eisern sparen und zugleich die Steuern erhöhen, damit aus dem finanziellen Sturzflug wenigstens ein Sinkflug wird. Populär wird man mit Streichungen und Steuererhöhungen aber nicht. Umso schlimmer also, dass der Regierungschef nicht einmal eine eigene Mehrheit hat. Das Linksbündnis, die stärkste Gruppe im Parlament, würde Monsieur Barnier und dessen Kabinett am liebsten sofort aus dem Amt jagen.

Die Fundamentalopposition der radikalen Linken zwingt die Regierung, sich mit einer anderen großen Fraktion einzulassen, deren Chefin sich aus taktischen Gründen verantwortungsvoll, staatstragend und präsidial zu geben beliebt: Marine Le Pen, unangefochtene Herrscherin der Rechtspopulisten, hat es bisher nicht ins Präsidentenamt geschafft, aber sich kontinuierlich herangerobbt. Den rechtsextremistischen Wahlverein, den ihr Vater Jean-Marie Le Pen ins Leben rief, hat sie bis zur Massentauglichkeit weichgespült und sich damit den Weg zur Wählbarkeit geebnet. Einst bot der Extremistenclub nur hasserfüllten Spinnern eine Heimat. Mittlerweile steht die erfolgreiche Tochter nicht nur im Biotop ihrer Partei, sondern auch in landesweiten Beliebtheitsumfragen an der Spitze.

So recht darüber freuen kann sich die geschmeidige Madame aber nicht, denn sie steckt bis zum Hals im juristischen Schlamassel. Eingebrockt haben ihr den nicht politische Konkurrenten, sondern aufmerksame Beamte im EU-Parlament. Denen fiel auf, dass auf dem Organisationsdiagramm der Partei jede Menge Assistenten auftauchten, die mit europäischen Steuergeldern für ihre Tätigkeit im Parlament zwar bezahlt wurden – aber komischerweise anderswo, nämlich irgendwo in Frankreich, ihren Aufgaben nachgingen. Und was machten die da so? Die Antwort, die nun vor Gericht gegeben wird, treibt Marine Le Pen die Schweißperlen auf die Stirn – und löst ein politisches Erdbeben aus.

Le Pens Partei, so der Vorwurf, hat in Zeiten leerer Kassen ihre Parteisoldaten von der EU bezahlen lassen, getarnt als fiktive Mitarbeiter des Parlaments. Bei dieser Sorte von Betrug versteht das französische Recht keinen Spaß. Die Verhandlung wurde diese Woche abgeschlossen, Urteil und Strafmaß werden im März verkündet. Der Prozessverlauf legt einen Schuldspruch nahe. Die Ankläger verlangen fünf Jahre Haft für Le Pen. Selbst wenn die Richter zu einer geringeren Strafe greifen, tritt bei einer Verurteilung automatisch ein Verbot in Kraft: Madame Selbstbedienung darf keine politischen Ämter bekleiden – und zwar fünf Jahre lang. Nur ein winziges Schlupfloch im Verfahren und überaus milde gestimmte Richter können sie davor noch retten. Andernfalls hat sich das Rennen um die Nachfolge Macrons im Élysée-Palast für sie erledigt. Nichts da mit Präsidentin, aus die Maus.

Diese Perspektive hat jetzt Folgen. Mit dem staatstragenden Gebaren Le Pens ist es nicht mehr weit her; die Zeichen stehen auf Sturm: Das Budget des Premierministers Barnier, das so dringlich ist und zugleich so unangenehm, will Le Pen nun nicht mehr mittragen. Und scheitert der Haushalt im Parlament, kommt eine ganze Kaskade an Entscheidungen in Gang, an deren Ende ein Misstrauensvotum steht. Wenn es dazu kommt, wird die Abstimmung den Sturz der Regierung vermutlich besiegeln. Noch im Dezember könnte es so weit sein.

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Die Finanzkrise in Frankreich nimmt derweil weiter Fahrt auf. Für Europa bedeutet das: Zu Krieg, Inflation und Wirtschaftsflaute könnte auch noch eine Neuauflage der Eurokrise kommen. Eine besinnliche Adventszeit hatten wir uns eigentlich anders vorgestellt.


Umwelt unter ferner liefen

Auch mehr als drei Jahre nach der Flutkatastrophe sind die Folgen des Klimawandels im Ahrtal noch an jeder Ecke greifbar. Insofern war Bad Neuenahr-Ahrweiler ein passend gewählter Ort für die dreitägige Konferenz der Umweltminister von Bund und Ländern, die heute Mittag zu Ende geht. Denn auch wenn das Hochwasser vom Juli 2021, bei dem 135 Menschen starben, als bisher teuerste Naturkatastrophe Deutschlands gilt, dürfte es nur ein Vorgeschmack auf das gewesen sein, was uns Hitzewellen und Dürren, Ernteausfälle und Flutschäden in Zukunft kosten werden: zwischen 280 und 900 Milliarden Euro bis 2050 prognostiziert eine Studie des Umweltministeriums, je nachdem, wie stark die Erderhitzung fortschreitet.

Neben dem Hochwasserschutz stand deshalb auch die Aufnahme des Klimaschutzes ins Grundgesetz auf der Tagesordnung der Fachminister: als sogenannte Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern. Nur dann nämlich könnte auch der Bund direkt in die Abwehr von Klimawandel-Folgen investieren. Da für Grundgesetzänderungen aber eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat vonnöten ist, wird die von vielen Experten geforderte und auch von Umweltministerin Steffi Lemke befürwortete Umsetzung in absehbarer Zeit eher nicht kommen. Dafür dürfen sich Historiker künftiger Generationen darüber wundern, wie wir so lange so ignorant sein konnten, die Gefahren einfach auszusitzen.


Turbulenzen in Rumänien

Der prorussische Rechtsextremist Calin Georgescu hat es bei der rumänischen Präsidentschaftswahl als Erstplatzierter in die Stichwahl geschafft. Das überraschte die Demoskopen und entsetzte den Westen. Immerhin ist das Land EU- und Nato-Mitglied. Aber gegen die chinesische Propagandaschleuder TikTok scheint kein Kraut gewachsen.

Nun beschäftigt die Abstimmung die Justiz: Gestern verfügte Rumäniens Verfassungsgericht die Neuauszählung aller Stimmzettel und wies einen von zwei Anträgen auf Annullierung des Urnengangs zurück, weil er nicht fristgerecht eingereicht worden sei. Heute prüft das Gericht die zweite Anfechtung der Wahl, die argumentiert, dass Georgescu die Finanzquellen für seinen Wahlkampf nicht offengelegt habe. Noch ist also keineswegs ausgemacht, ob in Bukarest künftig ein Putin-Bewunderer mit großer TikTok-Reichweite das Sagen hat – zumal am kommenden Sonntag auch noch Parlamentswahlen anstehen und die für den 8. Dezember angesetzte Stichwahl ebenfalls abzuwarten wäre. Sollte der erste Wahlgang Bestand haben, träfe Georgescu dann auf die konservativ-liberale Elena Lasconi von der Union Rettet Rumänien.


Bild des Tages

Dieses Blau ist rau: In Köln wird Claude Monets Gemälde "Mer agitée à Pourville" ("Raue See bei Pourville") aus dem Jahr 1882 versteigert. Der Schätzpreis beläuft sich auf drei bis vier Millionen Euro. Hoffentlich landet es in einem Museum statt über dem Sofa eines Superreichen.


Ohrenschmaus

Opern-Großmeister Giacomo Puccini ist heute vor 100 Jahren gestorben. Seine Melodien hingegen sind unsterblich, erst recht aus diesem Munde.


Lesetipps

Es ist tatsächlich wahr: Die FDP hat den Ausstieg aus der Ampelkoalition akribisch vorbereitet. In einem Strategiepapier war vom "D-Day" und einer "offenen Feldschlacht" die Rede. Mein Kollege Simon Cleven hat die unappetitlichen Details. Falls Sie noch irgendjemanden kennen, der diesen Opportunistenverein im Gewand einer Partei wählen möchte, dürfen Sie ihn aufrichtig bedauern.


Die ukrainische Armee steht im Osten stark unter Druck, Russland könnte der Durchbruch gelingen. Was geschieht dann? Oberst Markus Reisner analysiert die Lage im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.


Immer wieder behaupten Politiker, Bürgergeldempfänger hätten ein höheres Einkommen als Erwerbstätige. Das ist falsch, Arbeit lohnt sich immer, zeigen die Kollegen von Tagesschau.de.



Zum Schluss

Unser lieber Cartoonist kann meinen Alltag nachempfinden.

Bleiben Sie trotz allerhand Weltproblemen gelassen. Manchmal sind es nur Problemchen.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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