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75 Jahre Israel: Darum tragen Deutsche Mitschuld am Dauerkonflikt des Landes


Meinung
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Tagesanbruch
Der Kreislauf der Rache

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.04.2023Lesedauer: 6 Min.
ISRAEL-INDEPENDENCE DAY/PROTESTSVergrößern des Bildes
Proteste in Tel Aviv gestern Abend. (Quelle: Corinna Kern/reuters)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

manchmal verändert sich die Welt so schnell, dass man dabei zusehen kann. Selten wurde so hektisch Geschichte geschrieben wie in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es herrschte Unsicherheit. Fremde Soldaten patrouillierten. Die ausländischen Besatzer bestimmten, wo es langging. Das Land solle geteilt werden, hieß es. Schließlich wurden Fakten geschaffen – und ein neuer Staat gleich mit. Seine schwer bewachte, militarisierte Grenze zog sich quer durch das Land. Eine neue Epoche hatte begonnen: eine Zeit der Konfrontation. Sie hält bis heute an.

Haben Sie es bemerkt? Vielleicht haben Sie es und ärgern sich ein bisschen darüber, dass ich nur einen neu gegründeten Staat erwähnt habe und auf der anderen Seite der Grenze keinen zweiten. Möglicherweise wundern Sie sich auch, dass der Konflikt selbst heute noch nicht zu Ende sein soll.

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Aber ich habe mich nicht vertan. Es geht nicht um die Bundesrepublik und die DDR. Sondern um eine andere Region, in der die Briten sich als Ordnungsmacht versuchten, während die Vereinten Nationen sich den Kopf darüber zerbrachen, wie man das Land aufteilen kann. Am heutigen Mittwoch feiert der Staat Israel das 75. Jubiläum seiner Gründung – in einem Landstrich, der bis dahin Palästina hieß. Es war eine blutige Geburt. Es ging ums Ganze. Die jüdischen Siedler kämpften um einen sicheren Hafen nach dem Horror des Holocaust, um eine neue Heimat im Land ihrer Vorfahren. Auch die Palästinenser kämpften um ihre Heimat. Dass es sich dabei um denselben Boden handelte, beschäftigt uns bis heute.

Die Kontrahenten jedoch haben sich gewaltig verändert. Wir würden den Staat Israel, der aus den Wirren der Nachkriegszeit hervorging, heutzutage kaum wiedererkennen. Linke Kräfte gaben damals den Ton an. Zum Beispiel in den Kibbuz-Siedlungen: Dort widmete man sich im Kollektiv der Landwirtschaft, alles gehörte allen, Einnahmen landeten in einem gemeinsamen Topf und wurden unabhängig von Job oder Qualifikation nur nach der Familiengröße aufgeteilt. Karl Marx hätte vor Freude einen Luftsprung gemacht. Die Sowjetunion überschlug sich förmlich, um den Staat Israel noch vor allen anderen anzuerkennen. Lange ist es her.

Jetzt, 75 Jahre später, gibt es selbst die Parteien von damals nicht mehr. Eine von Rechtsextremisten dominierte Regierung ist an der Macht. Das Land, das seine Existenz als Heimstatt für das verfolgte Judentum begann, ist mittlerweile selbst zur rabiaten Besatzungsmacht geworden. Radikalisierte, schwer bewaffnete Siedler gründen ihre Vorposten inmitten des kläglichen Restgebiets, das den palästinensischen Einwohnern noch geblieben ist. Nach Lesart der heutigen Siedler gehört das besetzte Westjordanland genauso zu Israel wie Tel Aviv. Sie glauben, die historische Mission fortzuführen, die 1948 in die Gründung Israels mündete.

Das ist nicht einmal ganz falsch, Parallelen gibt es jedenfalls. Auch damals führte die Konkurrenz um Grund und Boden zu einer Welle der Gewalt. Hunderttausende Palästinenser flohen. Israelis feiern heute ihren Unabhängigkeitstag, doch Araber haben für die Geburt der neuen Nation einen anderen Namen: "die Katastrophe". Beide Seiten tragen seither einen Gebietskonflikt in Reinform aus: Zwei Volksgruppen erheben exklusiven Anspruch auf dasselbe Land. Wie kann man da zum Frieden finden? Die Antwort haben wir 75 Jahre lang studieren können. Israel hat sich an einem nahezu unlösbaren Problem abgearbeitet – und dabei sein Gesicht verändert.

Dass es dazu gekommen ist, liegt an uns. Der europäische Antisemitismus hat Juden auf unserem Kontinent über Jahrhunderte das Leben immer wieder zur Hölle gemacht. Die Geschichte des sogenannten christlichen Abendlandes ist nicht von neutestamentarischer Nächstenliebe, sondern von Vertreibung, Pogromen und Massakern durchzogen. Als Deutsche kennen wir wie keine andere Nation den Endpunkt, auf den die antisemitische Hetze zusteuerte. Dennoch kann einen die Ungeheuerlichkeit des Holocausts noch immer wie ein Schock ereilen, egal, wie oft man davon gelesen oder darüber gesprochen hat. Die "Endlösung der Judenfrage" war industriell organisiert, als sei vor allem ein logistisches Problem zu lösen. Ihr Ziel: Sie sollte Menschen jüdischen Glaubens von der Erde tilgen. Ja, alle. Bis auf den letzten.

Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist deshalb nicht das Problem anderer Leute. Unsere eigenen Vorfahren tragen die Verantwortung dafür, dass Tausende Kilometer entfernt, am östlichen Ende des Mittelmeers, Menschen unterschiedlicher Herkunft denselben Boden als ihre Heimat beansprucht und diesen Anspruch immer wieder blutig ausgefochten haben. Israel hat in den Konflikten der vergangenen 75 Jahre mit härtesten Bandagen gekämpft. Israelis wissen, was geschah, als Juden nicht wehrhaft waren und millionenfach ermordet wurden. Nie wieder wollen sie wehrlos sein.

Den Preis dieser Entschlossenheit haben die Palästinenser bezahlt. Viele von ihnen hat der Krieg, aus dem Israel hervorging, zum Flüchtlingsdasein in den umliegenden Staaten verdammt. Auch sie sind in zweiter Instanz zu Opfern des Holocausts geworden. Die Taten unserer Väter und Großväter waren nicht nur ungeheuerlich, sie haben auch einen sehr langen Nachhall.

Für das, was sich in der Gegenwart in den besetzten Gebieten und in Israel selbst abspielt, reicht diese Erklärung allerdings nicht mehr aus. Seit Langem sind die israelische Armee, die jüdischen Siedler und die Palästinenser im Westjordanland in einer Endlosschleife der Gewalt gefangen. Palästinensische Familien werden an Checkpoints von israelischen Soldaten schikaniert. Siedler stürmen in arabische Ortschaften, versetzen die Bewohner in Angst und Schrecken und brennen deren Häuser nieder. Zugleich kann man in Jerusalem oder Tel Aviv nicht einmal an einer Bushaltestelle stehen, ohne mit der Angst leben zu müssen, dass ein palästinensischer Attentäter mit einem Messer auf die Wartenden losgeht oder mit dem Auto in die Menschenmenge rast. Es ist ein Kreislauf von Rache und Brutalität, der sich verselbstständigt hat.

Auch 75 Jahre später geht es also immer noch ums Ganze. In den besetzten Gebieten steigt die Bereitschaft zu Gewalt und terroristischen Anschlägen wieder. Teile der israelischen Gesellschaft wiederum sind in eine extremistische Ideologie abgedriftet, der jedes Mittel recht und inzwischen auch die Demokratie egal ist. Deren Vertreter sitzen mittlerweile auf der Regierungsbank. Zum Glück schaut die Mehrheit der Israelis dem nicht tatenlos zu und wehrt sich vehement dagegen. Der Kampf darum, was Israel sein soll, wird auch am heutigen Unabhängigkeitstag wohl wieder zu Massenprotesten führen. Israel ist gespalten: 75 Jahre alt, aber noch immer nicht angekommen.

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Zum Schluss

Egal, was die Ampelregierung tut, manche Leute sind nie zufrieden.

Ich wünsche Ihnen einen zufriedenen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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