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Landtagswahlen in Thüringen & Sachsen: Ein gefährlicher Fehler


Tagesanbruch
Ein gefährlicher Fehler

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 02.09.2024Lesedauer: 5 Min.
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Thüringer Politiker Björn Höcke (AfD), Mario Voigt (CDU), Katja Wolf (BSW) am Wahlabend.Vergrößern des Bildes
Thüringer Politiker Björn Höcke (AfD), Mario Voigt (CDU), Katja Wolf (BSW) am Wahlabend. (Quelle: Michael Kappeler/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

doch, es ist ein guter Morgen! Die Sonne scheint (jedenfalls vielerorts), Deutschland ist immer noch demokratisch und der Staat mitnichten zusammengebrochen (auch wenn manche das gern hätten). Gönnen Sie sich also noch ein Tässchen Kaffee oder Tee und dann lassen Sie uns betrachten, welche Folgen der gestrige Wahlsonntag hat.

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Die Bürger in Thüringen und Sachsen haben gewählt, und abgesehen von individuellen Präferenzen sind ihre zwei wichtigsten Botschaften glasklar: Sie haben erstens der Ampelregierung in Berlin den Mittelfinger gezeigt. Die SPD auf mickrige Prozentchen gestutzt, die Grünen nun mit weniger Zustimmung als ein Karnickelzüchterverein, die FDP vorläufig beerdigt: 4,2 Millionen Ostdeutsche haben der bundesweit grassierenden Wut über die verkorkste Koalition in Berlin deftig Ausdruck verliehen. Diese Ohrfeige wird auch der notorisch coole Kanzler nicht einfach verschmerzen können, zumal es nun in seiner SPD zu rumoren beginnt (hier lesen Sie die Analyse unserer Reporter).

Die zweite Botschaft ist alarmierender: Rund die Hälfte der Wähler hat sich vom etablierten Parteiensystem abgewandt und entweder für eine feiste Neonazi-Truppe oder einen zweifelhaften Wundertütenverein gestimmt. Das ist dramatisch. Nicht, weil jeder AfD-Wähler ein Rechtsradikaler ist, natürlich nicht. Aber dass der Thüringer Extremist Björn Höcke mit seinem Kampfverband und die blauen Kohorten in Sachsen nun mit noch mehr Einfluss und noch mehr Steuergeld aus den Parlamenten heraus die Demokratie bekämpfen können, das muss jeden aufrechten Bürger bestürzen. Obendrein finden viele Tausend Wähler nichts Verwerfliches daran, ihre kostbare Stimme auf gut Glück für Sahra Wagenknechts Selbstdarstellungsbündnis rauszuhauen, obwohl sie weder wissen können, was genau sie dafür bekommen, noch wer da künftig welche Strippen zieht (der Thüringer BSW-Landesverband hat 80 Mitglieder, der sächsische 70). Aus Frust über etablierte Parteien einfach mal Extremisten und Populisten zur Macht verhelfen: Eigentlich hatte man angenommen, diesen gefährlichen Fehler würden die Deutschen aus triftigen Gründen nicht noch einmal begehen.

Die Annahme ist offensichtlich überholt. 79 Jahre nach dem Ende der Hitlerei beschert ein deutsches Wahlvolk erstmals wieder einer menschenverachtenden Partei den Sieg. Man muss diesen Satz zweimal lesen, um zu erahnen, was er bei jüdischen Mitbürgern, bei Deutschen mit Migrationshintergrund, aber auch in Paris, Warschau und den anderen Hauptstädten der Nachbarländer auslösen kann.

Natürlich lassen sich Gründe für das ostdeutsche Wahldrama finden. Es lassen sich ja immer Gründe für alles Mögliche finden. Individuell können sie an der Wahlurne ganz unterschiedlich sein. Persönliche Kränkungen. Angst vor Wohlstandsverlust. Wut über echte oder angebliche Ungerechtigkeiten. Ärger über die Ampelpolitik. Unbehagen angesichts der freizügigen Migrationspraxis. Verklärung der DDR-Vergangenheit. Eine teils aufrichtige, teils naive Sehnsucht nach Frieden in der Ukraine. Atemberaubende Leichtgläubigkeit gegenüber populistischen Tricksern. Egoistische Empathielosigkeit gegenüber allen, die Hilfe bedürfen. Und bei nicht wenigen auch eiskalter Rassismus und die Sehnsucht nach einem starken "Führer".

Wer aus übergeordneter Sicht auf die politischen Verschiebungen blickt, vermag in der ostdeutschen Wahl-Eruption jedoch zugleich den Ausdruck einer gesamtdeutschen Entwicklung sehen: Weil immer mehr Krisen in immer kürzeren Abständen die Menschen überfordern, schwindet quer durch alle Milieus das Vertrauen in die etablierten Parteien und die Problemlösungskompetenz der staatlichen Institutionen. Ein dumpfes Überforderungsgefühl macht sich in der Gesellschaft breit. Noch sind wir weit entfernt von Zuständen wie in Frankreich oder gar in den USA. Doch es ist kein Naturgesetz, dass dies so bleibt. Wer will, dass sich die deutsche Demokratie stark, vielfältig und tolerant behauptet: Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, sich zu engagieren. Nur dann ist dieser Morgen wirklich gut.


Zitat des Tages

Der AfD Landesverband Thüringen ist (…) eine erwiesen rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Der Landesverband vertritt seit Jahren Positionen, die sich gegen die Menschenwürde, gegen das Demokratie- und gegen das Rechtsstaatsprinzip richten. (…) Die verfassungsfeindlichen Positionen, die sich in ziel- und zweckgerichteter Weise gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richten, [gelten] als die beherrschende und weitgehend unumstrittene politische Ideologie innerhalb des Landesverbandes.


Zahl des Tages

60 Prozent der Befragten fänden es einer ARD-Umfrage in Thüringen zufolge "nicht gut", wenn die AfD an der Landesregierung beteiligt wäre.


Saufen und schimpfen

Nicht nur AfD-, auch manche Unionspolitiker haben das islamistische Messerattentat von Solingen in den vergangenen Tagen für einen populistischen Überbietungswettbewerb missbraucht. Einer hat sich dabei besonders hervorgetan: Mit seiner Forderung, den individuellen Anspruch auf Asyl abzuschaffen und nur noch solche Verfolgte aufzunehmen, die Deutschland sich leisten möchte, kratzt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder nicht nur am Grundgesetz. Er positioniert sich auch außerhalb aller humanistischen Wertvorstellungen, die bislang als Konsens galten.

Wenn heute auf dem Gillamoos-Jahrmarkt im bayerischen Abensberg der traditionelle politische Frühschoppen steigt, muss der Möchtegern-Kanzlerkandidat den Ton also gar nicht mehr bierzeltmäßig zuspitzen. Er kann einfach eine ganz normale Söder-Rede halten und braucht auch bei seinem allfälligen Grünen-Bashing keine Rücksichten zu nehmen: Als Unterstützer hat er sich den hessischen CDU-Ministerpräsidenten Boris Rhein eingeladen, der Schwarz-Grün in Wiesbaden beerdigt hat und dort seit Jahresbeginn mit der SPD regiert. Bleibt nur noch abzuwarten, ob dem Gast eine ähnlich derbe Sentenz gelingt wie seinem Parteichef Friedrich Merz im vergangenen Jahr: Erinnern Sie sich?


Auf nach Asien

Fast ein Jahr lang hat er Italien nicht verlassen, heute jedoch bricht Papst Franziskus zu seiner bislang längsten Auslandsreise auf: Der 87 Jahre alte, gesundheitlich angeschlagene Pontifex will in den kommenden zwölf Tagen vier Länder in Südostasien und Ozeanien besuchen, wird dabei zigtausende Flugkilometer zurücklegen und gut 43 Stunden in der Luft sein. Zum Auftakt wird er in Indonesien erwartet, wo in Jakarta eine Stadion-Messe geplant ist, weitere Stationen sind Papua-Neuguinea, Osttimor und Singapur.

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Thematisch steht die Beziehung der katholischen Kirche zum Islam im Vordergrund – Indonesien ist das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt. Nur in Osttimor ist die Bevölkerung mehrheitlich katholischen Glaubens. Mit Spannung wird erwartet, ob Franziskus in Singapur die dort praktizierte Todesstrafe anspricht.


Lesetipps


Sperrminorität: Sowohl in Sachsen als auch in Thüringen ist die AfD nun so stark, dass sie die demokratischen Prozesse stark beeinträchtigen kann.


Israels Armee hat sechs Geiseln aus Gaza tot geborgen – offenbar lebten sie kurz zuvor noch. Der Druck auf Premier Netanyahu steigt, schreiben die ARD-Kollegen.


Ohrenschmaus

Was braucht es nach so einem Sonntag? Eine große Portion Aufmunterung!


Zum Schluss

Der SPD-Kanzler hat immer recht.

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Wochenbeginn. Morgen kommt der Tagesanbruch von Annika Leister.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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