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Johann Wolfgang von Goethe | Zum 275. Geburtstag: Das Genie spricht wieder


Meinung
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Tagesanbruch
Das Genie spricht wieder

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 28.08.2024Lesedauer: 6 Min.
Abguss der rechten Hand des Genies aus dem Jahr 1820.Vergrößern des Bildes
Abguss der rechten Hand des Genies aus dem Jahr 1820. (Quelle: imago images)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

zweihunnertfünfunsiebzisch Johr sinn e lange Zeit, ge? Do fließt viel Wasser den Main runna. Oh, Augenblick, ich verlege mich wohl lieber auf die deutsche Hochsprache, es sind ja ehrwürdige Leser, die dieser Postille frönen. Der, der hier für gewöhnlich schreibt, hat mir für diesen besonderen Tag seinen Platz überlassen. Erst sträubte ich mich, wer will schon von einem Toten lesen? Aber dann erinnerte ich, was mir schon in meinen besten Jahren als Leitsatz diente: Das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht. Treffend, denken Sie nicht auch? Ich hatte schon immer ein Händchen für Worte, so heißt es heute doch, ge? Nun denn, ich will diese Gelegenheit beim Schopfe packen und angelegentlich von mir berichten. Versprochen sei: Ich mühe mich so zu formulieren, wie ihr Heutigen es tut.

Ihr lebt ja in einer ständigen Unruh, alle Stund geschieht etwas! Dass euch über all den Nachrichten aus der Welt der Kopf nicht wirr wird, erstaunt mich schon. Aber es ist nicht so, dass vor 275 Jahren gar nichts vor sich gegangen wäre in der Welt. Auch die Zeit meiner Geburt ist ereignisreich gewesen. Friedrich der Große. Der Österreichische Erbfolgekrieg. Der Siebenjährige Krieg. Später die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und natürlich die Französische Revolution, die alles verändert hat.

In eine Zeit der Umbrüche wurde ich hineingeboren. Der Herr Vater war wohlgebildet und begütert, aber auch gestreng. Ein Mann eiserner Grundsätze. Muttchen war warm. Reich gesegnet an Humor und Fantasie. So habe ich von beiden das Beste geerbt: die Disziplin und den Frohsinn. Beim Schreiben hat mir das später geholfen. Die Leidenschaft des Werthers hätt ich nie ohne die Begeisterungsfähigkeit der Mutter zu Papier bringen können. "Dichtung und Wahrheit" hätt ich nicht ohne Vaters Selbstbeherrschung zuwege gebracht. Aber den Funken der Genialität, den musste ich selbst in die Worte hineinpflanzen. Das vermochte ja keiner so zu tun wie ich. Na ja, der Frieder, der war auch ziemlich gut. Mein lieber Freund aus Schwaben, leider viel zu früh gestorben. Auch ein Meister der deutschen Sprache. Seinen Schädel hatte ich auf dem Schreibtisch stehen, aber lieber war er mir lebendig.

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Nur drei Menschen habe ich bei Lebzeiten getroffen, die ähnlich hoch emporzustreben vermochten wie ich. Neben dem Frieder das Wunderkind aus Salzburg. Am 18. August 1763 in Frankfurt war das. Ich war 14, er erst 7. Wie er da in den Saal geführt wurde, gepudert und verhätschelt, mit einem Zierdegen an der Hüfte: ein kleiner Geck! Aber dann hat er gespielt. Die Fiedel erst, dann das Piano. Virtuos! Die Klaviertasten mit einem Tuch verdeckt! Das Publikum tobte, so sagt ihr doch? Eine Erscheinung. Ein Wunder, das nicht zu erklären ist. Mozart hätte den "Faust" komponieren müssen.

Und der Dritte? Natürlich Bonaparte. Ein Mann von kleiner Gestalt, aber ein Riese als Person! Am 2. Oktober 1808 war das, in Erfurt, er und ich oder besser ich und er: Zwei Männer, die jeder auf seine Weise ihr Zeitalter geprägt haben. Er sprach mich auf den Werther an, immer nur diese Werther-Geschichte, das hat mich schon ein wenig verstimmt. Ich war doch längst über den Sturm und Drang hinaus, ich war ja schon längst Europas größter Dichter. Nun gut. Um Epoche in der Welt zu machen, dazu gehören bekanntlich zwei Dinge: erstens, dass man ein guter Kopf sei, und zweitens, dass man eine große Erbschaft tue. So besehen bin ich geistig mein eigener Erbe.

In formalen Dingen war er allerdings unaufmerksam, der französische Kaiser. Nannte mich "Monsieur Göt". Als ich später der Christiane davon erzählte, hat sie laut gelacht. Überhaupt die Christiane, die war mir die liebste von allen Frauen. Bei ihr war mir warm, selbst wenn die Welt sich kalt zeigte. Mehrere Kinder hat sie mir geboren, nur der August hat überlebt. Die armen Kleinen. Wir haben viel geweint.

Aber die Trauer hat mein Gemüt nicht nur getrübt. Sie hat mich auch stärker gemacht. Wie sonst hätte ich mir den "Faust" abringen können? 75.942 Wörter feinste deutsche Dichtkunst, wer sonst hätte so ein Jahrtausendwerk vollbringen können? Der Weg des Menschen aus der Verworrenheit des Lebens zur Erkenntnis der göttlichen Bestimmung: Ist es nicht das, was uns im Kern alle eint? Jeder will doch an etwas glauben, will doch schaffen und wirken – oder "sich verwirklichen", wie ihr Heutigen es nennt.

Mir scheint, es ist an der Zeit, euch daran zu erinnern. Wenn ich euch so von hier oben betrachte, dünkt mir, dass ihr zu viel Zeit mit Belanglosigkeiten, Zwist und Tand verbringt. Strebt doch nach Höherem! Fragt euch doch, was nicht nur eurer Eitelkeit und eurer Zerstreuung dient, sondern was euch und andere Menschen wirklich glücklich macht, was die Welt zu dem Paradies erheben mag, nach dem ihr alle euch sehnt!

Das ist es, was ich euch an meinem 275. Geburtstag wünsche. Denkt an meine Worte, sie gelten für jeden, der auf Erden wandelt: Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!

So lebt denn wohl,

Euer J. W. v. Goethe (in höheren Gefilden weilend)


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Ohrenschmaus

Wenn der Johann Wolfgang aus Frankfurt den Wolfgang Amadeus aus Wien in den Himmel lobt, was will man dann hören? Eben.


Schlag gegen die Hassschleuder

Verbreitung von Desinformation und Verschwörungstheorien, Beihilfe zu Terrorismus, Kinderpornografie, Drogen- und Waffenhandel: Die Liste der Vorwürfe gegen den Messenger-Dienst Telegram ist lang. Der Terrorismusexperte Peter Neumann vertritt sogar die These, es gebe weltweit kein Verbrechen, das nicht über Telegram koordiniert werde. Dennoch war es eine Überraschung, dass die französischen Ermittlungsbehörden den milliardenschweren russischen Gründer der Plattform, Pawel Durow, am vergangenen Samstag kurzerhand festnahmen, als dieser mit einem Privatjet aus Aserbaidschan kommend in Paris landete. Seither sitzt der 39-Jährige, der seit einigen Jahren in Dubai lebt und neben der russischen auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt, in Untersuchungshaft – die bis heute Abend verlängert wurde.

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Spannend ist die Frage, wie es nun weitergeht: Wird die Justiz nach der Befragung tatsächlich Anklage erheben – oder den schillernden Unternehmer nach der kleinen Machtdemonstration wieder in die Freiheit entlassen? Das Beste wäre ein Gerichtsprozess mit Signalwirkung, der klipp und klar beweisen würde, wie Telegram und sein CEO gegen Gesetze verstoßen.


Willkommener Besuch

Sein konservativer Vorgänger Rishi Sunak hatte 18 Monate für seinen Antrittsbesuch in Berlin gebraucht – der neue britische Premierminister Keir Starmer kommt bereits nach sieben Wochen: Um 10 Uhr empfängt Kanzler Olaf Scholz seinen Londoner Amtskollegen mit militärischen Ehren, anschließend soll es um neue Impulse für die deutsch-britischen Beziehungen gehen. Die beiden Politiker, die derselben europäischen Parteienfamilie angehören und sich schon beim Nato-Gipfel in Washington und beim Europa-Gipfel in Südengland getroffen haben, sollen sich nicht nur bestens verstehen, sondern stehen auch ähnlichen Problemlagen gegenüber: Der Sozialdemokrat aus 10 Downing Street hat seine Landsleute gerade auf "schmerzhafte Einschnitte im neuen Staatshaushalt" vorbereitet, in dem "ein schwarzes Loch von 22 Milliarden Pfund" klaffe. Das dürfte dem Kanzler bekannt vorkommen.


Start der Paralympics

Eine spektakuläre Party auf den Champs-Élysées, die sich in Richtung Place de la Concorde bewegt, eröffnet heute die Paralympischen Sommerspiele in Paris. Mehr als 4.400 Athleten kämpfen in der französischen Hauptstadt um 549 Gold-, Silber und Bronzemedaillen. Das deutsche Team wird von der Kanutin Edina Müller und dem Triathleten Martin Schulz angeführt. Das ZDF überträgt live.


Lesetipps

Die Asylpolitik der Bundesregierung steht nach den Morden von Solingen stark in der Kritik. Neue Daten, die unseren Reportern Annika Leister und Lars Wienand vorliegen, zeigen: In diesem Jahr sind schon Zigtausende Abschiebungen gescheitert – so wie im Fall des Solinger Täters häufig kurzfristig.


Kassem Taher Saleh kam als Flüchtling nach Sachsen, heute sitzt er für die Grünen im Bundestag. Über Sachsen spricht er gern, über die AfD eher weniger. Geht das überhaupt? Mein Kollege Johannes Bebermeier porträtiert einen ungewöhnlichen Politiker.


Nach dem Anschlag von Solingen meiden viele Menschen aus Angst die Öffentlichkeit. Mein Kollege Amir Selim hält das für die falsche Reaktion.


Die russische Luftwaffe greift massiv zivile Infrastruktur in der Ukraine an. Experten sehen darin Racheaktionen für die ukrainische Offensive in Kursk. Doch dieser Schuss könnte für Putin nach hinten losgehen, schreibt unser Außenpolitikredakteur Patrick Diekmann.


Zum Schluss

Ich wünsche Ihnen einen heiteren Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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