Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Wann endlich, Herr Scholz?
Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser
vor ein paar Jahren hätte so eine Nachricht kaum jemanden interessiert: Die Ampelregierung streicht eine Passage aus dem kommenden Haushaltsfinanzierungsgesetz. So weit, so unscheinbar. Doch diese Streichung hat es in sich: Die Selbstverpflichtung zum Nato-Zwei-Prozent-Ziel aus einem ursprünglichen Entwurf der Regierung ist in der finalen Version nicht mehr zu finden. Entgegen der großen Versprechen, die es monatelang gegeben hatte.
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Das muss nicht heißen, dass Deutschland sich von den zugesagten Mehrausgaben für die Bundeswehr verabschiedet. Aber aus der verunsicherten Truppe hagelte es sofort Kritik. Der Tenor der Soldaten: "Eine ohnehin über Jahrzehnte kaputtgesparte Bundeswehr wird jetzt erneut im Stich gelassen." Dabei sei der Ausrüstungsbestand heute noch schlechter als vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Denn viel Material und Munition gingen in den vergangenen Monaten bekanntlich nach Kiew. Eigentlich wäre es Zeit, dass jetzt etwas getan wird. Eigentlich.
Stattdessen überrascht diese Nachricht die ganze Welt. Bei den Verbündeten, auch hier in Washington, ist mancher im Regierungsapparat irritiert. Und wieder mal gibt es Klärungsbedarf. Dabei steht viel auf dem Spiel: die Sicherheit der Bundesrepublik in Kriegszeiten in Europa, mitten in einem pazifisch geprägten Jahrhundert voll möglicher neuer militärischer Konflikte.
Ausgerechnet dem Zeitenwende-Bundeskanzler zu unterstellen, er setze diese Sicherheit Deutschlands mutwillig aufs Spiel, würde Olaf Scholz und seinem Verständnis der Weltlage nicht gerecht. Auch der für die Streichung mitverantwortlichen grünen Außenministerin Annalena Baerbock lässt sich kaum vorwerfen, sie stünde in Sicherheitsfragen bewusst auf der Bremse. Zu sehr hat sich die grüne Haltung in Bezug auf das Militärische und seine Notwendigkeit verändert. Beide eint ein ziemlich intaktes transatlantisches Verständnis.
Die Materie ist in Wahrheit hochkomplex. Denn was sind Ausgaben, die wirklich zur Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit Deutschlands beitragen? Sind das nur Anschaffungen von großen Waffensystemen wie Kampfjets? Oder gehören dazu auch Investitionen in Infrastruktur, Logistik oder auch Forschung? Zugespitzt könnte man auch fragen: Was ist mit der zur Pflege von Soldatenstiefeln nötigen Schuhcreme? Gehört die nicht auch zur Verteidigung? Kurz: Zwei Prozent, das ist auch das, was man daraus macht.
Dabei gibt es eigentlich eine hinreichende Definition davon, was Verteidigungsausgaben sein sollen. Laut dem Stockholm International Peace Research Institute (Sipri) umfassen sie:
alle Streitkräfte, das Verteidigungsministerium und alle Behörden, die an militärisch relevanten Projekten beteiligt sind. Hinzu kommen paramilitärische Kräfte, die für militärische Operationen ausgebildet, ausgerüstet und bereitgestellt werden und die militärische Nutzung des Weltraums. Dazu kommen Personalausgaben, Pensionen des militärischen Personals, Operations- und Betriebskosten, Baukosten sowie die militärische Forschung und Entwicklung.
Warum also ein klares Bekenntnis unkenntlich machen? Die Kehrseite solcher öffentlichen Diskussionen ist ein fatales Signal, das durch solche Kommunikation der Bundesregierung ausgesandt wird. Zumal, wenn ihre Sprecher auf "regierungsinterne Abstimmungen" verweisen, zu denen man sich nicht äußern werde.
Das lässt Raum für Spekulationen und das ist nie gut. Das gilt besonders in Bezug auf unsere Hauptverbündeten in den USA. Denn sowohl hier in Washington als auch sonst überall in den Vereinigten Staaten ist man inzwischen sehr wachsam, wie sich die Nato-Alliierten verhalten. Ganz besonders im Fokus steht dabei immer wieder die Bundesrepublik. Das Vertrauen, das sich die Bundesregierung hier im Zuge ihrer Ukraine-Unterstützung in den vergangenen Monaten berechtigterweise erarbeitet hat, ist darum kein Selbstläufer.
Zwar sind sich Republikaner und Demokraten in Amerika weitgehend einig darüber, dass man sich gemeinsam mit Verbündeten gegen die beiden anderen Großmächte Russland und China zur Wehr setzen muss. Großer Streit entbrennt aber regelmäßig in beiden Parteien über eine Frage: Wie viel sollen die USA selbst finanziell zu dieser Strategie beitragen und wie viel die befreundeten Staaten? Das betrifft die Nato ebenso wie andere Bündnisse im Pazifik.
Die Gefahren solcher amerikanischer Unzufriedenheiten sind real. Die Kritiker sind bei den Republikanern zwar deutlich lauter. Gerade deshalb aber können auch Demokraten das Thema nicht einfach so ignorieren. So gewogen die Biden-Regierung der Scholz-Regierung auch sein mag: Es gibt keine Garantie auf eine Wiederwahl des 80-Jährigen. Und auch Joe Biden unterliegt innenpolitischen Zwängen, die ab sofort immer größer werden.
Denn ab dieser Woche lässt sich in den USA gut beobachten, wie sich die politische Stimmung im Land entwickeln wird und damit auch die möglichen Folgen für Deutschland. Am Mittwochabend beginnt in Milwaukee, im Bundesstaat Wisconsin, das Rennen um den Einzug ins Weiße Haus. Vor den Fernsehkameras von "Fox News" werden die Kandidaten der Republikaner erstmals darüber streiten, wer von ihnen besser geeignet ist, der nächste US-Präsident zu werden. Der konservative Sender hatte natürlich in diesen Tagen auch darüber berichtet, dass "Deutschland seine Zusage bricht, das Nato-Ausgabenziel zu erreichen".
Was haben TV-Debatten in den USA mit Deutschlands Sicherheit zu tun? Diese erste Debatte der Republikaner läutet eine Wahlkampfsaison ein, in der gerade das Thema Staatsverschuldung immer wieder eine große Rolle spielen wird. Ukraine-Hilfen, Bündniskosten, Weltverantwortung – alles kann dabei mit auf den Prüfstand kommen.
Und der aussichtsreichste Kandidat ist ein guter Bekannter. Es ist der inzwischen vierfach angeklagte Donald Trump. Er liegt schon jetzt so weit vorne wie kein Kandidat jemals vor ihm. Trump hält es gar nicht für nötig, überhaupt an dieser ersten TV-Debatte teilzunehmen. Lieber gibt er dem, auch wegen seiner Anti-Ukraine-Äußerungen geschassten "Fox News"-Moderator Tucker Carlson ein eigenes Interview. Trump sieht seine parteiinternen Gegner, wenn überhaupt als mögliche Kandidaten für den Vizepräsidenten-Posten unter ihm.
Seine Haltung zum Ukraine-Krieg ist klar: Er würde den Konflikt über Nacht beenden wollen. Den Preis dafür würden das Land und der Rest Europas bezahlen müssen. Eine verbündete Republikanerin an seiner Seite ist dabei stets Marjorie Taylor Greene, die ebenfalls als Vizekandidatin für ihn gehandelt wird.
Trumps extrem gute Chancen, zum dritten Mal als Spitzenkandidat der Republikaner anzutreten und dann sogar wieder Präsident zu werden, lassen sich nicht ignorieren. Nach 2024 könnte im Weißen Haus wieder ein Mann sitzen, der die Nato am liebsten abschaffen will, der Russlands Gefahren bis heute ignoriert und welcher der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel über die russischen Gaslieferungen einst sagte: "Wir müssen über die Milliarden und Abermilliarden Dollar sprechen, die an das Land gezahlt werden, vor dem wir Sie beschützen sollen."
Bei der letzten Sache hat Trump ein Thema, mit dem er bis heute punkten kann, auch bei Nicht-Trumpisten. Ausgerechnet Deutschland, das mit Gasimporten den russischen Angriffskrieg mitfinanziert hat, kann in Sachen Verteidigungsausgaben nicht mehr ausweichen.
Die Bundesregierung muss in der Lage sein, Klartext zu reden, wenn es um konkrete Zahlen für die eigene Sicherheit und die des Nato-Bündnisses geht. Dass Olaf Scholz das kann, hat der Zeitenwende-Kanzler im Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022, drei Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, erklärt: "Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren."
Dieser Satz aus dem Februar 2022 ließ eigentlich keine Spielräume für Interpretationen. Der Bundeskanzler hat damals tosenden Applaus bekommen. Dann begann das Verwässern. Aus dem "von nun an", "Jahr für Jahr" und "mehr als zwei Prozent" heißt es jetzt, diese Ausgaben könnten etwa aufgrund von Auftrags- und Beschaffungsdynamiken natürlich schwanken. Panzer stünden schließlich nicht im Supermarktregal. Im Durchschnitt, über mehrere Jahre gestreckt, würden die mehr als zwei Prozent Militärausgaben aber sehr wohl erreicht.
Das aber sind bürokratische Verrenkungen, von denen sich nicht nur ein Donald Trump kaum beeindrucken lässt. Die Bundesregierung muss für ihre Versprechen zum Zwei-Prozent-Ziel darum eine klare, nachvollziehbare Sprache finden. Andernfalls läuft Deutschland Gefahr, erneut zur Zielscheibe zu werden. Es geht nicht darum, Populisten nachzurennen und Komplexität zu ignorieren. Aber es geht darum, klare Ansagen von gestern auch in klare Taten von heute und morgen umzusetzen und diese offensiv zu bewerben.
Das Münchener Ifo-Institut vermeldete vor einigen Tagen seine Berechnungen zum Haushaltsentwurf der Bundesregierung für das Jahr 2024. Das Urteil der Analysten: Die Bundesregierung lasse offen, wie sie ihr Ziel realisieren möchte, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben. Der Verteidigungshaushalt unterschreite das ausgegebene Ziel mit seinen geplanten 52 Milliarden Euro und den Ausgaben des Sondervermögens Bundeswehr von 19 Milliarden Euro. Denn die Summe entspricht eben nur 1,7 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung. "Es fehlen 14 Milliarden Euro", so das Ifo-Institut.
Die Bundesregierung ist sich dieser Lage in Deutschland und in den USA bewusst. Aber es ist wie so oft die Performance, die extrem unglücklich wirkt. Es zählt nicht nur, was am Ende herauskommt, sondern auch, wie es am Ende herauskommt. Ein routiniertes Auftreten in Sachen Verteidigungspolitik muss Deutschland noch immer lernen.
Was steht an
Der ukrainische Präsident ist zu Besuch in Kopenhagen. Nach einem Treffen mit der dänischen Regierungschefin Mette Frederiksen am Sonntag auf einem Luftwaffenstützpunkt wurde die Lieferung von F-16-Kampfjets an Kiew vereinbart. Um 9 Uhr am Montag wird Wolodymyr Selenskyj im Folketing, dem dänischen Parlament, und im Anschluss von Königin Margrethe II. empfangen.
Die Gruppe der sogenannten Brics-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) will wachsen und so ein Gegengewicht zum Westen schaffen. Während des Brics-Gipfels in Johannesburg von Dienstag bis Donnerstag steht die Expansion auf der Tagesordnung. Es gibt Dutzende Interessenten an einer Mitgliedschaft – von Ägypten und Marokko bis Saudi-Arabien, Argentinien und Bangladesch.
Überschattet von der Ermordung eines Kandidaten findet am Sonntag die Präsidentschaftswahl in Ecuador statt. Der Kandidat Fernando Villavicencio, der der Korruption den Kampf angesagt hatte, war bei einer Wahlkampfveranstaltung getötet worden. Umfragen zufolge hatte der ehemalige Gewerkschafter und Journalist mit 7,5 Prozent der Stimmen an fünfter Stelle der acht Kandidaten gelegen. Seine Partei ernannte den Journalisten Christian Zurita zum Ersatzkandidaten.
Das historische Bild
"Moondog" nannte sich dieser Mann, der über Jahrzehnte obdachlos in New York lebte. Und ein musikalisches Genie war. Hier lesen Sie mehr.
Was lesen
Die t-online Recherchen zu den mutmaßlichen Hochstaplern bei der AfD schlagen weiter hohe Wellen. Will die AfD die betroffenen Kandidaten Mary Khan-Hohloch und Arno Bausemer wirklich in das Europaparlament schicken? Oder räumt sie auf? Nach massivem Druck der Basis bewegt sich nun der Parteivorstand, schreiben Jonas Müller-Töwe und Annika Leister.
Die Frauenfußball-WM hat in den vergangenen vier Wochen etliche Rekorde gebrochen. Manche sprechen schon von einer neuen Zeitrechnung für den Sport, andere fürchten dieselben Probleme wie vor dem Turnier. Die sind gravierend und haben ganz wesentlich auch mit den Männern zu tun, wie mein Kollege Christoph Cöln in Australien erfuhr.
Mit seiner aggressiven Außenpolitik hat sich China in seiner Nachbarschaft zunehmend isoliert. Die USA nutzen das, um ihre Bündnisse in Xi Jinpings Hinterhof auszubauen. Befeuert diese US-Strategie einen großen Krieg?, fragt sich mein Kollege Patrick Diekmann in seiner Analyse.
Was mich amüsiert
Ihr
Bastian Brauns
Washington-Korrespondent
Twitter @BastianBrauns
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Mit Material von dpa und Reuters
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