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Scholz oder Pistorius? Die Kanzlerfrage ist reines Gift für die SPD


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Tagesanbruch
Das wäre die schlechteste aller Möglichkeiten

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 20.11.2024 - 07:35 UhrLesedauer: 6 Min.
BundeskabinettVergrößern des Bildes
Pistorius oder Scholz (r.)? Die SPD streitet darüber heftig. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

heute kehrt Kanzler Olaf Scholz aus Rio zurück. Internationale Politik hat er in Brasilien gemacht und auf dem G20-Gipfel über Steuern für Superreiche, Maßnahmen gegen den Welthunger und den Klimawandel verhandelt. Wenn er in Berlin aus dem Flieger steigt, erwartet ihn hingegen eine Diskussion mit sehr viel persönlicherer Tragweite: die über seine politische Zukunft.

Denn viel ist passiert in der kurzen Zeit, in der Scholz in Brasilien weilte. Plötzlich nämlich fragen nicht nur politische Beobachter in den Medien, sondern auch immer mehr Schwergewichte seiner eigenen Partei öffentlich: Ist Scholz noch der richtige Kanzlerkandidat? Oder wäre Publikumsliebling und Verteidigungsminister Boris Pistorius nicht viel besser geeignet?

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"Kipppunkte" nennen sie in der Klimaforschung kritische Schwellenwerte, deren Überschreiten zu schwerwiegenden und unumkehrbaren Veränderungen führt. In der Politik gibt es auch solche Kipppunkte – und am ehesten taugen die eigenen Parteigenossen, sie mit Äußerungen in den Medien herbeizuführen. Den Kipppunkt in der K-Frage hat die SPD innerhalb weniger Tage fast erreicht.

Da meldete sich am Sonntag SPD-Urgestein und Ex-Parteichef Franz Müntefering zu Wort: Gegenkandidaturen in der Kanzlerfrage seien möglich und nicht etwa Zeichen von Ratlosigkeit, sondern "praktizierte Demokratie", sagte er dem "Tagesspiegel". Damit positionierte er sich deutlich gegen die bisherige Haltung der aktuellen SPD-Führung, die Scholz als gesetzt verkauft – und plädierte indirekt für eine Kehrtwende in der K-Frage.

Noch deutlicher wurden gleich am Tag darauf Dirk Wiese und Wiebke Esdar, Chefs der mächtigen NRW-Landesgruppe im Bundestag. Bei der Frage nach der besten politischen Aufstellung für die Bundestagswahl hörten sie "viel Zuspruch für Boris Pistorius", teilten sie mit. Scholz’ Ansehen sei "stark mit der Ampelkoalition verknüpft".

Es folgte am Dienstag mit Sigmar Gabriel einer, der viele Jahre SPD-Chef war, noch dazu Vizekanzler und dreifacher Minister. Eindringlich warnte er: An der Basis der SPD steige "jeden Tag der Widerstand gegen ein 'Weiter so' mit Kanzler Scholz". Der SPD-Führung aber fielen nur Beschwichtigungen und "Ergebenheitsadressen" ein. "Jetzt ist mutige politische Führung gefragt. Wer das laufen lässt, bringt die SPD unter 15 Prozent!"

Das Klima also ist rau, die SPD in Aufruhr, die bisher für Scholz eintretende Parteispitze diskutierte noch am Dienstagabend über die Lage. Sie kann nicht ignorieren: Die Angriffe aus den eigenen Reihen auf Scholz als Kanzlerkandidat häufen sich und sind so deutlich formuliert, wie die Partei-Netiquette es eben erlaubt. Und für Scholz und seine Mitstreiter dürfte es angesichts der prominenten Wortführer schwer werden, den Kipppunkt noch abzuwenden.

Das hat auch, aber nicht nur, mit Zahlen zu tun. Scholz ist bei den Wählern extrem unbeliebt – und nach dem Ampel-Aus scheint sein Stern noch weiter zu sinken. Inzwischen belegt er im Politiker-Ranking der Agentur Insa mit nur 31,4 Punkten den 20. und damit den letzten Platz. Boris Pistorius hingegen glänzt da an der Spitze – mit mehr als 20 Punkten Vorsprung auf Scholz.

Ist Pistorius also die logische Wahl? Ganz so einfach ist es auch wieder nicht. Machtpolitisch spricht für einige in der SPD, gerade auch in der Führung, einiges gegen den Kandidatentausch, wie mein Kollege Daniel Mützel hier erklärt. Unklar ist außerdem, wie firm Pistorius außerhalb seines eigenen Ressorts eigentlich in den großen Krisenfragen dieser Zeit ist. Fraglich ist auch, ob er als Verteidigungsminister, der für die Kriegstüchtigkeit Deutschlands wirbt, überhaupt als Aushängeschild seiner Partei taugt, die stets den Frieden betont und bei Aufrüstung wie Waffenlieferungen gern auf die Bremse tritt.

Ein Wahlkampf ist außerdem eine Monster-Aufgabe, bei der viele Räder ineinandergreifen. Dass Popularität dabei nicht alles ist, haben sie bei der SPD schon 2017 schmerzhaft erfahren. Da feierten sie den ursprünglich so beliebten Martin Schulz, der sie im "Schulz-Zug" ins Kanzleramt bringen sollte – am Ende aber entgleiste die Lok, der Wahlkampf verfing nicht, Schulz holte das bis dahin schlechteste Ergebnis für die SPD in der Nachkriegszeit.

Lehren lassen sich für die aktuelle Zwickmühle der SPD auch aus den Erfahrungen der CDU und CSU im darauffolgenden Wahlkampf 2021 ziehen. Da schoss Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder beharrlich gegen Armin Laschet, baute sich mit hohen Zustimmungswerten im Rücken als Konkurrent um die Kanzlerkandidatur auf – und erhielt Unterstützung auch aus Laschets CDU. Die eigene Partei, sie fiel ihrem Kandidaten teilweise in den Rücken.

Ein Machtwort der CDU-Spitze, speziell die Beharrlichkeit von Wolfgang Schäuble, beendete das Scharmützel schließlich. Doch Laschet zog beschädigt in den Wahlkampf, musste noch dazu ständige Spitzen aus Bayern fürchten. Nach seinem unpassenden Lachen im Hochwassergebiet folgte die Quittung, die sich die Union auch selbst erarbeitet hatte: Dieses Mal holte sie das für sie schlechteste Ergebnis der Nachkriegszeit, Scholz profitierte und wurde Kanzler.

Es ist für einen Kanzlerkandidaten eben nicht nur ein fatales Signal, sondern rasch der Todesstoß, wenn nicht einmal die eigenen Leute geschlossen hinter ihm stehen. Schwer beschädigt haben die vergangenen Tage Scholz als Kandidaten deswegen schon jetzt. Gefährlich ist die aktuelle Lage auch für die gesamte SPD. Die Wähler goutieren Unklarheiten und Streit auf offener Bühne nicht, mag er auch noch so demokratisch sein.

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Ein Machtwort der SPD-Spitze braucht es deswegen so rasch wie möglich – und dieses Machtwort muss so deutlich wie klug sein. Hält die Spitze an Scholz fest, muss es die Zweifler verstummen lassen. Wechselt sie Pistorius ein, muss sie diesen Schwenk gut begründen – ohne Pistorius als Verräter angreifbar zu machen und den noch Monate amtierenden Kanzler Scholz völlig zu demontieren.

Es ist keine leichte Aufgabe, die sie in der SPD-Parteizentrale jetzt haben. Aber nicht oder zu spät zu reagieren, ist die schlechteste aller Möglichkeiten.


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Zum Schluss

Problemlösung am Stammtisch:

Ich wünsche Ihnen einen sorgenfreien Tag. Morgen schreibt Florian Harms wieder für Sie.

Herzlichst

Ihre Annika Leister
Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
X: @AnnLei1

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Mit Material von dpa.

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