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Russland von den Zaren bis Putin: “Nichts fürchteten sie mehr”


Großmacht Russland
"Nichts fürchteten die Herrscher mehr"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 10.12.2024Lesedauer: 13 Min.
Karneval in Mainz (Archivbild): Putin versucht es den Zaren nachzumachen.Vergrößern des Bildes
Karneval in Mainz (Archivbild): Putin versucht, es den Zaren nachzumachen. (Quelle: Fredrik Von Erichsen/dpa)
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Russland verbreitet Furcht und Schrecken, das Riesenreich scheint unergründlich zu sein. Doch ist das wirklich so? Historiker Jörg Baberowski entschlüsselt, wie Russland wurde, was es ist.

Immer wieder überrascht Russland den Westen, als geheimnisvoll und nicht zu entschlüsseln gilt das Land, das gegenwärtig unter Einsatz extremer Gewalt die Ukraine unterwerfen will – und unverhohlen mit dem Einsatz seiner Atomwaffen droht. Wer wirklich verstehen will, was Russland ausmacht, muss den Blick zurück ins Zarenreich werfen, sagt Historiker Jörg Baberowski, der kürzlich das Buch "Der sterbliche Gott" über Macht und Herrschaft in Russland veröffentlicht hat. Im Interview erklärt der Experte für Osteuropa, warum das Riesenreich so anders ist als der Westen.

t-online: Professor Baberowski, Russland gilt im Westen als Rätsel, Geheimnis und Mysterium, wie es der britische Premier Winston Churchill einmal ausgedrückt hat. Kann man Russland überhaupt verstehen?

Jörg Baberowski: Selbstverständlich lässt sich alles verstehen. Man muss sich nur der Klischees bewusst werden, die man mit sich herumträgt, und versuchen, sich von ihnen zu distanzieren. Eines dieser Klischees lautet, man könne Russland nicht verstehen.

In Ihrem neuen Buch "Der sterbliche Gott" konzentrieren Sie sich auf Macht und Herrschaft im Reich der Zaren, um Russland besser verständlich zu machen. Warum haben Sie diesen Fokus gewählt?

Wo Menschen zusammenkommen, entstehen Machtbeziehungen. Alles Leben ist von Macht durchzogen. Macht ist das Vermögen, anderen seinen Willen aufzuzwingen, sich gegen Widerstreben durchzusetzen. Die Frage nach der Macht ruft nach Antworten, die Aufschluss geben über den Kern staatlicher Herrschaft. Ohne dieses Wissen werden wir nicht verstehen, was derzeit in Russland geschieht.

Die Zaren haben ihre Herrschaft über Jahrhunderte als nahezu allmächtig inszeniert. War es mehr Schein als Sein?

Herrschaft war in Russland ständig herausgefordert und bedroht. Seit Peter I. – auch der Große genannt – setzten die Zaren das Imperium unter ständigen Modernisierungsstress, den sie politisch aber nur unzureichend absichern konnten. Herrschaft, die schwach ist, greift auf Gewalt zurück, inszeniert sich als scheinbar allmächtig. Aber das ist nichts weiter als eine Illusion. Mir geht es darum, Situationen zu beschreiben, in denen Herrschaft herausgefordert und erschüttert wird. Erst im Moment der Krise zeigt sich, wie Herrschaft verfasst ist und was sie zu leisten imstande ist. Das Reich der Zaren hielt sich über Jahrhunderte am Leben, und dann fiel es im Februar 1917 in wenigen Tagen zusammen. Dieses Geschehen verlangt nach einer Erklärung.

Zur Person

Jörg Baberowski, Jahrgang 1961, lehrt Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsfelder sind unter anderem der Stalinismus und die Geschichte der Gewalt. 2012 erhielt der Historiker den Preis der Leipziger Buchmesse für sein Standardwerk "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt". Kürzlich erschien Baberowskis neues Buch "Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich" (Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung) im Verlag C.H. Beck.

Was sind Macht und Herrschaft?

Macht ist, wenn die Gewalt sich mehr Zeit lässt, wenn von selbst geschieht, was sonst nur unter Androhung von Gewalt gelingt. Man trägt die Regeln, denen man folgen soll, mit sich herum. Jeder tut sich den Zwang nun selbst an. Herrschaft hingegen ist Macht, die sich in Institutionen, Gesetzen, Verfahren und Ritualen ablagert, sie ist Macht, die feste Formen annimmt. Weil auch der mächtigste Herrscher einmal schlafen muss, delegiert er Machtfunktionen an Dritte, die an seiner Stelle dafür sorgen, dass die Untertanen gehorchen. Die Bürokratie ist der Wächter der Macht.

Nun setzten die Zaren immer wieder exzessive Gewalt zur Durchsetzung ihrer Herrschaft ein. Was ist der tieferliegende Grund?

Philosophen wie Thomas Hobbes, John Locke oder Jean-Jacques Rousseau stellten sich den Staat als Produkt eines Vertrages vor: Menschen, die nach Sicherheit suchen, einigen sich darauf, Schutzfunktionen zu übertragen. Man gehorcht, weil der Staat Ordnung garantiert. Auf diese Formel könnte man diese Übereinkunft bringen. In Wahrheit ist die Unterwerfung der eigentliche Entstehungsgrund aller Staatlichkeit. Der Gesellschaftsvertrag ist nur eine nachträgliche Legitimation, die verständlich machen soll, warum wir gehorchen. Der Gedanke, man habe seiner Unterwerfung aus eigenem Interesse zugestimmt, wäre in Russland vollkommen unverständlich gewesen. Denn dort war der Staat als Unterwerfungs- und Versklavungsmaschine in die Welt gekommen.

Wie das?

Der moderne Interventionsstaat war in der Frühen Neuzeit vor allem eine Gewaltmaschine, die sich gegen Partikularinteressen durchzusetzen versuchte. Grausame Strafen, öffentliche Hinrichtungen, Folter und Kriege mit Massenheeren waren Ausdrucksformen moderner staatlicher Herrschaft. Der Staat versuchte, Menschen in Untertanen und Verfügungsobjekte zu verwandeln. Das konnte er in seiner Frühzeit nur, indem er sich maßloser Gewalt bediente. In Russland blieb der Staat über Jahrhunderte ein brutales Erzwingungsinstrument, das Untertanen gegen ihren Willen in den Dienst zwang. Daraus ergaben sich Konsequenzen für die Beschaffenheit der Herrschaft.

Wie sahen diese Konsequenzen aus in einem Reich, das sich immer riesigere Gebiete unterwarf?

Je schwächer der Staat und je größer das Territorium ist, das er unterwerfen will, desto rücksichtsloser tritt er in das Leben. Warum? Weil er Gehorsam nur durch die Erzeugung von Furcht erzwingen kann. Der französische Philosoph Montesquieu verwies auch auf den Zusammenhang zwischen der Größe eines Landes und den maßlosen Ansprüchen zentralisierter Herrschaft. Je kleiner das Territorium und je maßvoller die Ziele, desto weniger Gewalt braucht der Herrscher, um sich durchzusetzen.

Mäßigung ist sicher kein Begriff, der sich auf Peter I. und seine Ziele für Russland anwenden lässt. Binnen kürzester Zeit wollte der Zar sein Reich an der Peripherie Europas "verwestlichen". Was stellte dieses Vorhaben – dessen Auswirkungen wir bis heute spüren – mit Russland an?

Seit Peter I. Russland nach Westen geöffnet hatte, setzte er den Staat unter einen unaufhörlichen Modernisierungsdruck. Peter führte ununterbrochen Krieg und versuchte, Europa nach Russland zu bringen. Aber er hatte nur begrenzte Mittel, seine Vorhaben auch zu verwirklichen, Staatlichkeit durchzusetzen. Schwache Staatlichkeit wurde durch die Verschärfung der Leibeigenschaft, durch Sklaverei und Gewalt kompensiert. Die Schwäche der Staatlichkeit war für die Zaren Fluch und Segen zugleich: Fluch, weil sich ihre Herrschaft nur schwer durchsetzen ließ, Segen, weil sich die Untertanen nicht gegen sie verbünden konnten.

War es der sprichwörtliche Ritt auf der Rasierklinge, der damals begann? Angesichts der zahlreichen Krisen, Revolten und Konflikte, die Sie in Ihrem Buch nennen, verwundert es, dass das Zarenreich überhaupt so lange bestand.

Die Fragilität der staatlichen Ordnung war ihren Repräsentanten sehr wohl bewusst. Denn despotische Gewalt mag zwar Ruhe erzeugen, aber sie schafft weder Frieden noch Vertrauen. Die zarische Herrschaft lebte von täglicher Improvisation. Mit Erstaunen haben schon die Zeitgenossen beobachtet, dass es Russlands Herrschern scheinbar mühelos gelang, ihren Willen durchzusetzen, ohne Widerspruch zu provozieren.

Peter I. zwang Russland also eine "Rosskur" auf, wie Sie es in "Der sterbliche Gott" auf den Punkt bringen, die das Land gar nicht verkraften konnte?

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Aufklärung und Verwestlichung hinterließen eine blutende Wunde im russischen Leben, wie der russische Schriftsteller und Philosoph Alexander Herzen einst schrieb. Die Modernisierung setzte das Zarenreich unter Stress, sie spannte die Eliten in den Dienst und verwandelte Bauern in Sklaven. Peter I. trennte den Adel von den Bauern, trieb Neues mit dem Furor des Bekehrten ohne Rücksicht auf die russische Wirklichkeit in das Leben seiner Untertanen. So gesehen waren Aufklärung und Unfreiheit in Russland zwei Seiten einer Medaille.

Was unterschied Russland damals von den anderen Staaten in Europa?

Der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 war der Vater des modernen Zentralstaates. Nach der Erfahrung der Katastrophe versuchten die gekrönten Häupter in Europa, die lokalen Autoritäten und Stände zu entmachten, die Gewalt zu zentralisieren und zu monopolisieren und die Grenzen des Staates gegen äußere Angriffe zu schützen. Die Polizei und die stehenden Heere mussten jedoch über Abgaben finanziert werden. Für die Eintreibung von Steuern und die Rekrutierung von Menschen waren nun zentrale Behörden zuständig, deren Effizienz aber vom Zugriff auf schon bestehende partikulare Gewalten abhing.

Preußen wurde für seine effiziente und schlagkräftige Armee bewundert und gefürchtet.

In Preußen gelang es, die partikularen Gewalten in den Zentralstaat zu integrieren und zu neutralisieren. Auf diese Weise konnte der Staat seine Ansprüche durchsetzen und der lokalen Verwaltung seinen Geist einhauchen. Die Stände wurden entmachtet, aber sie verwandelten sich in Transmissionsriemen des Staates, die Adligen erhielten Ränge in der Staats- und Militärverwaltung, wurden also großzügig privilegiert. Der Absolutismus entmachtete die Stände, aber er brauchte sie, um sich durchzusetzen.

Das Ergebnis dieses europäischen Prozesses bewunderte Peter I. dann auf seinen Reisen durch Europa, als Ergebnis musste Russland die Begeisterung seines Zaren für den Westen ausbaden?

Der Zar war überwältigt von dem, was er im Westen Europa zu sehen bekam: stehende Heere, effiziente Verwaltungsbehörden, ständische Institutionen, Landeskirchen. Das alles schien es in Russland nicht zu geben. Und so kam Peter I. auf die Idee, von den Erfahrungen der Europäer zu lernen, ihre Ordnungsmodelle und Kultur zu kopieren.

Wie konnte Peter I. glauben, dieses gewaltige Projekt binnen kurzer Zeit im Zarenreich durchführen zu können?

Es gab in Russland nichts von dem, was Peter brauchte: keine Stände, keine Städte eigenen Rechts, keine Bürokratie. Und so schuf sich der Staat die Voraussetzungen selbst, über die er sich im Leben bemerkbar machen konnte, indem er die Untertanen in den Dienst zwang und sie dorthin schaffte, wo er sie für seine Zwecke einsetzen konnte. Das Neue kam mit den Methoden des Alten in die Welt, es begründete weder Gesellschaft noch Autonomie, sondern erfüllte die Institutionen mit dem Geist der Unfreiheit.

Steingewordenes Symbol von Russlands erzwungener Hinwendung zum Westen ist die alte Hauptstadt Sankt Petersburg.

Sankt Petersburg ist ein Symbol für die menschlichen Kosten der Verwestlichung. Zehntausende Zwangsarbeiter stampften die Stadt aus dem sumpfigen Boden, Tausende wurden in die Stadt deportiert, um in ihr zu wohnen. Auch andere Städte wurden, wie Sankt Petersburg, am Reißbrett entworfen und besiedelt. Der Geist bürgerlichen Eigensinns konnte sich unter solchen Bedingungen nicht entwickeln.

Peter I. betrieb also in gewisser Weise einen Kampf gegen das eigene Volk?

Peter verstand sich als Lehrmeister und Zuchtmeister; wer sich dem Modernisierungsprogramm nicht fügte, bekam die Peitsche zu spüren. Es ist paradox: Aber die Leibeigenschaft verschärfte sich in dem Augenblick, als der Zar Russland nach Westen öffnete, weil alle menschlichen Ressourcen für den Dienst mobilisiert wurden. Das stehende Heer rief nach Rekruten, der Adel nach Unfreien, die er nach Belieben ausbeutete, um seinen Militärdienst zu finanzieren. Despotie und Aufklärung standen in einem eklatanten Missverhältnis zueinander.

War sich Zar Peter dieser Tatsache bewusst?

Peter I. hatte nur ein instrumentelles Verhältnis zur Aufklärung, der Zusammenhang von Verwestlichung und persönlicher Freiheit wurde ihm nicht zur Frage. Erst Katharina II., die aus Deutschland kam, war sich dieses Dilemmas bewusst. Sie verstand sich als Aufklärerin auf dem Thron, aber sie scheiterte an den Widrigkeiten schwacher Staatlichkeit. Zwar hob sie die Dienstpflicht für den Adel auf, führte eine ständische Selbstverwaltung in den Provinzen ein, aber sie konnte die Leibeigenschaft nicht beenden, weil die Gutsherren die einzigen Vertreter des Staates waren, die ihr in den Provinzen zur Verfügung standen. Katharina erleichterte das Los der Eliten auf Kosten der Bauern.

Die russischen Adligen ließen es sich gutgehen, während die leibeigenen Bauern für sie schuften mussten. Insofern paktierten Adel und Zaren fortan aufs Innigste und profitierten voneinander?

Das ist richtig. Autokratie und Adel waren in einem unausgesprochenen Vertrag miteinander verbunden, der Zar und seine Armee die Lebensversicherung der Eliten. Die Eliten wollten Europäer sein, aber der Adel konnte sich dieser Illusion nur hingeben, weil Sklaven seinen Lebensstil finanzierten. Die Bauern zahlten den Preis für die Verwestlichung der Oberschichten und die Kontrollbedürfnisse des Staates. Katharina II. opferte ihre aufgeklärten Programme auf dem Altar des Pragmatismus, und erstmals beugte sich die Autokratie den Wünschen ihrer adligen Diener. Mit dieser Hypothek war die Herrschaft seither belastet.

Ihr Buch handelt allerdings nicht nur von Despotie, Gewalt und Konflikt im Zarenreich, sondern auch von der sich darin entwickelnden künstlerischen Kultur, die ganz Europa begeisterte. Wie war deren Entstehung möglich?

Man muss sich einen grundlegenden Unterschied zwischen Europa und dem Zarenreich klarmachen. Im Westen Europas entwickelten sich liberale Vorstellungen von Demokratie, Menschenrechten und Gewaltenteilung im Milieu des Bürgertums, in Korporationen, Ständen und Universitäten. In Russland war das geistige Potenzial hingegen in der Staatsbürokratie konzentriert. Auch der Liberalismus war eine Angelegenheit der Eliten, die nun versuchten, ihren Staat von innen zu verändern, ihn zu reformieren und zu mäßigen.

Also war es ein Elitenprojekt, das die Lebenswelt eines Großteils der Bevölkerung Russlands damals überhaupt nicht berührte?

Ja. Die Liberalisierung war ein Werk der Bürokratie, sie kam von oben. Die aufgeklärten Bürokraten, wie man sie genannt hat, versuchten in den 50er- und 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts, den Raum des Sagbaren zu erweitern und ihn für Kritik zu öffnen. Die herrschenden Eliten wollten nicht weiterleben wie bisher. Und so kam die Idee der Freiheit in das Leben von Millionen.

1856 hatte der als liberal geltende Alexander II. seinen reaktionären Vater Nikolaus I. auf dem Thron abgelöst.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts verlor der russische Staat seinen despotischen Charakter. Alexander II. hob die Leibeigenschaft auf, die Rechtsprechung wurde von der Exekutive getrennt, eine lokale Selbstverwaltung in Russland eingeführt. Die unabhängige Justiz zog kritische junge Menschen geradezu magisch an. Lenin, später Führer der Bolschewiki, und Alexander Kerenski, ein prominenter Sozialrevolutionär und Abgeordneter der Duma, waren Anwälte, bevor sie sich der Revolution verschrieben. Auf dem Markt erschienen Zeitungen und Journale in hoher Auflage. Charles Dickens, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, John Stuart Mill und die Bücher anderer westlicher Autoren wurden gekauft und gelesen. In wenigen Jahren eröffnete sich eine vollkommen unbekannte, neue Welt. Aus Untertanen wurden Bürger, die den Geist der Freiheit atmeten.

War es auch die Entdeckung des Gewissens durch Teile der russischen Elite?

Die Elite entdeckte nicht nur ihr schlechtes Gewissen, sie zog aus dieser Entdeckung auch Konsequenzen. Die Schriftsteller Iwan Turgenjew und Lew Tolstoi litten unter der Gleichgültigkeit, mit der die Elite dem Leiden der Bauern begegnet war. Sie engagierten sich für die Belange des einfachen Volkes, wollten nicht länger auf Kosten der Bauern ein üppiges Leben führen. Dieses Leiden am schlechten Gewissen richtete auch ihr Verhältnis zum Staat ein, der abgelehnt und bekämpft wurde, weil man ihn für das Elend verantwortlich machte.

Allerdings sind sie am Ende gescheitert. Warum?

Es hat am Ende nicht funktioniert, weil die Elite vom Rest des Volkes nahezu vollständig getrennt war. Die russischen Intellektuellen hatten kein Publikum, mit dem sie sich hätten verständigen können. Die Kaufleute in den Städten waren konservativ, die Bauern lebten in einer anderen Welt. Im Grunde waren die verhassten Beamten in der Bürokratie das einzige Publikum, mit denen Intellektuelle in einen Austausch treten konnten. Und weil Intellektuelle nicht erproben konnten, was sie sich ausgedacht hatten, verwandelten sich Ideen in Ikonen, die angebetet und verehrt wurden, nur weil sie aus Europa stammten. Die russische Intelligenzija entwickelte eine Mentalität, wie man sie in weltabgewandten religiösen Sekten findet.

Eine Mentalität, die dann auch in Teilen in Extremismus und Terrorismus ausartete. 1881 ermordete eine sozialrevolutionäre Organisation ausgerechnet Alexander II., der 20 Jahre zuvor die Leibeigenschaft in Russland abgeschafft hatte.

Alexander II. lebte angesichts der terroristischen Bedrohung in Furcht, verbarrikadierte sich hinter Palastmauern. Am Ende fiel er dem Terror zum Opfer. Es ist tragisch, dass ausgerechnet Alexander II., der Reformer, von Terroristen getötet wurde, die nicht verstanden, dass der zarische Staat auch ihre Lebensversicherung war. Alexanders Sohn beendete die Ära der liberalen Reformen.

Alexander II. bekannte einmal, dass er Russland eigentlich verachte.

Alexander II. war ein Mann, der im frühen 19. Jahrhundert sozialisiert worden war, der sich die Autokratie als Erzieher und Dompteur des Volkes vorstellte. Für die Lebenswelt der Untertanen brachte er kein Verständnis auf, die Vorstellung, es könne auch außerhalb der Bürokratie Sinnvolles hervorgebracht werden, war ihm vollkommen fremd. Die Industrialisierung des Zarenreiches im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aber erschütterte all diese Gewissheiten und stellte das Leben auf den Kopf. Auf diese Erschütterung war das staatliche Gefüge nicht vorbereitet.

Inwiefern?

Die sozialen Verwerfungen der Industrialisierung konnten vom Staat nicht abgefedert werden. Millionen Bauern wanderten in die Städte, Sankt Petersburg und Moskau veränderten ihr soziales Antlitz binnen weniger Jahre. Russlands Industriestädte wurden von Bauern erobert, die die Kultur des Dorfes nun auch in der Stadt verankerten. Es gab keine Sozialversicherung, keine Gesundheitsfürsorge, keine Polizei, die modernen Ansprüchen gerecht geworden wäre. In den Städten entluden sich gewalttätige soziale Konflikte, auf die die Staatsgewalt nicht vorbereitet war und der sie nicht Herr wurde.

Nach der Ermordung Alexander II. kam es in südrussischen und ukrainischen Gouvernements zu Pogromen gegen Juden. War es ein Kontrollverlust der Herrschaft?

Nichts fürchteten Russlands Herrscher mehr, als die Entladung sinnloser und epidemischer Gewalt. Pogrome ereigneten sich vor allem an den Bahnlinien und Verkehrsknotenpunkten, überall dort, wo Nachrichten übermittelt werden konnten. Das soziale Gefüge war fragil, die Sicherheitsorgane auf die Massierung von Gewalttätern nicht vorbereitet.

1905 loderte die Gewalt in Russland erneut auf. Nach der Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg forderten Revolutionäre Reformen, die Armee schoss sie zusammen.

Zwar war die Revolution des Jahres 1905 ein blutiges Geschehen. Aber Russland war nach ihrem Ende auch ein anderes Land. Nikolai II. gewährte eine Verfassung, berief ein Parlament. Seit 1906 war das Zarenreich eine konstitutionelle Monarchie. Die Zensur wurde abgeschafft, mehr Menschen als je zuvor gingen zur Schule, niemals hatte es so viele Zeitungen und Journale gegeben. Die Liberalen bekamen, was sie verlangt hatten: ein Parlament und eine Verfassung, und sie begriffen, dass sich ihre Partizipationschancen erweiterten. Die Revolution öffnete auch der radikalen Intelligenzija die Augen. Sie verstand, dass die Staatsgewalt mit ihren Bajonetten auch sie vor der Wut des Volkes schützte.

Die Duma galt aber als zahnlos, später als gescheitert: Im Prinzip hat sie also nichts bewegt?

Man muss das konstitutionelle Experiment an seinen Möglichkeiten bemessen. Das Wahlgesetz privilegierte die Besitzenden und Gebildeten, und dennoch gab es in der Duma Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre, Liberale und Konservative, Polen, Georgier, Tataren und Ukrainer. Hätte man das russische Wahlgesetz von 1905 auf Großbritannien angewandt, dann wäre das Unterhaus von Abgeordneten aus Indien dominiert worden. Die Duma war eine Bühne, auf der sich alle Regionen des Imperiums zur Sprache bringen konnten.

Allerdings verblieben diesem Reich nur noch wenige Jahre bis zu seinem Untergang. Besteht darin Russlands Tragik, die bis heute fortgreift?

Der Erste Weltkrieg hat all diese Errungenschaften zunichte gemacht, weil das Zarenreich auf die Herausforderungen des totalen Krieges nicht vorbereitet war. Es ging 1917 schließlich in inneren Wirren zugrunde.

Ist das Zarenreich letztlich auch an seiner Größe und dem imperialen Anspruch gescheitert?

Sergei Witte, der wohl einflussreichste Politiker im späten Zarenreich, riet Nikolai II. davon ab, Russland in den Weltkrieg zu führen, und er sagte ihm voraus, was geschehen werde, sollten die Armeen des Zaren unterliegen. In seinen Memoiren findet sich auch eine hellsichtige Reflexion über das Vielvölkerreich. Russland müsse sich vom Imperium verabschieden, sich von seinen nationalen Rändern trennen, wenn es in Frieden leben wolle, schrieb er. Russland müsse sich als Nationalstaat neu erfinden, vom Imperium lassen. Leichter gesagt als getan. Denn am Ende errichteten die Bolschewiki das Imperium auf neuen, stabilen Fundamenten. Und auch heute fällt es den Eliten offenbar schwer, sich vom Vielvölkerreich vergangener Tage zu verabschieden.

Haben Sie Hoffnung für Russland, das derzeit sein Imperium durch den Krieg gegen die Ukraine restaurieren will?

Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Russland sich eines Tages verändern und seinen inneren Frieden finden wird. Das aber wird nur gelingen, wenn alle an diesem Krieg beteiligten Parteien nicht die Fehler wiederholen, die in diese Katastrophe geführt haben.

Professor Baberowski, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jörg Baberowski via Videokonferenz
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