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Scholz hat seine Autorität verloren. Wechselt SPD zum beliebten Pistorius?


Tagesanbruch
Das wäre eine handfeste Überraschung

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 27.08.2024Lesedauer: 6 Min.
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Boris Pistorius gilt vielen in der SPD als heimlicher Hoffnungsträger.Vergrößern des Bildes
Boris Pistorius gilt vielen in der SPD als heimlicher Hoffnungsträger. (Quelle: Ezra Acayan/Getty Images/dpa)

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Was tut ein Rennstallbesitzer, wenn er merkt, dass sein Rennwagen nicht mehr zieht? Richtig: Er beordert den Fahrer in die Boxengasse, lässt den Motor checken, die Räder wechseln, dann volltanken und mit Karacho wieder raus auf die Piste! Was aber macht so ein Rennstallbesitzer, wenn er feststellt, dass sein Flitzer trotz kompetenter Betreuung der Mechaniker, trotz Poleposition und trotz schwächelnder Konkurrenten einfach nicht auf Touren kommt? Dass er stattdessen immer langsamer wird, komische Signale von sich gibt, einen Konkurrenten nach dem anderen vorbeiziehen lässt, die Zuschauer enttäuscht? Richtig, dann wird der Rennstallbesitzer den Fahrer wechseln.

Womit wir auf unserer morgendlichen Spritztour im Kanzleramt angekommen sind. Immer mehr SPD-Mitglieder – Abgeordnete ebenso wie einfache Genossen – haben den Eindruck: In ihrem politischen Rennmobil sitzt ein Fahrer, der einfach nicht fahren kann. Der zwar ständig verspricht, endlich Gas zu geben, aber stattdessen im Zickzack über die Piste schlingert und einen Crash nach dem anderen verursacht. Der Autoritätsverfall des Olaf Scholz ist förmlich mit Händen zu greifen. Drei Jahre lang haben ihm die Genossen jedes Durchhalteversprechen geglaubt und jede seiner Sprachschwurbeleien stoisch ertragen. Für einen notorischen Selbstzerfleischungsladen wie die SPD war die Partei seit ihrem überraschenden Sieg bei der Bundestagswahl erstaunlich zahm.

Das ist vorbei. Der Kitt in der Ampelregierung ist weg, deshalb wird nun in Parteizentralen und Ministerialbüros über das absehbare Koalitionsende gefachsimpelt. Und dem Chef der Truppe gelingt es nicht mehr, die Streithähne auf eine gemeinsame Linie zu verpflichten. So viele Fehler haben Scholz, Lindner, Habeck und ihre Leute gemacht, so schlecht reden Strippenzieher der drei Parteien mittlerweile übereinander, dass wohl niemand im Regierungsviertel mehr einen Cent darauf wetten möchte, dass dieses Sadomaso-Bündnis noch länger hält als höchstens ein Jahr.

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Der Schaden bei der Wählerwirkung könnte größer kaum sein: Die drei Parteien der Berliner Regierungskoalition kommen vor den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen gemeinsam (!) auf gerade mal noch 12 Prozent. Schnulzensänger Heino hat mehr Fans als SPD, Grüne und FDP zusammen. Bundesweit steht die SPD bei 15 Prozent, damit liegt sie hinter der AfD und ist nicht einmal mehr halb so stark wie CDU und CSU.

Man muss kein Hellseher sein, um zu ahnen: Mit der gegenwärtigen Aufstellung wird die SPD das Kanzleramt im September 2025 sicher nicht verteidigen. So wie die Ampel dann eine "Übergangskoalition" gewesen wäre, bliebe Olaf Scholz ein Übergangskanzler. Doch nicht nur er verlöre Amt und Einfluss, auch viele Abgeordnete, Referenten und Ministeriumsmitarbeiter auf SPD-Ticket würden dann ihre Jobs einbüßen. Gar nicht zu reden von der politischen Gestaltungsmacht.

Das ist der Grund, warum immer mehr Genossen aussprechen, was sie monatelang allenfalls unter der Bettdecke zu denken wagten: Was, wenn man Scholz austauscht? Gegen jemanden, der Klartext statt Schwurbeldeutsch redet. Der auch mal auf den Tisch haut. Und der vor allem im Volk beliebt ist.

Genau so einen gibt es nämlich. Nur sitzt er bislang im Bendlerblock, wo er nicht nur für Soldaten zuständig ist, sondern auch selbst als getreuer Parteisoldat gilt: Es müsste eine Menge passieren, bis Boris Pistorius zustimmt, sich statt dem Amtsinhaber als Kanzlerkandidat für die nächste Bundestagswahl aufstellen zu lassen. Scholz jedenfalls schließt es kategorisch aus, den Wahlkampf um die Regierungszentrale im kommenden Jahr einem anderen zu überlassen – obwohl man auch in seinem Umfeld zu ahnen beginnt, dass die Durchhalteparolen des Chefs am Ende verpuffen könnten.

Aber die Zeitläufte fügen es so, dass es womöglich einen Ausweg gibt. Dieser liegt wie so vieles im Land der unbegrenzten Möglichkeiten auf der anderen Seite des Atlantiks: Auch in der SPD hat man aufmerksam beobachtet, was sich in den vergangenen Monaten bei den US-Demokraten ereignet hat. Wie der zunehmend amtsunfähige Regierungschef Joe Biden von den eigenen Leuten zur Aufgabe seiner Wiederwahlambitionen gedrängt wurde. Und wie es Kamala Harris dann binnen kurzer Zeit gelang, ein Motivationsfeuerwerk zu entzünden, das die darbende Partei aufgerüttelt und die Wahlchancen schlagartig verbessert hat. Leute, die im Berliner Regierungsviertel mit großen Augen von der Entwicklung in Amerika berichten, weisen allerdings auf ein wichtiges Detail hin: Zum Kandidatenwechsel von Biden zu Harris ist es erst dreieinhalb Monate vor dem Wahltag am 5. November gekommen. So war der Überraschungseffekt perfekt: Gegner Donald Trump wurde überrumpelt und hat nun nur noch wenig Zeit, die aufstrebende Harris mit Angriffen zu schwächen.

Was folgt daraus für die SPD? Läuft es wie immer in dieser stolzen, aber selten geschickt agierenden Partei, hält sie Scholz bis zum Schluss die Treue und verliert gemeinsam mit ihm am 28. September 2025 krachend die Bundestagswahl. Stellen sich die Spitzengenossen ausnahmsweise klüger an und nehmen sich ein Beispiel an den amerikanischen Demokraten, halten sie die Ampel-Tragödie noch einige Monate aus, während sie ihrem Kanzler immer deutlicher verklickern, dass er seiner Partei den größten Dienst erweist, indem er im richtigen Augenblick auf eine erneute Kandidatur verzichtet. Dann wäre der Weg im Sommer kommenden Jahres für den Kanzlerkandidaten Boris Pistorius frei. Mit dem im Wagen könnte die SPD das Rennen im folgenden Herbst womöglich doch noch gewinnen.


Cheftreffen zur Migration

Apropos Olaf Scholz und Kommunikation: Da hapert es auch im Kontakt zu anderen Spitzenpolitikern. Als der Kanzler im Oktober 2023 Friedrich Merz sowie die Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz, Hessens Boris Rhein (CDU) und Niedersachsens Stephan Weil (SPD), zum Schmieden eines "Deutschlandpakts" in die Regierungszentrale einlud, lobte der Oppositionsführer zwar zunächst die "gute Atmosphäre". Dann aber legte der CDU-Chef einen Forderungskatalog mit 26 Maßnahmen zur Begrenzung der illegalen Migration vor, den der Kanzler nur noch "zur Kenntnis nahm"; die Begriffe "Deutschlandpakt" und "Migrationspakt" verschwammen. Scholz fokussierte sich auf eine Einigung zwischen Bund und Ländern ("historischer Moment"), und Merz erklärte das Projekt beleidigt für "erledigt".

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Ob es diesmal anders kommt, ist zweifelhaft. Heute Vormittag wollen sich Kanzler und Oppositionschef erneut zusammensetzen, und obwohl das Treffen schon länger geplant war, wird es nun natürlich im Zeichen des Solinger Terrorattentats stehen. Gerade in Zeiten polarisierender Landtagswahlkämpfe im Osten wäre es schon ein Wert an sich, wenn die beiden demokratischen Spitzenpolitiker zumindest eine gemeinsame Sprache fänden. Statt einander Maximalforderungen um die Ohren zu hauen, müssten sie sich dann allerdings auf konkrete Schritte verständigen: bessere Behördenzusammenarbeit, mehr Befugnisse für die Polizei, eine konzertierte Aktion zur Abschiebung abgelehnter Asylbewerber. Dann würde womöglich auch das Vertrauen vieler Bürger in die Problemlösungskompetenz von Politikern wieder wachsen.


Präsident zum Anfassen

Frank-Walter Steinmeier macht sich Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Förderung der Demokratie hat er zum Leitmotiv seiner Amtszeit erhoben. Um mit Bürgern ins Gespräch zu kommen, reist er regelmäßig für ein paar Tage in unterschiedliche Landesteile und führt seine Amtsgeschäfte von dort aus. "Ortszeit Deutschland" hat der Bundespräsident dieses 2022 etablierte Format genannt, auf dessen zwölfter Station er gegenwärtig Stendal besucht. Stand gestern eine "Kaffeetafel kontrovers" auf dem Programm, will sich das Staatsoberhaupt heute die Arbeit einer Freiwilligen-Agentur in der Kleinen Markthalle ansehen. Angenehm bodenständig, wie ich finde.


Luftiger Streik

Es ist schon ein spezieller Streikgrund: Weil sich der Ferienflieger Discover mit der Gewerkschaft ver.di auf einen Tarifvertrag geeinigt hat, zürnen die Konkurrenz-Gewerkschaften Ufo und Vereinigung Cockpit – und rufen ihre Mitglieder zur Arbeitsniederlegung auf. Von heute an bis einschließlich Freitag sollen Kabinenpersonal und Piloten der 2021 gegründeten Lufthansa-Tochter in den Ausstand treten, weil die Spartengewerkschaften eigene Tarifwerke durchsetzen wollen.

Betroffen sind alle Abflüge aus Deutschland auf der Kurz-, Mittel- und Langstrecke ab Frankfurt und München. Die Ufo rechnet aber damit, dass die Lufthansa mit der Umverteilung von Flügen auf andere Konzerngesellschaften die Auswirkungen des Streiks abfedert. Was Sie tun können, wenn Ihr Flug gestrichen wurde, hat meine Kollegin Silke Ahrens aufgeschrieben.


Ohrenschmaus

Kommt es zum Musik-Comeback des Jahres? Mit Hinweisen in den sozialen Medien haben die notorisch zerstrittenen Brüder Liam und Noel Gallagher das Gerücht befördert, sie könnten ihre Band Oasis gemeinsam wieder aufleben lassen. Heute um 9 Uhr könnte es womöglich vielleicht möglicherweise eine entsprechende Ankündigung geben. Bis dahin vertreiben wir uns die Zeit mit einem Klassiker.


Lesetipps

Nach den Messermorden in Solingen schwanken Politiker zwischen Aktionismus und Verharmlosung. Das offenbart ein tiefes politisches Dilemma, kommentiert unsere Chefreporterin Sara Sievert.


Warum scheitern so viele Abschiebungen? Meine Kollegin Camilla Kohrs erklärt es Ihnen.


Telegram ermöglicht verschlüsselte Kommunikation: gut für Oppositionelle, aber auch ein Hort von Hass und Gewalt. Mein Kollege Steve Haak erklärt Ihnen, warum Frankreich den Gründer der App festgenommen hat.


Die Ampelkoalition wollte bezahlbaren Wohnraum schaffen. Irgendetwas ist da schiefgelaufen. Unser Kolumnist Uwe Vorkötter über das vielleicht größte Versagen der Bundesregierung.


Die Ukraine will Ziele in Russland mit westlichen Raketen angreifen, doch die Verbündeten stellen sich quer. Jetzt hat sich Kiews Armee selbst geholfen, berichtet mein Kollege Jakob Hartung.


Zum Schluss

Bleiben Sie bitte vernünftig und konstruktiv. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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