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Russland: Dieser Gegner packt Wladimir Putin bei seinem Ego


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Tagesanbruch
Niemand traut sich, das zu sagen

  • Steven Sowa
MeinungVon Steven Sowa

Aktualisiert am 23.02.2023Lesedauer: 6 Min.
Wladimir Putin fürchtet den Widerstand im eigenen Land.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin fürchtet den Widerstand im eigenen Land. (Quelle: Thomas Kronsteiner/getty-images-bilder)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Putin hat einen Angstgegner. Der russische Diktator fürchtet ihn so sehr, dass er ihn in die völlige Isolation sperren ließ. Vor 766 Tagen inhaftierte man ihn aus fadenscheinigen Gründen: Erst kam er ins Straflager Pokrow, im Juni 2022 wurde er verlegt. Seitdem sitzt dieser Mann in einer zweieinhalb mal drei Meter kleinen Zelle. Sie ist Teil der Strafkolonie IK-6 in dem russischen Dorf Melechowo, etwa 250 Kilometer östlich von Moskau. Der Ort ist berüchtigt dafür, dass seine Insassen gefoltert und getötet werden.

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Grund genug, an diesen Mann zu erinnern. Alexej Nawalny ist Wladimir Putins bekanntester Kritiker, ein Oppositioneller mit internationaler Strahlkraft. Doch er kann seine Stimme kaum noch gegen Putins Schurkenregime erheben. Nur selten schaffen es Nachrichten Nawalnys an die Öffentlichkeit. So wie vor drei Tagen.

Der russische Präsident habe "unter lächerlichen Vorwänden einen ungerechten Angriffskrieg gegen die Ukraine entfesselt", erklärte Nawalny in einer am Montag von seinem Team in Onlinenetzwerken veröffentlichten Botschaft. Die "wahren Gründe" für den Krieg seien die politischen und wirtschaftlichen Probleme Russlands, Putins Wunsch, um jeden Preis an der Macht zu bleiben sowie seine "Besessenheit von seinem eigenen historischen Erbe".

Niemand weiß sicher, was hinter den Mauern der Strafkolonie vor sich geht. Ex-Häftlinge sprechen von Gräueltaten. So wurde 2018 die Geschichte Gor Owakimjans bekannt. Er wurde wegen angeblichen Drogenhandels verurteilt. In der Strafkolonie IK-6 sei ihm mit einer Gürtelschnalle in den Unterleib geschlagen worden. Man habe ihm einen Eimer auf den Kopf gesetzt und anschließend Gas aus einer Sprühdose unter den Eimer gesprüht. Dazu sei laute Musik abgespielt worden.

Als Owakimjan in Haft starb, war eine Lungenentzündung die offizielle Todesursache. Doch seine Angehörigen veröffentlichten später Videos des Leichnams. Diese zeigten Spuren eines Elektroschockers, gebrochene Finger und Zehen, verletzte Genitalien, ein riesiges Hämatom am Oberschenkel, auf dem Rücken einen schwarzen Streifen.

Dass es Folter gibt, ist in Russland ein offenes Geheimnis. Nawalny wehrt sich seit seiner Inhaftierung erfolglos gegen Misshandlungen. Jede Nacht werde er geweckt mit der Begründung, es bestehe Fluchtgefahr. Was noch alles mit dem 46-Jährigen geschieht, mag man sich nicht ausmalen. Doch es scheint so, als zeige Putins Folter keine Wirkung. Denn seinen Verstand hat Nawalny nicht verloren. Mit seinen Aussagen zu dem vor einem Jahr von Russland entfachten Krieg trifft er Putin an einer empfindlichen Stelle: an seinem Ego.

"Den Krieg fortzusetzen ist ein Schrei von Hilflosigkeit, aber ihn zu beenden, ist eine Geste der Stärke", ließ Nawalny verlauten und meinte damit vor allem: Putin besitzt nicht die Größe, Fehler einzugestehen. Er ist verblendet und schwach – und er handelt nicht zum Wohle seines Volkes, sondern nur, um seine eigenen Allmachtsfantasien zu stillen.

Doch niemand in Russland traut sich, das zu sagen. Putin hat nicht nur Russlands bekanntesten Oppositionellen in die Isolation verfrachtet, er hat auch sein Volk zum Schweigen gebracht. Russen profitieren entweder vom korrupten Kreml-Regime: dann halten sie die Füße still. Oder sie sind verängstigt ob der Vergeltungsmaßnahmen, die ihnen bei Kritik an der Führung drohen. Und dann wären da noch die Hunderttausenden, die Russland den Rücken gekehrt haben, um im Exil ihr Glück zu finden.

Alexej Nawalny hat den Mut, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, Putin als Verbrecher zu benennen. Dafür wurde er vom russischen Geheimdienst vergiftet – und brach dennoch nur fünf Monate später nach einer Behandlung in der Berliner Charité zurück in seine Heimat auf. Ein Giftanschlag konnte ihn nicht kleinkriegen, er wollte weitermachen.

Also ließ man ihn festnehmen. Noch am Flughafen verschleppten ihn die Putin-Schergen. Seitdem ist er weitgehend von der Bildfläche verschwunden. All das musste Nawalny befürchtet haben. Kurz nach seiner Verhaftung enthüllte sein Team die Investigativrecherche "Putins Palast". Sie zeigt den obszönen Reichtum des russischen Präsidenten und ein gigantisches Anwesen am Schwarzen Meer. Auch wegen der Brisanz dieser Bilder gilt es als unwahrscheinlich, dass Nawalny zu Putins Lebzeiten Gnade erfahren wird. Mindestens neun weitere Jahre soll er in seiner Zelle einsitzen.

Wir dürfen diesen Mann nicht vergessen. Sein Ideal von einer funktionierenden parlamentarischen Republik Russland zeigt einen Ausweg. Nur wenn wir regelmäßig an ihn erinnern, seine Geschichte erzählen, das Interesse an Nawalny nicht versiegt, bleibt der Druck auf Putins Regime groß genug, um Nawalny nicht einfach um die Ecke zu bringen – so wie es mit Gor Owakimjan geschehen ist, einem Mann, der nicht kooperieren wollte und dafür offenbar büßen musste.

Nawalny wurde rund ein Jahr vor Kriegsbeginn ins Gefängnis geworfen. Hunderttausende gingen überall in Russland auf die Straßen, demonstrierten, riefen: "Putin ist ein Dieb". Sie prangerten die Unrechtmäßigkeit der Inhaftierung an, kritisierten die Vorgänge als politisch motiviert. Zu Tausenden wurden diese Demonstranten daraufhin drangsaliert, in Untersuchungshaft gesteckt, mundtot gemacht. Seitdem ist es still geworden, zu still. Ein Unruheherd wie Nawalny fehlt, eine moralische Instanz mit der Kraft, Russland auf den rechten Weg zurückzubringen.

Den Aufruf "NawalNIE vergessen" sollten wir deshalb an diesem 23. Februar 2023 verinnerlichen. Denn mit einer funktionierenden Opposition, mit Nawalny und anderen Mutigen wäre vor einem Jahr die Katastrophe vielleicht noch zu verhindern gewesen. Jetzt tobt der Krieg seit 364 Tagen. Zeit, dass sich daran endlich etwas ändert.


Termine des Tages

Eine Umweltkatastrophe wie die in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Sommer 2021 soll es nie wieder geben. Eine Lehre aus den Ereignissen von damals: Es braucht ein besseres Warnsystem. Bund und Länder haben beschlossen, Cell Broadcast in Deutschland einzuführen. Im Dezember 2022 getestet, steht das System ab diesem Donnerstag nun bundesweit zur Verfügung. Zuständig ist das Bonner Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Ab sofort kann Cell Broadcast also warnende Textnachrichten verschicken, zum Beispiel in Form einer SMS. Hoffen wir, dass es Hilfe bietet – und es nicht (zu oft) gebraucht wird.

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Die UN-Vollversammlung zum Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine geht weiter. Um 16 Uhr soll Außenministerin Annalena Baerbock in New York eintreffen, am Abend wird sie eine Rede halten. Gewiss wird die Grünen-Politikerin die mörderische Invasion in die Ukraine verurteilen. Doch entscheidender dürfte sein, wie scharf die geplante Resolution am Ende der Vollversammlung formuliert ist.

Über die Kriegsverbrechen in der Ukraine informiert heute auch ein internationales Ermittlerteam in Den Haag. Am Internationalen Strafgerichtshof laufen seit März 2022 Untersuchungen in der Sache. Um 11 Uhr wird es eine Pressekonferenz zum aktuellen Stand der Ermittlungen geben.

Die Spiele der Champions League sind vorbei, nun geht es um die Europa League. Bayer Leverkusen muss in Monaco ab 18.45 Uhr das 3:2 aus dem Hinspiel wettmachen, um doch noch ins Achtelfinale einziehen zu können. Für Union Berlin hingegen geht es bei null los: An der Alten Försterei gastiert Ajax Amsterdam, das Hinspiel in den Niederlanden endete torlos. Ob den Berlinern vor heimischem Publikum die Sensation gelingt? Anstoß ist um 21 Uhr.


Was lesen?

Die Stimme ist das Kapital eines jeden Kommentators. Doch seit seiner Gesichtslähmung ist Reporter Marcus Lindemann stark beeinträchtigt. Mit meinem Sportkollegen Noah Platschko spricht der 56-Jährige erstmals ausführlich über seinen Gesundheitszustand.


Der gewaltsame Tod eines fünfjährigen Mädchens schockiert Berlin. Am Morgen danach war mein Kollege Yannick von Eisenhart Rothe in dem Park unterwegs, wo das Mädchen gefunden wurde. Viele dort fragen sich vor allem eines: Warum?


Seit Jahrzehnten forschen Mediziner an der Behandlung von Krebs. Jetzt soll ein neuer Therapieansatz kommen. Meine Kollegin Christiane Braunsdorf erklärt Ihnen, was das mit Corona zu tun hat.


Was amüsiert mich?

Neue Ideen braucht das Land – und zur Ruhe zu kommen, halte ich immer für einen guten Ansatz.

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag. Morgen schreibt Florian Harms den Tagesanbruch für Sie.

Herzliche Grüße,

Ihr

Steven Sowa
Redakteur Unterhaltung
Twitter @StevenSovani

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Mit Material von dpa.

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