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Zum journalistischen Leitbild von t-online.BVB im Titelrennen Was Dortmund alles richtig macht
Die Chance auf den Gewinn der Meisterschaft ist für den BVB so groß wie lange nicht. Das liegt nicht nur an der Schwäche der Bayern.
Der 29. Spieltag ist gespielt und der Tabellenführer heißt – Borussia Dortmund. Es ist ein Bild, an das sich die Fußballfans hierzulande wohl erst noch gewöhnen müssen. Denn Serienmeister Bayern München hatte die Spitzenposition in den letzten zehn Jahren zu diesem späten Zeitpunkt der Saison stets sicher gepachtet.
Die Tatsache, dass der BVB von der Tabellenspitze grüßen kann, liegt dabei zu einem großen Teil nicht an der eigenen Stärke, sondern an der Schwäche der Bayern. Ein Blick auf die Zahlen macht das deutlich: Nach dem 29. Spieltag der vergangenen Saison hatte der BVB 60 Punkte (Platz zwei) auf dem Konto – genauso viele wie in diesem Jahr. Am Ende der Saison stand Platz zwei und die Entlassung von Trainer Marco Rose. In diesem Jahr sind es also wieder 60 Zähler. Doch dieses Mal reicht es für die Tabellenführung, da die Bayern im Vergleich zu den 69 Punkten in der vergangenen Saison satte zehn Zähler weniger auf dem Konto haben.
Und dennoch: Dass die Borussia jetzt die große Chance auf den Gewinn der Meisterschaft hat, liegt auch daran, dass sie in den letzten Tagen und Wochen einiges richtig gemacht hat – ganz im Gegensatz zu ihrem Rivalen aus dem Süden.
Aus Talenten werden Leistungsträger
Zunächst einmal wäre da die Entwicklung der Spieler: In München ist einer der besten Kader in ganz Europa beisammen. So bezeichneten ihn auch die Klubbosse selbst. Doch die Liste der Topstars, die in der Rückrunde weit hinter ihrem Potenzial bleiben, ist lang. Serge Gnabry, Sadio Mané, Leon Goretzka, Jamal Musiala, Thomas Müller – sie alle sind schon seit Wochen weit von ihrer Leistungsgrenze entfernt. Hinzu kommt eine Reihe von Spielern mit schwankender Form, wie Dayot Upamecano, Joshua Kimmich oder Leroy Sané.
Dortmund hat es auf der anderen Seite geschafft, Spieler, die schon als ewige Talente verschrien waren, endlich an ihr volles Leistungsniveau heranzuführen. So entwickelten sich unter anderem Emre Can und Julian Brandt von Problemkindern zu Leistungsträgern. Der Kader steht so auf breiteren Füßen und es gelingt, Druck von Stars wie Jude Bellingham oder Marco Reus zu nehmen. Auch wenn sie schwächeln, ist der BVB weiter leistungsfähig.
Gelungenes Erwartungsmanagement
Der zweite wesentliche Punkt: Das Erwartungsmanagement ist in Dortmund deutlich besser gelungen als in München. Beim deutschen Rekordmeister ist das Beste gerade gut genug – und das sagen die Klubbosse auch regelmäßig laut. In der Champions League soll es mindestens das Halbfinale sein, ein Ausscheiden aus dem DFB-Pokal vor dem Finale wird ebenfalls als Enttäuschung verstanden, und die Meisterschaft muss nicht nur gewonnen, sondern dominiert werden.
Die enormen Erwartungen manifestierten sich spätestens in der Entlassung von Julian Nagelsmann. Diese begründeten Vorstandschef Oliver Kahn und Sportvorstand Hasan Salihamidzic damit, dass sie die sportlichen Ziele gefährdet sahen. Dabei war der FC Bayern zu diesem Zeitpunkt noch in allen drei Wettbewerben im Titelrennen, nur in der Meisterschaft ging es den Bossen wohl zu eng zu. Die Entscheidung für den Trainerwechsel fällt ihnen jedoch nun auf die Füße und in München ist das Chaos ausgebrochen.
Im Windschatten der Bayern
Beim BVB nutzte man die Gunst der Stunde, um im Windschatten des Bayern-Chaos eine famose Rückrunde zu spielen. Bis zum direkten Duell mit den Bayern blieb man ungeschlagen, verpasste nur im irren Spiel in Stuttgart (nur 3:3 nach 2:0-Führung) und im Revierderby gegen den FC Schalke einen Sieg – und brachte sich so in Position, um nun nach der Meisterschale zu greifen. Dabei zeigten vor allem die Klubbosse um Hans-Joachim Watzke und Sebastian Kehl, dass sie aus den vergangenen Jahren gelernt haben. Dort folgte auf hohe Erwartungen meist eine Trainerentlassung nach der anderen.
In dieser Saison vermied man das Wort "Meisterschaft" jedoch tunlichst. Der Kampf um den Titel wurde deshalb in dieser Saison nicht durch den BVB, sondern durch die Bayern ausgerufen, als diese sich durch ihre schlechten Leistungen dazu gezwungen sahen. Erst jetzt, wo sich die Situation nicht mehr wegreden lässt, nimmt man den Meisterschaftskampf in Dortmund auch offensiv an.
Watzke bleibt souverän
Generell präsentiert sich die Vereinsspitze in Dortmund deutlich souveräner als ihre Münchner Kollegen. So reagierte Bayerns Oliver Kahn auf Kritik an den Umständen der Nagelsmann-Entlassung, indem er sich im Live-TV ein Wortgefecht mit Lothar Matthäus lieferte. Der Zoff beschäftigte die Medien noch tagelang – ganz im Gegensatz zu dem darauffolgenden 4:2-Sieg über den BVB.
Wie es anders geht, zeigte BVB-Chef Watzke, als Bayerns Ministerpräsident Markus Söder jüngst einen Giftpfeil in Richtung des Konkurrenten schickte. Er sei "sehr optimistisch", dass Bayern Meister werde, sagte er im Rahmen eines Events der "Bild"-Zeitung. Denn: "Die Dortmunder sind eigentlich fast zu doof, um Deutscher Meister zu werden", so Söders Urteil. Statt eine Schlagzeilenschlacht zu starten, blieb Watzke jedoch souverän und antworte lediglich: "Die Antwort kommt spätestens in fünf Wochen."
Dortmund kann es allen beweisen
Die Botschaft des Klubbosses war deutlich: Wir konzentrieren uns auf das Sportliche und dann werden wir sehen, ob es am Ende reicht. Damit lebte Watzke eine Ruhe vor, die der Verein nach dem Einbruch beim 3:3 gegen Stuttgart gut gebrauchen konnte. Als alle bereit waren, die Dortmunder wieder als Titel-Versager abzuschreiben, blieb der Klub bei sich. Nicht zuletzt deshalb schaffte es die Mannschaft in der Folge, den Rückschlag gegen den VfB in Motivation umzuwandeln, statt zusammenzubrechen. Es folgte der überzeugende 4:0-Erfolg gegen Frankfurt am vergangenen Wochenende und damit der Sprung an die Tabellenspitze.
Am Freitag steht mit dem Duell beim VfL Bochum die nächste kniffelige Aufgabe an. Ähnlich wie die Stuttgarter werden die abstiegsbedrohten Bochumer bis zur letzten Sekunde kämpfen. Dortmund bekommt also die Chance zu beweisen, dass sie aus der Stuttgart-Enttäuschung gelernt haben und dieses Mal voll dagegen halten können. "Wir müssen jetzt beweisen, dass wir es auch durchziehen", sagte BVB-Coach Edin Terzić nach dem Sieg gegen Frankfurt. Auch er weiß, dass ein weiterer Erfolg gegen Bochum eine klare Botschaft senden würde: Dortmund ist reif für die Meisterschaft.
- Eigene Beobachtungen
- fussballdaten.de: Tabellen 2021/2022 und 2022/2023
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und SID