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Joe Biden trifft Scholz in Berlin heute: Letzte Warnung für Deutschland


Tagesanbruch
Letzte Warnung für Deutschland

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 18.10.2024 - 07:29 UhrLesedauer: 7 Min.
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Quelle: Elizabeth Frantz/Reuters

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Um die Gegenwart zu verstehen, kann es helfen, sich gedanklich in die Zukunft zu versetzen: Wie würde ein Bundesbürger im Jahr 2034 auf das heutige Deutschland blicken, was würde er sehen und was davon halten?

Ich ahne: Er (oder sie) würde die Hände überm Kopf zusammenschlagen und sich fragen, wie man so naiv, kurzsichtig und verantwortungslos sein konnte – wobei "man" nicht nur die Politiker im Regierungsapparat und im Bundestag meint, sondern uns alle als deutsche Gesellschaft des Jahres 2024. Diese Person in der Zukunft würde vermutlich noch weitergehen und unser heutiges Handeln verurteilen, vielleicht sogar verfluchen. Und würde sich schwören, nie wieder so gravierende Fehler zu begehen wie ihre Vorgänger. Anschließend würde die Person versuchen, irgendwie zu retten, was noch zu retten ist. Aber der Reihe nach.

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An diesem herbstlichen Freitag eilt der amerikanische Präsident Joe Biden durchs Berliner Regierungsviertel – wobei "eilen" bei dem alten Herrn ein Euphemismus ist. Der Zeitplan seines nachgeholten Besuchs hat es allerdings tatsächlich in sich: Weil ein Hurrikan den eigentlich geplanten Staatsbesuch in der vergangenen Woche vereitelte, müssen sich Deutschlands Spitzenpolitiker nun mit einem abgespeckten Kurzprogramm ihres hohen Gastes begnügen. Gerade einmal 20 Stunden soll der Aufenthalt des 81-Jährigen dauern, wie unsere Reporter Bastian Brauns und Florian Schmidt berichten.

Am Vormittag Empfang mit militärischen Ehren durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Dann Verleihung des höchsten deutschen Ordens.

Anschließend Mittagessen mit Bundeskanzler Olaf Scholz, gefolgt von einem Presseauftritt.

Dann der wichtigste Termin: Vierertreffen mit Scholz sowie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Großbritanniens Premierminister Keir Stamer, die dafür nach Berlin eilen (was man in diesen Fällen wörtlich nehmen darf).

Und schon geht es wieder zum Flughafen und zurück über den Atlantik.

Der Präsident mag alt sein und wegen seines angekündigten Amtsendes auch das, was man in Amerika eine "lame duck" nennt, also ein weitgehend handlungsunfähiger Regierungschef. Mit Höflichkeiten dürfte sich Mister Biden trotzdem nicht lange aufhalten. Amerikas erfahrenster Politiker weiß: Er wird wohl für lange Zeit, wenn nicht gar für immer, der letzte überzeugte Transatlantiker im Weißen Haus gewesen sein. Sollte Kamala Harris in zweieinhalb Wochen zu seiner Nachfolgerin gewählt werden, wird sie sicher andere Schwerpunkte setzen: Ankurbeln der Wirtschaft, Organisation der Energiewende, Eindämmung der Migration aus Lateinamerika und vor allem den anschwellenden Systemkonflikt mit China. Für Europa und dessen Probleme dürfte sie deutlich weniger Zeit, Kraft und Geld finden als der gegenwärtige Präsident – erst recht mit einem gespaltenen Kongress im Nacken.

Es kann noch ärger kommen: Sollte Donald Trump siegen, was angesichts der Umfragen in den Swing States wahrscheinlicher wird, stehen die Europäer schlagartig mutterseelenallein auf der Weltbühne. Zumindest sind die Ankündigungen des gelbhaarigen Egomanen so zu verstehen: Sollen die bescheuerten Europäer ihre Probleme doch allein lösen! Keinen Cent bekommen die! Soll Putin doch mit ihnen machen, was er will! So und so ähnlich sagt er das, der Donald, und wer seine Drohungen jetzt immer noch für Übertreibungen hält, begeht einen unverzeihlichen Fehler. Man muss nur Leuten wie Mark Milley zuhören. Der war während Trumps erster Präsidentschaft Generalstabschef der US-Armee und sagt heute über diesen: "Er ist jetzt die gefährlichste Person für dieses Land. Jetzt ist mir klar, dass er durch und durch ein Faschist ist."

"Durch und durch ein Faschist": So nennt kein durchgeknallter Linksradikaler den Präsidentschaftskandidaten, sondern ein kühl analysierender Top-General. Fast überflüssig zu wiederholen, dass Trumps Team die Konzepte für einen radikalen Umbau der amerikanischen Politik und ihrer internationalen Allianzen bereits in der Schublade liegen hat. Die Nato könnte sich schneller als befürchtet als Pappkamerad entpuppen.

Womit wir zum Anfang dieses Textes zurückkehren: Wie kann man so dumm sein, die Gefahr zu ignorieren, die da auf uns Mitteleuropäer zukommt? Im Osten Putins imperialistische Militärmaschine, im Westen ein wackeliger Verbündeter, der sich neuen Prioritäten zuwendet oder uns sogar im Stich lässt: Wie kann man in so einer Situation nicht alles daransetzen, die eigene Sicherheit schnellstens zu erhöhen, was Stand heute nur über viel größere Investitionen in Militär, Geheimdienste und Cyberabwehr geht?

Nun denken Sie vielleicht: Wieso, der Bundeskanzler hat doch vor zweieinhalb Jahren die Zeitenwende ausgerufen! Stimmt, hat er. Passiert ist seither jedoch so wenig, dass man allenfalls von einem Zeitenwendeversuch sprechen kann. Unter dem Druck des klammen Haushalts und weil die Ampelparteien nicht mehr miteinander, sondern nur noch gegeneinander arbeiten, verläuft die großspurig angekündigte Wiederherstellung der deutschen Verteidigungsfähigkeit im Sande.

Zwei Studien des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel und des Instituts für Makrofinanzen belegen schwarz auf weiß: Die Wiederaufrüstung der Bundeswehr kommt überhaupt nicht im angemessenen Tempo voran – nicht etwa, weil Deutschland der Ukraine zu viele Waffen liefern würde, sondern weil zu wenig Geld für dringend nötige Anschaffungen bereitgestellt wird. Ein Großteil der "Zeitenwende-Milliarden" wird von der Inflation, höheren Gehältern und Pensionen aufgefressen.

Der Mangel in den Kasernen ist bestürzend: Besaß Deutschland vor 20 Jahren noch 434 Kampfflugzeuge, 2.398 Kampfpanzer und 978 Haubitzen, waren es 2021 nur noch 226 Flugzeuge, 339 Panzer und 121 Haubitzen. Der Rückstand hat sich seither kaum verkleinert, bei Luftverteidigungssystemen und mobilen Abschusseinheiten wie etwa Artillerie-Haubitzen ist er sogar größer geworden. "Der deutsche Staat hat den Verfassungsauftrag, Streitkräfte zur Verteidigung zu befähigen, in den vergangenen Jahren nicht erfüllt, erfüllt ihn heute nicht und kann ihn auch auf absehbare Zeit nicht erfüllen", heißt es in einer der Studien.

Es kommt noch dicker: Beim gegenwärtigen Beschaffungstempo würde es 40 Jahre dauern, den Bundeswehr-Bestand wieder auf das Niveau des Jahres 2004 zu hieven – bei den wichtigen Haubitzen sogar knapp hundert Jahre. 100 Jahre! Das ist weder eine Zeitenwende noch ein Zeitenwendeversuch, das ist Zeitenwendeverweigerung.

So sieht das auch der Präsident des Kieler Weltwirtschaftsinstituts, Moritz Schularick. "Die Zeitenwende ist bislang nur eine Worthülse", urteilt er und warnt: "Ein Weiter-so-wie-bisher wäre mit Blick auf Russlands Aggression fahrlässig und verantwortungslos." Frieden auf dem Kontinent werde es ausschließlich dann geben, wenn Moskau verstehe, dass es einen Angriffskrieg in Europa militärisch nicht gewinnen kann.

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Das also ist die Lage, wenn der Kanzler heute gemeinsam mit seinen französischen und britischen Kollegen dem alten Mann aus Washington begegnet: Im Fernsehen werden wir drei agile Herren sehen, die einen klapprigen Greis treffen. In Wahrheit jedoch sind die drei Jüngeren die Schwachen, und der Allerschwächste ist der Deutsche, der als Zeitenwende-Tiger lossprang und bald als Putins Bettvorleger enden könnte.

Gestatten Sie mir zum Abschluss meiner Epistel eine einfache Zahl. Manchmal macht das die Dinge klarer. 63 Prozent der Bundesbürger finden einer repräsentativen Umfrage zufolge, dass Deutschland noch mehr in die Verteidigung investieren sollte, um die Abhängigkeit von den USA zu verringern. Ob mit einer aufgeweichten Schuldenbremse oder durch Einsparungen in anderen Ministerien: Es ist höchste Zeit, dass die Regierenden endlich den Schuss hören und entsprechend handeln.


Stunde der Wahrheit

Bevor sich Olaf Scholz heute Mittag zum Lunch mit dem US-Präsidenten trifft, hat er einen anderen wichtigen Termin: Im Bundestag steht das von Innenministerin Nancy Faeser ausgehandelte Sicherheitspaket zur Abstimmung. Das Problem: Obwohl die Ampelkoalition das nach den islamistischen Messermorden in Solingen geschnürte Gesetzesbündel stark verkleinert hat, geht es einigen Abgeordneten von Grünen und SPD zu weit. Vor allem die Leistungskürzungen für Asylbewerber sind umstritten. So groß ist die Zahl der Skeptiker in den beiden Fraktionen, dass der Kanzler seine Genossen persönlich zur Disziplin aufrief und wohl indirekt mit der Vertrauensfrage drohte.

Die Opposition aus CDU und CSU dagegen, die den Gesetzentwurf zu klein geraten findet, hat einen Begriff aus dem Tagesanbruch stibitzt und spottet über das "Sicherheitspaketchen". Um die Reihen zu schließen und sicherzustellen, dass alle Abgeordneten bei der Abstimmung im Plenum sind, hat Fraktionschef Friedrich Merz sogar vor der Lesung eine Sondersitzung anberaumt. Ganz klar, hier will einer die Kanzlermehrheit testen. Sollte die am Ende wirklich nicht stehen, könnte die Ampelregierung auseinanderfliegen.


"Die Situation ist katastrophal"

Die israelische Armee schlägt unerbittlich im Gazastreifen und im Libanon zu. Ihre Geschosse treffen Terroristen wie den Hamas-Führer Jahja Sinwar, der das Massaker vom 7. Oktober 2023 plante. Sie treffen aber auch unzählige Zivilisten, darunter viele Kinder. Zwar ruft der Armeestab die Libanesen dazu auf, weite Teile ihres Heimatlandes "zu evakuieren" – völlig unklar ist jedoch, wohin die Menschen eigentlich fliehen sollen. Deshalb herrscht im Libanon ein brutales Chaos, das mir die örtliche Leiterin des UN-Kinderhilfswerks, Tess Ingram, am Telefon so geschildert hat:

"Die Situation ist katastrophal. Die israelischen Bombardements treffen das ganze Land, sowohl Beirut als auch Dörfer. Am stärksten sind der Süden und die Bekaa-Ebene betroffen. 1,2 Millionen Menschen sind auf der Flucht, ein Fünftel der Bevölkerung. Viele Leute wissen nicht, wohin sie gehen sollen. Sie campieren auf den Straßen, ziehen mit dem Nötigsten umher. Darunter sind 400.000 Kinder: Sie stehen Todesängste aus, verstehen die Situation oft gar nicht, werden für ihr ganzes Leben traumatisiert. Viele haben kein sauberes Trinkwasser und viele auch zu wenig Essen, Krankheiten wie Cholera breiten sich aus. Auch vermeintliche Schutzorte können sich als tödliche Falle entpuppen, wenn sie unvermittelt zum Ziel von Angriffen werden. Hunderttausende sind deshalb sogar ins Bürgerkriegsland Syrien geflohen. Den wichtigsten Grenzübergang haben die Israelis ebenfalls bombardiert, weshalb die entkräfteten Flüchtlinge ihn zu Fuß überqueren müssen – und nicht wissen, was sie auf der anderen Seite erwartet. Die militärischen Angriffe müssen sofort aufhören, es braucht eine politische Lösung für diesen Konflikt! Und mehr Hilfe für die Geflüchteten brauchen wir auch. Sofort."

Also: Falls Sie helfen möchten, können Sie das zum Beispiel hier oder hier tun.


Lesetipps

Unser Außenpolitikreporter Patrick Diekmann hat ein Interview mit Sigmar Gabriel geführt, das Gesprächsthema im Berliner Regierungsviertel ist. Zu Recht: Das sollte man gelesen haben.


Chinas militärische Unterstützung für Russlands Angriffskrieg in der Ukraine ist offenbar viel größer als angenommen. Jetzt greifen die USA durch, berichtet unser Korrespondent Bastian Brauns.


Warum könnte Kamala Harris das Rennen ums Weiße Haus auf den letzten Metern verlieren? Der Historiker Ronald D. Gerste erklärt im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke die Bredouille.


Ohrenschmaus

Die Woche war wild. Ich brauche was Sanftes.


Zum Schluss

Die EU-Staaten planen die ultimative Abschreckungsmaßnahme gegen Migranten.

Ich wünsche Ihnen einen grenzenlos schönen Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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