Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Dieses Land droht Putins neuer Spielplatz zu werden
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
gut 4.000 Kilometer trennen Niger von Deutschlands Hauptstadt Berlin. Derzeit ist das Land im Umbruch, nach einem Militärputsch sind die politischen Verhältnisse instabil, eine Eskalation droht.
Warum zum Himmel, fragen sich hier sicher einige, sollte uns ein Land in Afrika interessieren? Haben wir nicht selbst genug Probleme?
Haben wir. Aber wenn die Lage in Niger sich verschärft, werden auch unsere Probleme wachsen. Denn die Region ist ein Pulverfass – und eine Explosion hätte weltweite Auswirkungen. Auch bei uns in Deutschland. Nicht zuletzt deswegen sollten wir hinhören, hinsehen, verstehen, was in Niger gerade geschieht.
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Was ist passiert? Vor rund zwei Wochen hat das Militär in Niger den demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum entmachtet, unter Hausarrest gestellt und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Nach dem Putsch setzte die westafrikanische Staatengemeinschaft Ecowas den Militärs ein Ultimatum, Bazoum wieder einzusetzen – andernfalls drohe der "Einsatz von Gewalt". Die Putschisten ließen das Ultimatum verstreichen, sperrten den Luftraum über Niger und setzten eine neue Regierung ein. Sollte die Staatengemeinschaft eingreifen, drohen sie damit, Bazoum zu ermorden.
Warum ist das für Deutsche wichtig? Niger ist dreimal so groß wie Deutschland und gilt als eines der ärmsten Länder der Welt. Bis zum Putsch war es dennoch das letzte Land in der Sahelzone, das als Demokratie und politisch halbwegs stabil galt – und zudem als zuverlässiger Partner des Westens. Wichtig ist diese Kooperation nicht nur im Kampf der Bundeswehr gegen den Terror, der in der Region grausame Blüten treibt, sondern auch mit Blick auf die Migration – und im Kampf gegen Russlands Präsidenten Putin.
Niger ist eines der wichtigsten Transitländer für Migranten, die aus West- und Zentralafrika nach Nordafrika ziehen und über das Mittelmeer nach Europa kommen. Deswegen überweist die EU dem Land im Rahmen eines Migrationsabkommens seit Jahren Geld, damit es Migranten zurückhält.
Verschlechtert sich die Situation im Land, greift der Terror weiter um sich, werden mehr Menschen fliehen. Zuerst in die Nachbarländer, dann womöglich nach Europa. Menschen werden ihre Heimat und ihre Liebsten aufgeben, einige werden auf der gefährlichen Route ihr Leben lassen. Das Migrationsabkommen könnte unter der neuen Führung hinfällig sein. Experten warnen schon jetzt: Die neuen Machthaber könnten Migranten gezielt als Druckmittel gegen den Westen benutzen.
Noch gibt es darauf keine konkreten Hinweise. Neu wäre diese Methode aber nicht. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko setzte Migration in der Vergangenheit als politische Waffe ein, um gegen EU-Sanktionen gegen sein Land vorzugehen. Belarussische Reiseagenturen, Fluggesellschaften und Grenzpolizisten sollen Flüchtlinge gezielt über die Grenze gebracht haben. Lukaschenkos Ziel: Chaos im Westen – und eine bessere Verhandlungsposition für sich selbst. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nutzte das Drohpotenzial offener Grenzen für Flüchtlinge, um bei der EU mehr Geld für sein Land auszuhandeln.
Niger ist aber auch aus einem anderen Grund ein wichtiger Faktor für den Westen. Denn der ansonsten recht isolierte Kriegstreiber Putin umwirbt auf der Suche nach neuen Partnern Regierungschefs in Afrika immer intensiver. Zuletzt versprach er kostenlose Getreidelieferungen – wohlgemerkt, nachdem er zuvor die für Afrika so wichtigen Getreidelieferungen aus der Ukraine blockiert hatte.
In Nigers Nachbarländern Mali und Burkina Faso wurde bereits früher geputscht. Die Regierung in Mali rief die brutalen Wagner-Söldner aus Russland zur Hilfe, um die Kontrolle zu behalten und Terroristen zu bekämpfen. Auch Burkina Faso soll sich ihre Unterstützung gesichert haben. Die Söldner sollen in Mali seither als eine Art Sicherheitstruppe agieren, sind für die Bevölkerung allerdings ein Fluch: Sie vergewaltigen, sie morden, sie richten Massaker an. Und: Sie besitzen und betreiben Goldminen und gut laufende Unternehmen. So mehren sie ihren eigenen Reichtum und erweitern Russlands Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent.
Den Putsch in Niger sollen nach Einschätzung westlicher Geheimdienste weder Putin noch die Wagner-Söldner angestiftet haben. Allerdings sehen Letztere jetzt ihre Chance und schicken sich an, massiv davon zu profitieren. Über das Land rollt eine Desinformationswelle, die den Hass gegen die ehemalige Kolonialmacht Frankreich und den Westen schürt, russische Flaggen werden verteilt – und offenbar erste Gespräche zwischen den Söldnern und den Militärs in Niger geführt.
So soll sich ein Mitglied der neuen Militärjunta Medienberichten zufolge bereits mit einem hochrangigen Vertreter der Gruppe Wagner getroffen haben. Dabei soll es um den Einsatz der Söldner in Niger gegangen sein. Diese wollen die Anfrage demnach angeblich "wohlwollend prüfen".
Der entmachtete Präsident Bazoum jedenfalls warnte bereits in einem Gastbeitrag in der "Washington Post": Die gesamte zentrale Sahelzone könnte über die Wagner-Gruppe unter russischen Einfluss geraten.
Auch der Experte Bakary Sambe, der die UN berät, spricht im Interview mit dem "Spiegel" von einem "Wettlauf gegen die Zeit": "Je mehr Zeit die Junta hat, desto enger wird sie mit Russland und der russischen Wagner-Gruppe zusammenarbeiten, wie schon die Putschisten in Burkina Faso und Mali."
Die Suche nach Lösungen aber ist schwer. Ein Militärschlag der afrikanischen Ecowas-Staaten gegen Nigers Militärjunta wäre fatal, warnen Experten unisono. Mali und Burkina Faso nämlich haben bereits bekannt gegeben, dass sie ein solches Vorgehen als "Kriegserklärung" verstehen würden. Es droht eine Explosion des Pulverfasses, ein Flächenbrand in der gesamten Region.
Die Ecowas-Staaten bleiben deswegen bestimmt, aber vorsichtig. Auf einem Sondergipfel am Donnerstag beschlossen sie, eine Eingreiftruppe für einen möglichen Einsatz in Niger aufzustellen. Details zum Einsatz ließen sie offen, stattdessen wurde betont: Man wolle sich alle Optionen offenhalten, Diplomatie und eine friedliche Lösung aber seien das oberste Ziel. Im Voraus ließ sich immerhin ein kleiner Fortschritt verbuchen: Ein Vertreter der Ecowas-Staaten konnte den nigrischen Militärjunta-Chef Abdourahamane Tiani treffen.
Deutlich macht die Lage in Niger schon jetzt: Will der Westen Putin und seine Terror-Schergen stoppen, will er ihm Ressourcen und Partner entziehen, so muss er die Länder Afrikas in Zukunft wesentlich stärker als bisher als wichtige Verhandlungspartner begreifen und sich mehr um sie bemühen. Dabei reicht es nicht, ein wenig Entwicklungshilfe zu schicken und vor Ort Militär und Polizei auszubilden.
Man muss sicherstellen, dass die Bevölkerung in ihrem Alltag konkrete Verbesserungen spürt, dass wirtschaftlicher Fortschritt angestoßen wird. Ansonsten droht ein ganzer Kontinent zu einem neuen Spielplatz für Putin zu werden.
Ministerin im Wahlkampf
Bundeskanzler Olaf Scholz besucht mit Innenministerin Nancy Faeser Hessen. Unter anderem machen die SPD-Politiker Station am Flughafen Frankfurt, beim Handelsverband Hessen, beim Gaststättenverband Dehoga, bei einer familiengeführten Schreinerei und nehmen an einer Bürgerdiskussion teil. Dass Kanzler und Innenministerin gemeinsam auftreten, ist ungewöhnlich. Es dürfte auch damit zu tun haben, dass Hessen im Oktober einen neuen Landtag wählt und Faeser als Spitzenkandidatin der SPD dort den amtierenden Ministerpräsidenten Boris Rhein ablösen will.
Bislang sieht es laut Umfragen eher schlecht für sie aus. Auch ihre Doppelrolle als Wahlkämpferin und Ministerin steht in der Kritik. Nicht immer scheint Faeser beides sauber zu trennen, wie jüngst schon ihr populistischer Vorstoß zur Abschiebung von Clan-Angehörigen vermuten ließ. Deswegen dürfte sie auch auf der Reise mit Scholz einmal mehr an ihr Versprechen aus dem Februar erinnert werden: "Ich werde mich weiter voll auf das Amt der Bundesinnenministerin konzentrieren."
Was steht noch an?
Im Verfahren gegen den Ex-US-Präsidenten Donald Trump wegen Wahlbetrugs und der Attacke auf das Kapitol kommt es in Washington zu einer ersten Anhörung. Trump muss nicht persönlich erscheinen. Ihm wird unter anderem Verschwörung gegen die Vereinigten Staaten vorgeworfen.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung berät sich mit Experten zum Thema "Wohnen und Bauen auf dem Land", auch Bauministerin Klara Geywitz (SPD) ist zu Gast. Sie steht unter Druck, weil es mit dem vollmundigen Versprechen von 400.000 Wohnungen pro Jahr noch lange nicht klappt.
Was lesen?
Die Ampelkoalition hat am Mittwoch den Entwurf eines neuen Wirtschaftsplans beschlossen. Teil davon ist ein unerwartet großer Sprung beim CO2-Preis, der Tanken und Heizen teurer machen wird. Wirtschaftsvertreter und Verbraucherschützer sehen darin ein Problem und fordern Maßnahmen, um die Belastungen abzufedern, schreibt meine Kollegin Frederike Holewik.
Was will die AfD eigentlich – außer dagegen sein? Christoph Schwennicke hat sich das Programm der Partei für die Europawahl angesehen und kommt aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus.
Fünf Deutsche müssen sich wegen Terrorverdachts vor dem Oberlandesgericht Koblenz verantworten. Die Gruppe aus der Szene der "Querdenker" soll die Entführung von Gesundheitsminister Karl Lauterbach geplant haben. Die Sicherheitsmaßnahmen bei dem Prozess sind besonders streng. Warum, erklärt mein Kollege Lars Wienand hier.
Ohrenschmaus
Fast ist Wochenende. Zeit zu tanzen – sei es hinterm Bügelbrett, hinter der Kasse oder in der Psychiatrie. So hält es zumindest Florence and the Machine mit diesem Song.
Zum Schluss
Schnäppchen oder Ladenhüter?
Ich wünsche Ihnen jetzt schon ein erholsames Wochenende. Morgen begleitet meine Kollegin Lisa Fritsch Sie in den Tag.
Herzlich
Ihre Annika Leister
Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @AnnLei1
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Mit Material von dpa.
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