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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sigmar Gabriel kritisiert SPD "Wer soll das denn glauben?"
Wenige Wochen vor der US-Wahl steht beim Besuch von Präsident Biden in Berlin vor allem der Ukraine-Krieg im Fokus. Dabei kann auch Deutschland Lehren aus dem US-Wahlkampf ziehen. Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel kritisiert auch seine Partei.
Es ist quasi seine Abschiedstour in Europa, aber die Probleme sind so schwerwiegend, dass er die Reise wahrscheinlich kaum genießen kann. Knapp drei Wochen vor der US-Präsidentschaftswahl kommt Präsident Joe Biden am Donnerstagabend noch einmal nach Deutschland. Auf der Agenda stehen vor allem Gespräche mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Berlin, und dabei geht es vor allem um eine zentrale und vor allem schwierige Frage:
Wie kann das westliche Bündnis die Unterstützung der Ukraine sicherstellen, auch wenn Donald Trump die US-Wahl gewinnen sollte?
Der ehemalige Außenminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel sieht die USA deutlich besser gerüstet für eine mögliche weitere Amtszeit von Trump als Deutschland und andere Länder auf dem europäischen Kontinent. Auch seiner Partei attestiert er, mit Blick auf den bevorstehenden Bundestagswahlwahlkampf, auf dem falschen Kurs zu sein.
t-online: Herr Gabriel, in nicht einmal drei Wochen wählen die Vereinigten Staaten ihre neue Präsidentin oder ihren neuen Präsidenten. Wie nervös ist das transatlantische Bündnis, dass Donald Trump zurück ins Weiße Haus kommen könnte?
Sigmar Gabriel: Alle Beobachter in Europa wussten von Anfang an, dass Donald Trump – so merkwürdig das auch vielen Europäern vorkommen dürfte – eine realistische Chance auf eine zweite Amtszeit besitzt. Das ist keine Überraschung. Es ist auch möglich, dass Kamala Harris US-Präsidentin wird, der Wahlkampf ist schlicht offen. Es bleibt bei der Tendenz der letzten US-Wahlen, dass es zu sehr knappen Entscheidungen kommen wird. Es wird keine großen Wechselwähler geben, sondern eine 51:49-Entscheidung. Wer dabei gewinnt, hängt davon ab, wer die eigenen Anhänger am besten mobilisiert.
Was ist Ihre Analyse? Wie konnte es so weit kommen, dass Trump trotz seiner juristischen Probleme und trotz des Kapitol-Sturms seiner Anhänger diese Wahl gewinnen kann?
Weil viele seiner Anhänger die Anschuldigungen gegen ihn für erstunken und erlogen halten. Für sie sind das Fake News, erfunden von seinen politischen Gegnern. Dieser Teil der US-Gesellschaft sieht die Anklagen gegen Trump als Beweis dafür, dass die Demokraten den Rechtsstaat gekapert haben und dass der ehemalige Präsident ein unschuldig Verfolgter ist. Das ist zwar absurd und völliger Unsinn. Aber daran erkennt man die tiefe Spaltung der amerikanischen Gesellschaft: Mehr als die Hälfte der Anhänger der Republikaner glaubt diese Lügen.
Zur Person
Sigmar Gabriel war unter anderem Bundeswirtschaftsminister (2013–2017) und Bundesaußenminister (2017–2018). Er war von 2009 bis 2017 SPD-Vorsitzender und von 2013 bis März 2018 Vizekanzler. Gabriel wurde 2019 zum Vorsitzenden des Atlantik-Brücke e. V. gewählt.
Allerdings sind das eher die Fundamentalisten unter den Trump-Anhängern.
Genau. Man muss leider sagen, dass es die alte, konservativ-liberale und weltoffene Partei der Republikaner nicht mehr gibt. Dieses starke Fundament der amerikanischen Demokratie ist immer mehr erodiert. Viele kluge Republikaner haben aufgegeben und die Politik verlassen oder sind von Donald Trump hinausgedrängt worden. Aber man darf nicht nur auf die Parteien, sondern muss viel mehr auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA schauen.
Wie sehen die aus?
In der Erinnerung vieler Wähler waren die Lebenshaltungskosten in seiner ersten Amtszeit niedriger und die Wirtschaft der USA brummte. Ob das wirklich auf Donald Trumps Politik zurückzuführen war, ist dabei nicht so wichtig. Die Menschen hören zwar, wie gut es der Wirtschaft unter US-Präsident Joe Biden gehe, doch sie merken vor allem, dass die Preise beim Einkauf von Lebensmitteln oder die Hypotheken ihrer Häuser immer weiter steigen. So nehmen viele Amerikanerinnen und Amerikaner die wirtschaftliche Entwicklung nicht positiv wahr. Im Gegenteil. Und da hat Bill Clintons Rat für Wahlkämpfe nichts an Gültigkeit verloren: "It’s the economy, stupid!"
Wie groß sehen Sie derzeit die Gefahr, dass die innenpolitische Spaltung der USA in Gewalt zwischen den politischen Lagern umschlagen könnte?
Ganz sicher wird es nach der Wahl einen heftigen Streit darüber geben, wie fair alles abgelaufen ist – oder ob es Wahlfälschungen gab. Wir werden nicht nur ein knappes Ergebnis erleben, sondern vermutlich auch wieder, dass die Mehrheit der abgegebenen Stimmen nicht dazu führt, dass die oder der entsprechende Kandidat beziehungsweise Kandidatin auch die Mehrheit im Wahlmännergremium, dem Electoral College, hat. Diese Besonderheit des amerikanischen Wahlsystems hat schon früher zu Konflikten geführt. In der aufgeheizten Stimmung kann das zur schweren Belastung für die Regierungsbildung in den USA werden.
Mit welchen Folgen?
Möglicherweise geht die wirkliche Gefahr dieser Wahl nicht davon aus, wer ins Weiße Haus kommt, sondern von der Wahl selbst. Sie wird die Spaltung der USA aller Voraussicht nach weiter vertiefen. Ob das auch erneut Gewalt zur Folge haben wird, darüber möchte ich nicht spekulieren. Aber es ist schon schlimm genug, wenn die einzige westliche Supermacht ein Totalausfall wird, weil sie sich innenpolitisch völlig verhakt und damit außenpolitisch handlungsunfähig wird. Das wird die autoritären Mächte dieser Welt erfreuen und ist letztlich eine ziemliche Gefahr für die Stabilität in der Welt.
Wie frustrierend wäre das für Sie persönlich? Immerhin soll die Atlantikbrücke die Zusammenarbeit zwischen Amerika und Deutschland fördern. Nun ist Trump aber dafür bekannt, ebendiese Brücken in Brand zu setzen.
Ich gehöre nicht zu diesen Untergangsanbetern, die mit Trump das Ende des Abendlandes kommen sehen. Auch er würde nur vier Jahre regieren. Es wird wieder unruhiger mit ihm und gerade für Deutschland und Europa auch deutlich schwieriger, weil er seinen Handelskonflikt mit uns wiederbeleben wird. Und er wird unsere verteidigungspolitische Abhängigkeit von den USA einsetzen, um uns in seiner Anti-China-Politik auf seine Linie einzuschwören. China könnte unser neues "Nord Stream 2"-Problem mit den USA werden.
Das klingt allerdings ungemütlich für Deutschland.
Ja. Aber es gibt auch bei Donald Trump Leitplanken, die ihn schon in der Vergangenheit korrigiert haben: Sobald seine Entscheidungen wirtschaftlichen Schaden in den USA anrichten, wird er sie verändern. Und sein Protektionismus kann sehr großen Schaden für die US-Wirtschaft anrichten: Im Inland werden die Produkte teurer und im Export wird die US-Wirtschaft unter Druck geraten. Nichts ist also in Stein gemeißelt, und deshalb ist europäisches Selbstbewusstsein im Umgang mit den USA wichtig – besonders wenn Trump erneut Präsident werden sollte.
Welche Folgen würde seine Wahl für das westliche Verteidigungsbündnis haben?
Trump könnte die Nato erneut infrage stellen, und genau das müssen wir auch von ihm erwarten. Für uns als Europäer wird das außerordentlich unangenehm. Denn die Nato lebt in erster Linie nicht von Panzern und Flugzeugen, sondern von ihrem Zusammenhalt. Potenzielle Gegner wissen, dass es eine Beistandsbekundung gibt, wenn sie ein Nato-Mitglied angreifen. Sollte Trump daran Zweifel zulassen, dass die USA zu diesem Beistand nach wie vor uneingeschränkt bereit sind, wird etwa Wladimir Putin uns testen.
Sollte Trump daran Zweifel zulassen, dass die USA zu diesem Beistand nach wie vor uneingeschränkt bereit sind, wird etwa Wladimir Putin uns testen.
Sigmar Gabriel
Was meinen Sie mit "testen"?
Am Anfang wird Putin seine militärischen Bedrohungsszenarien am Rand der Nato durchführen, weil wir da am meisten verunsichert sind, was wir tun sollen, etwa in Moldawien, in Georgien, im Balkan oder auch im Nahen Osten und in Lateinamerika. Denn er will dem Westen, den er für dekadent und im Abstieg begriffen sieht, auf ganzer Front entgegentreten. Dann aber wird er es möglicherweise auch bei einem kleineren Nato-Mitgliedsstaat versuchen. Die Esten haben davor erhebliche Sorgen. Und wir müssen für diesen Test gar nicht bis in die USA schauen, sondern können das im eigenen Land ja mal prüfen. Sind wir Deutschen eigentlich bereit, den Artikel 5 des Nato-Vertrages, also den Beistandspakt, laut auszusprechen? Dessen alltagssprachliche Übersetzung lautet nämlich: "Ich bin bereit, mein Leben für die Freiheit meines Nachbarn einzusetzen." Ist die Zeitenwende bei uns wirklich angekommen?
Wie lautet Ihre Antwort?
Mein Eindruck ist, dass wir von dem Selbstbehauptungswillen, uns durch militärische Drohungen nicht einschüchtern zu lassen, noch weit entfernt sind. Wir geben uns der Illusion hin, es gehe "nur" um die Ukraine. Nein, es geht um weit mehr, und die Ukraine wäre erst der Anfang, wenn sie diesen Krieg verlieren würde. Und Wladimir Putin kennt unsere Schwächen sehr genau.
Wie gut sind Deutschland und Europa mittlerweile auf ein solches Szenario vorbereitet?
Deutschland und Europa sind schlecht vorbereitet – und das nicht nur in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Militärisch sind wir weit davon entfernt, annähernd die Fähigkeiten der Vereinigten Staaten zu haben. Man sollte jetzt keine Wunder erwarten. Aber wir sind auch ökonomisch nicht vorbereitet.
Das müssen Sie erklären.
Wenn es für Deutschland und für Europa im Handel mit den USA und letztlich auch mit China schwieriger wird, dann wäre es ja sinnvoll, nach Alternativen zu suchen. Aber auch da tut sich wenig bis gar nichts. Ein mit Südamerika ausgehandeltes Freihandelsabkommen lassen wir seit 20 Jahren liegen, weil die Länder in diesem Teil der Welt unsere Sozial- und Umweltstandards nicht sofort erfüllen können. Ähnlich verhalten wir uns mit Afrika. Anschließend wundern wir uns, dass China uns in diesen Ländern den Rang abzulaufen droht. Wir beklagen uns immer über andere, sind aber nicht in der Lage, selbst pragmatisch unsere Interessen zu vertreten. Wir laufen immer nur normativ durch die Welt und erklären anderen, was sie zu tun hätten. Da darf man sich nicht wundern, wenn die sich dann andere Partner suchen.
Wir laufen immer nur normativ durch die Welt und erklären anderen, was sie zu tun hätten. Da darf man sich nicht wundern, wenn die sich dann andere Partner suchen.
Sigmar Gabriel
Wäre die Gefahr des Protektionismus für Deutschlands Wirtschaft mit der Wahl Kamala Harris‘ gebannt?
Der Protektionismus der USA hat nicht mit Trump angefangen, und er ist auch nicht mit seiner Präsidentschaft zu Ende gegangen. Unter Harris würde dieser Kurs fortgeführt, unter Trump zusätzlich verschärft. Deutschland und Europa haben das bis heute nicht verstanden. Es rächt sich jetzt, dass wir zwischen 2013 und 2017 die letzte große Chance für ein Freihandelsabkommen mit US-Präsident Obama in den Wind geschlagen haben. Es war abenteuerlich, mit welcher Unkenntnis und welchen Vorurteilen damals eine öffentliche Stimmungsmache gegen dieses Freihandelsabkommen betrieben wurde. Ganze Kirchentage haben den Quatsch mit der Einfuhr von Chlorhühnchen und dem Ende unseres Sozialstaates geglaubt, den damals vor allem die Grünen verbreitet haben. Wir gefallen uns lieber in der Rolle, anderen zu erklären, wie sie bitte leben und wirtschaften sollen, und erklären das zur "wertebasierten Außenpolitik." Gut wäre es, wenn wir uns nicht nur zu unseren Werten, sondern auch zu unseren Interessen bekennen würden.
Nun kommt US-Präsident Joe Biden ein letztes Mal nach Deutschland. Hat seine Amtszeit nicht auch gezeigt, dass Europa und Amerika im Angesicht der globalen Verwerfungen noch eng zusammenarbeiten können?
Selbstverständlich. Sie dürfen nicht vergessen, dass es der Zusammenarbeit zwischen Europa und Joe Biden zu verdanken ist, dass die Ukraine nicht inzwischen von Russland besetzt ist. Ein deutlicheres Zeichen für die Funktionalität der transatlantischen Beziehungen sehe ich nicht.
Wird Trump bei einem Wahlsieg die Ukraine zu einem für sie nachteiligen Friedensschluss zwingen?
Das kann sein, aber Trump ist unberechenbar. Es kann auch gut sein, dass er die Ukraine-Unterstützung verdoppelt, wenn Putin einen von ihm gemachten Vorschlag nicht akzeptiert. Beides ist möglich.
Birgt Bidens Europareise noch einmal eine Chance, die Unterstützung der Ukraine zu stärken, bevor Trump möglicherweise die Wahl gewinnt?
Ich glaube nicht, dass das der Hintergrund der Biden-Reise ist. Unabhängig vom Ausgang der US-Wahl wird es wahrscheinlich kein weiteres Hilfspaket der Amerikaner im Umfang von 60 Milliarden US-Dollar geben. Biden könnte in Europa über die Frage sprechen wollen, wie dieser Krieg zu einem Stillstand kommen könnte. Das ist nicht einfach, weil Putin kein Kriegsende will.
Und die Ukraine?
Dieser Krieg wird nicht mit dem Sieg einer Partei enden. Russland wird nicht die komplette Ukraine zu einem Vasallenstaat machen. Für die Ukraine wiederum wird es darum gehen, welche Sicherheitsgarantien Kiew bei möglichen Verhandlungen erhalten kann. Denn es ist vorherzusehen, dass die Ukraine die Souveränität über einen Teil ihres Staatsgebietes nicht zurückerhalten wird.
Das hängt von der westlichen Unterstützung ab. Auch bei möglichen Sicherheitsgarantien wären vor allem die Amerikaner gefragt.
Nein. Auch die Europäer werden hier etwas leisten müssen, und das würde nebenbei auch die Dynamik dieses Konfliktes verändern.
Inwiefern?
Momentan verurteilen einige Länder des Globalen Südens den russischen Angriff auf die Ukraine nicht, weil sie den Ukraine-Krieg für eine Auseinandersetzung der zwei alten großen Imperialisten halten – also zwischen den USA und Russland. In der Sekunde, in der die Europäer bereit wären, auch Garantien für die Sicherheit der Ukraine zu übernehmen, könnte sich diese Sichtweise des Globalen Südens auf den Konflikt ändern. Dann gäbe es die Chance, dass im Falle eines partiellen Gebietsverlustes der Ukraine auch Forderungen an Russland gestellt werden. Russland würde sehr unter Druck geraten, wenn Indien, Südafrika, Lateinamerika oder sogar China ihre bislang neutrale Haltung zumindest teilweise aufgeben würden. Diese Länder leiden ja auch unter dem Krieg, denn sie bekommen weder Weizen noch Düngemittel aus der Ukraine.
Aber müsste das westliche Bündnis die Ukraine nicht vorher stärken, um Putin überhaupt an den Verhandlungstisch zu bekommen?
Der Meinung bin ich absolut. Die USA wollen etwa noch immer der Ukraine nicht erlauben, mit ihren weitreichenden Waffen Ziele im russischen Staatsgebiet anzugreifen. Aber auch Russlands Stärke ist begrenzt, und ich denke nicht, dass wir so ängstlich sein müssen. Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Putin will nicht nur die Ukraine, sondern er will dem in seinen Augen dekadenten Westen überall dort entgegentreten, wo es möglich ist. Es gibt Menschen in Deutschland, die die Ukraine dazu auffordern, Teile ihres Staatsgebietes aufzugeben, damit endlich Ruhe einkehrt. Das ist eine zynische Haltung, weil sie Putin dazu einlädt, es an anderen Stellen erneut zu probieren, wenn er seine Armee erneut in eine bessere Verfassung gebracht hat.
Olaf Scholz ist jedenfalls für Überraschungen gut.
Sigmar Gabriel
Die geopolitischen Konflikte beeinflussen auch die politische Debatte in Deutschland. Welche Lehren sollte Ihre Partei mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl aus dem US-Wahlkampf ziehen?
Ich habe den Eindruck, dass die großen außenpolitischen Fragen weniger eine Rolle spielen. Und, dass meine Partei sich vor den schwierigen Fragen eher wegduckt. Sie zieht sich lieber in die sozialdemokratische Wärmestube zurück. Anders sind die aktuellen Beschlüsse der SPD über unrealistische Versprechungen in der Steuerpolitik für mich nicht zu erklären. Wer interessiert sich angesichts von Krieg in Europa, wachsender Aggression Russlands im Cyberbereich gegen Deutschland, einer wirtschaftlichen Rezession und einer damit im Zusammenhang stehenden schleichenden Deindustrialisierung eigentlich für Mini-Steuersenkungen? Jeden Tag streitet die Ampelkoalition über fehlendes Geld, und die SPD kommt daher und verspricht Steuersenkungen. Wer soll das denn glauben?
Sie meinen die Steuerpläne der SPD für den Wahlkampf, die auch vorsehen, die Einkommenssteuer für Reiche zu erhöhen. Ist das für eine sozialdemokratische Partei nicht angemessen: Den Reichen nehmen, allen anderen geben?
Ich habe nichts dagegen, große Einkommen höher zu besteuern. Aber wer den Menschen verspricht, dass man mit einer "mäßigen" Steuererhöhung für das eine Prozent der "Reichen" am Ende 95 Prozent der Steuerpflichtigen entlasten kann, der muss bei den Grundrechenarten nicht aufgepasst haben. Das geht rechnerisch nicht auf: 400.000 Steuerpflichtige sollten also 41 Millionen Lohn- und Einkommensteuerzahler entlasten. Da kommt bei einer 10-prozentigen Erhöhung der "Reichensteuer" ein Betrag von 8 Milliarden Euro raus. Verteilt man den an die 95 Prozent der Steuerpflichtigen, ergibt das eine Entlastung von 55 Cent pro Tag. Das ist doch blanker Unsinn.
Auf welche Themen sollte Ihre Partei stattdessen setzen?
Ich halte die aktuellen Pläne für einen Fluchtversuch vor den wirklich schwierigen politischen Themen: Migration, innere Sicherheit, Energiepolitik, wirtschaftliche Rezession, massiver Qualitätsverlust in unserem Schulsystem oder auch vor den geopolitischen Herausforderungen. Sie können eine Reichensteuer machen, aber dann geben Sie das Geld doch bitte dort aus, wo es am dringendsten benötigt wird. Zum Beispiel in der Bildung. Wir werden jedes Jahr in den internationalen Vergleichen schlechter, jammern über den Fachkräftemangel, machen aber überhaupt nichts dagegen. Hinzu kommt: Die aktuelle Bundesregierung bekommt keinen Haushalt hin und die SPD kommt nun mit Steuersenkungsversprechen daher.
Sie glauben also nicht, dass die SPD mit dieser Strategie im Wahlkampf punkten kann?
Nein. Die Erhöhung des Mindestlohns, die ja auch versprochen wurde, ist allerdings richtig. Nur: Das ersetzt keine mutige Politik in all den anderen genannten Feldern. Aber vielleicht kommt das ja noch. Olaf Scholz ist jedenfalls für Überraschungen gut.
Sie haben in den vergangenen Monaten immer wieder gefordert, dass die Bundesregierung und ihre Partei bei schwierigen Themen besser kommuniziert – etwa im Bereich der Migration. Warum macht Bundeskanzler Olaf Scholz das nicht?
Ich halte ihn für einen klugen Menschen, der bestimmt weiß, was erforderlich ist. Deswegen bin ich mir sicher, dass der Bundeskanzler auch einen Weg finden wird, um den am Wochenende beschlossenen Steuerunsinn meiner SPD nicht zum Gegenstand im Wahlkampf zu machen.
Also halten Sie Olaf Scholz noch für den richtigen Kanzlerkandidaten der SPD?
Wenn jemand Kanzler ist, dann ist er auch der nächste Kanzlerkandidat. Es sei denn, er will nicht mehr. Aber davon gehe ich bei Olaf Scholz nicht aus.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gabriel.
- Gespräch mit Sigmar Gabriel