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Türkei-Wahl: Projekt von Erdoğan und Kılıçdaroğlu birgt Risiken für Deutschland


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Tagesanbruch
Einem Albtraum gefährlich nah

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 11.05.2023Lesedauer: 6 Min.
Wahlkämpfer Erdogan will die Pläne seines Herausforderers Kılıçdaroğlu toppen.Vergrößern des Bildes
Wahlkämpfer Erdoğan will die Pläne seines Herausforderers Kılıçdaroğlu toppen. (Quelle: imago-images-bilder)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wie schön, wenn man Träume hat! Sie geben Hoffnung, so lebensfern sie auch sein mögen. Die vielen Syrer beispielsweise, die vor Krieg, Regierungsterror und Extremismus aus ihrer Heimat fliehen mussten: Sie könnten sich gar nichts Schöneres vorstellen als das Bild der Welt, das ein freundlicher Visionär in diesen Tagen für sie entworfen hat. Garantien "für Leben und Vermögen" solle es für alle geben, die den Weg zurück in ihr Heimatland wagen. "Straßen, Brücken, Schulen, alles" werde man dort wiederaufbauen. Die Vertriebenen mögen wieder frei in ihrem eigenen Land leben können. Die Industrie werde investieren, für Arbeit sei gesorgt. Später dürfen die ehemaligen Flüchtlinge dann gerne wieder zurückkommen, in die Türkei oder nach Deutschland – nämlich zum Urlaub! Ist das nicht toll?

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Wäre John Lennon noch unter uns und würde zu aktuellen Themen seine Songs texten, wer weiß, vielleicht wäre eine Strophe dieser Art auch dabei. Aber der ältere, korrekt gekleidete Herr, der das schöne Traumbild malt, sieht so gar nicht aus wie ein gealterter Hippie. Im Gegenteil: Er betrachtet sich als soliden, bodenständigen Menschen, von Beruf ist er Politiker. Aber er hat Großes im Sinn. Gleich eine ganze Nation will er bezirzen, denn er ist Spitzenkandidat: Kemal Kılıçdaroğlu tritt in der Türkei am Sonntag gegen den Dauerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan an. Es steht Spitz auf Knopf. Die Umfragen sagen einen haarscharfen Ausgang der Wahl voraus. Es ist ein schicksalhafter Urnengang für die Türkei, aber auch für die Region, für Europa, sogar für die Nato. Wird Kılıçdaroğlu den alten Fuchs besiegen? Und seine Träume – und Träumereien – umsetzen müssen?

Zugegeben: Schon bei dem Gedanken, dass Erdoğan tatsächlich aus dem Präsidentenpalast ausziehen könnte, muss man sich die Augen reiben. Denn frei darf man in der Türkei zwar wählen, fair allerdings geht es dabei ganz und gar nicht zu. Den Staatsapparat hat der Präsident zu seiner persönlichen Wahlkampfmaschine umgewidmet; die Medien sind an die Leine gelegt und auf Linie gebracht, die Justiz ebenso; unliebsame Anwälte, Aktivisten und Politiker füllen die Gefängnisse. Das erklärt, warum noch immer ungefähr die Hälfte der Wähler vermutlich ihr Kreuzchen bei Erdoğan machen werden, obwohl die Türkei seit Jahren von heftigen Krisen erschüttert wird. Herausforderer Kılıçdaroğlu liegt mit hauchdünnem Vorsprung vor Erdoğan. Angesichts der ungleichen Startbedingungen grenzt schon das an ein Wunder.

Ohne Schützenhilfe hätte der Mann der Opposition wohl kaum eine Chance gehabt. Tatkräftige Unterstützung kam ausgerechnet vom Präsidenten selbst. Die irrwitzige Inflation, die im vergangenen Jahr einen Spitzenwert von mehr als 85 Prozent erreichte, raubt dem Mittelstand seine Ersparnisse und stiehlt den Ärmeren das Essen vom Teller. Wer dem Erdoğan-TV glaubt, dankt dem Präsidenten für die erfolgreiche Rettung vor der angeblich noch viel schlimmeren Krise anderswo. Wer dagegen seinem Portemonnaie glaubt, der will, dass Erdoğan schleunigst verschwindet.

Selten haben sich so viele Grundsatzentscheidungen in einer Wahl vereinigt. Sich zwischen einer rationalen Wirtschaftspolitik und Erdoğans Katastrophenkurs zu entscheiden, ist noch die leichteste Übung. Zugleich steht das Votum in einem Kulturkampf an, in dem Türken mit religiös-konservativen Werten für den ewigen Präsidenten und Landsleute mit einem liberalen Weltbild für den Herausforderer stimmen.

Über allem schwebt die Entscheidung, welchen Staat man haben will. Hier der starke Mann, der allein das Sagen hat und Stabilität verspricht. Dort die Opposition, die dem Rechtsstaat, dem Parlament, der Presse- und Meinungsfreiheit wieder zu ihren Rechten verhelfen will, was zugleich dauernde Debatten mit sich bringt und eine möglicherweise zerstrittene Koalitionsregierung auch – so ist das eben in einer Demokratie. Mangelnde Unterscheidbarkeit kann man den Kontrahenten in dieser Abstimmung jedenfalls nicht vorwerfen. Ein besonders heißes Eisen fügt sich allerdings nicht in diese saubere Zweiteilung ein und regt selbst den liberalen Hoffnungsträger Kılıçdaroğlu zu Träumen an, die einem Albtraum gefährlich nahekommen.

Dreieinhalb Millionen syrische Flüchtlinge leben in der Türkei, und der gesellschaftliche Unmut darüber ist inzwischen riesig. Die Gewalt nimmt zu, auch zu pogromartigen Szenen ist es schon gekommen. Für aggressive Anmache genügt es schon, in Istanbul Arabisch zu sprechen, wie diese Reporterin vor laufender Kamera erfahren musste.

Die Opposition bedient sich der aufgeheizten Stimmung und wirft Erdoğan vor, die Flüchtlinge ins Land gelassen zu haben. Binnen zwei Jahren will Kılıçdaroğlu sie zurück nach Hause befördern – in Abstimmung mit der "legitimierten Regierung" in Syrien, womit er Assad und dessen Mörderbanden meint. Er bietet im Nachbarland den Wiederaufbau an, obwohl die Türkei schon zu Hause auf Jahre hinaus mit den Schäden des Erdbebens im Frühjahr beschäftigt sein wird. Für eine Verständigung mit Damaskus müsste die Türkei zudem ihre Einflusszone in Nordsyrien räumen, in der Millionen Syrer vor Assads Schergen Zuflucht gesucht haben.

Es ist ein absurder Plan – aber Erdoğan beeilt sich, seinen Herausforderer dabei noch zu überholen: Gestern hat er den Außenminister schnell noch zu einem Treffen mit dessen syrischem Kollegen geschickt, der ersten derartigen Begegnung seit mehr als zehn Jahren. Russen und Iraner saßen als Vermittler mit am Tisch. Die Menschenrechte nicht.

Sollten diese Pläne Formen annehmen, werden zahlreiche Flüchtlinge die Türkei tatsächlich schleunigst verlassen – aber nicht in Richtung Syrien. In Europa müssen wir hoffen, dass das irre Projekt zuvor an seiner Absurdität zerbricht. Andernfalls wird es auf den Routen Richtung Deutschland bald sehr voll.

Es ist schon wahr: Ein Machtwechsel in Ankara würde dem Verhältnis Europas zur Türkei die Chance für einen Neustart verschaffen. Aber eitel Sonnenschein herrscht so einfach leider nicht.


Geld, Gesetze, Geschwader

Finanzminister Christian Lindner gibt heute Nachmittag bekannt, welche Steuereinnahmen Bund, Länder und Kommunen bis 2028 zu erwarten haben. Es heißt, der Staat könnte allein im kommenden Jahr mehr als eine Billion Euro einnehmen. Dass der Geldberg ausreicht, um alle Ausgabenwünsche von Regierungspolitikern zu erfüllen, ist nicht anzunehmen.

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Nach monatelangem Tauziehen will der Bundestag ein Gesetz zum Schutz von "Whistleblowern" verabschieden. Es soll Hinweisgeber, die Missstände in Behörden und Unternehmen aufdecken, vor Entlassung und Repressalien bewahren. Sie werden sich aber an interne Meldestellen wenden müssen: Dieses Zugeständnis haben CDU und CSU den Ampelkoalitionären abgerungen.

Außerdem debattieren die Abgeordneten über eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Kosovo. Dort gibt es Spannungen mit der serbischen Minderheit. Ein weiteres Thema ist die Reform des deutschen Disziplinarrechts. Damit sollen Verfassungsfeinde einfacher aus dem öffentlichen Dienst entlassen werden können.

Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft will die nächste Warnstreikrunde im Tarifstreit mit der Bahn ankündigen. Die Züge könnten also bald wieder stillstehen. Die Gewerkschaft verhandelt seit Ende Februar mit der Deutschen Bahn und 50 weiteren Eisenbahnunternehmen über höhere Tarife für 230.000 Beschäftigte.

Der UN-Menschenrechtsrat kommt wegen der Krise im Sudan zu einer Sondersitzung zusammen. Die Diplomaten wollen die Gewalt verurteilen und auf die Einhaltung von Menschenrechten und Völkerrecht pochen. Viele Länder sind jedoch prinzipiell gegen die Befassung mit Problemen in einzelnen Ländern, weil sie darin eine Einmischung in innere Angelegenheiten sehen.

Ein Jahr nach dem Tod der Al-Dschasira-Reporterin Schirin Abu Akle sind im Westjordanland Gedenkveranstaltungen geplant. Die palästinensische Journalistin wurde während eines israelischen Militäreinsatzes im nördlichen Westjordanland erschossen.

Bundesverteidigungssupermann Boris Pistorius wird in Mecklenburg-Vorpommern zu seinem Antrittsbesuch bei der Luftwaffe erwartet. Auf dem Geschwader-Stützpunkt in Laage findet die Eurofighter-Ausbildung statt.


Ohrenschmaus


Das Historische Bild

Nachdem er den Ersten Weltkrieg verloren hatte, musste der säbelrasselnde Kaiser Wilhelm II. 1918 ins Exil gehen. Dort fand er einen ungewöhnlichen Zeitvertreib.


Lesetipps

Altkanzler Gerhard Schröder feierte den "Tag des Sieges" in der russischen Botschaft in Berlin – gemeinsam mit Ex-DDR-Chef Krenz und AfD-Fossil Gauland. "Ein neuer Tiefpunkt", kommentiert mein Kollege Martin Küper.



Klimaminister Robert Habeck und sein umstrittener Staatssekretär Patrick Graichen haben sich einem Bundestagsausschuss gestellt. Am Ende bleibt vieles unklar – auch, ob Graichen wirklich zu halten ist, schreiben unsere Reporter Johannes Bebermeier und Kati Degenhardt.



Zum Schluss

Oh, ein Thema hätte ich vergessen: Sie fragen sich, wie denn nun der Streit um die Kosten für die Flüchtlinge ausgegangen ist? Na ja, wie immer:

Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Tag. Morgen schreibt mein Kollege Peter Schink den Tagesanbruch, von mir hören Sie am Samstag wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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