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Krieg gegen Russland: Riskante Entscheidung in der Ukraine


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Tagesanbruch
Alle Alarmglocken schrillen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 22.02.2024Lesedauer: 6 Min.
Der ukrainische Präsident Selenskyj mit seinem neuen Oberbefehlshaber Syrskyj.Vergrößern des Bildes
Der ukrainische Präsident Selenskyj mit seinem neuen Oberbefehlshaber Syrskyj. (Quelle: imago images)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

im Jahr 2024 müssen viele Weichen gestellt werden, und nirgendwo ist dieser Druck stärker zu spüren als in der Ukraine. Die Bewegungslosigkeit eines offenbar festgefahrenen Stellungskrieges hat die ersten Wochen des Jahres geprägt: nicht enden wollende Schlachten, in denen die Soldaten zwar über Leichen gehen, aber auf der Stelle treten. Doch trotz der Erstarrung der Linien standen dringende Entscheidungen an, von denen Sieg oder Niederlage abhängt. Die werden nun nicht leichter, denn die Front ist in Bewegung geraten – und die Lage wird von Tag zu Tag gefährlicher.

Am vergangenen Wochenende ist Awdijiwka in russische Hände gefallen. Es mehren sich die Hinweise, dass der Rückzug schlimm verlief: Chaos brach aus, Hunderte ukrainischer Soldaten haben es offenbar nicht mehr hinausgeschafft. Viele sind getötet worden, andere gefangen genommen worden. Oder schlimmer noch, beides: erst gefangen, dann getötet. Zu den beunruhigenden Nachrichten gehört auch, dass es um die nächste Verteidigungslinie hinter der gefallenen Bastion nicht gut bestellt ist. Es gibt schlecht geschützte Abschnitte in der Region, die von erschöpften Einheiten verteidigt werden müssen. Die Munition für die Artillerie, die den Russen Paroli bieten müsste, war schon zuvor so stark rationiert worden, dass ihre Knappheit zur Niederlage in Awdijiwka beigetragen hat. Ein russischer Durchbruch gilt bis auf Weiteres als unwahrscheinlich, zumal Moskaus Truppen die Ortschaft unter horrenden Verlusten eingenommen haben. Aber die Gewissheit, dass die Ukrainer standhalten, die hat gelitten.

Die Weichenstellungen, die in Kiew vorgenommen werden müssten, stehen deshalb schon jetzt unter Vorbehalt. Während die Militärplaner ihre Bleistifte spitzen, blicken sie nicht nur mit Sorgenfalten auf der Stirn gen Osten. Sie müssen sich auch fragen, was von ihren Optionen eigentlich noch übrig ist, wenn das Repräsentantenhaus im fernen Washington weiterhin die Militärhilfe für die Ukraine blockiert. "Haben wir überhaupt Munition?" ist schließlich keine Angelegenheit, die man erst in Anhang Nummer drei des Planungsdokuments aufdröseln möchte.

Bis zum Jahresende werden die Europäer voraussichtlich in der Lage sein, die Lücke in der Produktion von Granaten einigermaßen zu schließen. Vorher gibt es allerdings ein riesiges Loch im Kalender. Mit den verfügbaren Kapazitäten und den beschränkten Beständen in europäischen Waffenkammern wird der Ukraine eine schlimme Zeit bevorstehen, das ist sicher. Ob es ab dem Sommer zum Kollaps der Verteidigung kommen könnte, darüber gehen die Auffassungen auseinander. Eine katastrophale Niederlage mag nicht das wahrscheinlichste Szenario sein, wie der Militärexperte Franz-Stefan Gady im Interview mit meinem Kollegen Simon Cleven meint. Aber dass man darüber nun ernsthaft diskutieren muss, sollte in den EU-Hauptstädten alle Alarmglocken schrillen lassen.

Es sind also nicht einmal die Rahmenbedingungen klar, unter denen in Kiew Entscheidungen getroffen werden müssen. Doch die Uhr tickt. Sollte die amerikanische Hilfe endlich freigegeben werden, steht dringlich zur Debatte, was im dritten Kriegsjahr eigentlich das Ziel sein soll. Westliche Militärexperten plädieren für ein Jahr der Wiederherstellung und der Vorbereitung, in dem die Russen immer wieder mal unter Druck gesetzt, aber im Wesentlichen hingehalten werden. Denn das ukrainische Militär stolpert, wenn es zum Angriff übergeht, nicht nur über die Zögerlichkeit westlicher Waffenhilfe. Sondern auch über die eigenen Füße.

An der gescheiterten Offensive im vergangenen Sommer ist nicht der Mangel an modernem Material schuld. Mancher Panzer kam gar nicht erst zum Einsatz. Stattdessen haperte es an vielen anderen Stellen: zum Beispiel daran, dass die Soldaten zwar den Umgang mit ihren neuen Gerätschaften gelernt hatten – aber nicht die Abstimmung in großen Verbänden. Das koordinierte Vorgehen ist den Ukrainern nur in kleinen Einheiten gelungen. Um die stark befestigten russischen Linien zu durchbrechen, hat das nicht gereicht.

Ausbildung steht also ganz oben auf der To-do-Liste – auch für neue Rekruten, was ein ganz heißes Eisen ist. Denn einen Einberufungsbefehl in die Hand gedrückt zu bekommen, kommt gar nicht mehr gut an. Dabei brauchen die Soldaten an der Front dringend Verstärkung. Sie sind überwiegend seit Jahren im Einsatz und ausgebrannt. Zugleich schicken Moskaus Militärs auf der Gegenseite Monat für Monat mehr als 10.000 Neulinge ins Gefecht. Der ukrainische Präsident Selenskyj hingegen traut sich an das heikle Thema Mobilisierung nicht heran. In den Kampf zu ziehen, ist bei vielen Ukrainern unpopulär geworden.

Die Ukraine und Russland liefern sich nicht nur Gefechte auf dem Schlachtfeld, sondern auch ein heimliches Wettrennen darum, wer auf längere Sicht seine Armee in die schlagkräftigere Truppe verwandelt. Kiew bräuchte das laufende Jahr deshalb eigentlich dringend für eine Aufbauphase. Die prekäre politische Lage erfordert jedoch eine ganz andere Strategie. Denn die Solidarität mit der Ukraine bröckelt schon länger. Selbst in den EU-Staaten, wo man den russischen Aggressor vor der Haustür hat, nimmt die Bereitschaft ab, für den Krieg das eigene Portemonnaie zu öffnen. Und jenseits des Atlantiks macht Donald Trump mit solchem Unmut Stimmung für seinen Wahlkampf.

Den Unterstützern der Ukraine wird ihre Aufgabe nicht leichter gemacht, wenn keine Erfolge zu vermelden sind. Und wenn es an Offensiven mangelt, weil ganze Armeebestände zur Reparatur in der Werkstatt weilen. Präsident Selenskyj steht deshalb vor der Frage, ob er die kriegsmüde westliche Öffentlichkeit besser mit Erfolgsgeschichten bei Laune halten sollte – und dafür ein irrwitziges Sturmlaufen gegen die russischen Stellungen befiehlt. Militärisch mag das falsch, schlimm und unverantwortlich sein. Aber ohne Rückhalt im Westen ist die Ukraine eben auch am Ende.

Wir kennen dieses Dilemma in Deutschland nur im Kleinen, aber folgenschwer ist auch das: Sollen Taurus-Marschflugkörper den gebeutelten Ukrainern die Möglichkeit geben, sich gegen den Aggressor besser zur Wehr zu setzen? Na klar! Nimmt man in Kauf, dass dieselben Taurus-Marschflugkörper auch den Kreml erreichen können? Bloß nicht! Die deutsche Langstreckenwaffe würde den Ukrainern sehr helfen – damit könnten sie den Konflikt aber auch gefährlich eskalieren.

Am Samstag werden es zwei Jahre sein, seit Putin den Befehl zum Überfall auf die Ukraine gegeben hat. Noch immer ist der Krieg so unberechenbar wie zu Beginn. Um die Weichenstellungen, die nun in Kiew und auch im Kanzleramt anstehen, sind Politiker und Militärs nicht zu beneiden. Denn wohin die Schienen wirklich führen, weiß man leider nie.

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Was liefern?

Apropos Taurus: Deren Lieferung an die Ukraine lehnt Kanzler Olaf Scholz weiterhin ab. Zugleich unterstützt er jedoch einen Antrag der Ampelfraktionen "aus vollem Herzen". Der wird heute ebenso im Bundestag beraten wie ein Gegenantrag von CDU und CSU. In beiden Papieren wird die "Lieferung zusätzlicher weitreichender Waffensysteme" verlangt – nur eben mit dem Unterschied, dass die Union auch die umstrittenen Marschflugkörper abgeben will. Die Politiker machen sich schwierige Antworten nicht einfach, und das ist gut so.


Was steht noch an?

In Nürnberg ab Freitag die Ausstellung "Gerhard Richter. On Display". Das Neue Museum besitzt eine der größten öffentlichen Sammlungen von Werken des berühmtesten (und teuersten) lebenden deutschen Malers. Erstmals seit 2015 ist sie wieder komplett zu sehen, hinzu kommen Leihgaben. Falls Sie ihn noch nicht gesehen haben: Florian Henckel von Donnersmarcks Spielfilm "Werk ohne Autor" kann ich Ihnen übrigens sehr empfehlen.


In Tübingen eine Diskussionsveranstaltung zum Thema "Vier Jahre Corona: Was haben wir gelernt (oder auch nicht …)?" Auf dem Podium sitzen Ärzte, Psychologen und Politiker. Dergleichen bräuchte es öfter, denke ich.


Auf dem Mond die Landefähre "Nova-C". Glückt das Manöver, ist es die erste erfolgreiche kommerzielle Mondlandung der Raumfahrtgeschichte.


Ohrenschmaus

75 Jahre alt wird der Joachim aus Hamburg heute. Unvergessen sein düster-mitreißender Song für die Ewigkeit.


Lesetipps

Die Schauspielerin Nastassja Kinski will verhindern, dass Nacktszenen aus einem alten "Tatort" weiterhin gesendet werden. Mein Kollege Steven Sowa erklärt Ihnen den Wirbel um die ARD-Produktion.



Gerade erst wurde er zum Parteivorsitzenden gekürt – schon laufen Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen die Mitglieder weg: Meine Kollegin Frederike Holewik berichtet Ihnen vom Verfall der "Werteunion".


Paukenschlag in der Bundesliga: Auf Druck der Fußballfans ist der Deal mit Finanzinvestoren geplatzt. Was davon zu halten ist, wissen meine Kollegen Philipp Michaelis und Noah Platschko.


Zum Schluss

Die Bundespolitik bekommt Nachwuchs.

Ich wünsche Ihnen einen anregenden Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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