Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Orcas rammen Boote in Europa Will "Willy" sich jetzt am Menschen rächen?
Vor den europäischen Küsten werden immer wieder Boote von Orcas zerstört. Was steckt dahinter?
Sie werden auch als Wölfe des Meeres bezeichnet, denn im Rudel zeichnen sie sich als erbarmungslose Jäger aus: Orcas. Auf ihrem Speiseplan stehen eigentlich andere Meeresgiganten: Thunfische, Pinguine, Robben, Delfine, andere Wale und Haie. Dieses Jahr allerdings häufen sich die Schlagzeilen über angebliche Orca-Angriffe auf Schiffe und ihre Besatzungen in Südeuropa. Schilderungen von Betroffenen lösen Gänsehaut aus – sie beschreiben ein äußerst aggressives und hartnäckiges Verhalten der Tiere, die unter anderem ihre Boote rammten und versuchten, diese zum Kentern zu bringen.
Neuer Vorfall vor den Shetlandinseln
Und tatsächlich: Immer wieder musste der Seenotdienst im April und im Mai betroffene Besatzungen an der Straße von Gibraltar bergen. Zwischenfälle gab es auch vor der Küste Portugals und weiter nördlich im Atlantik vor der spanischen Region Galicien. Anfang Mai ging vor Cádiz das Schweizer Boot "Champagne" nach einem Zwischenfall mit Orcas sogar unter.
Der jüngste Vorfall hat sich nun im Norden abgespielt. Am vergangenen Montag rammte ein Tier wiederholt eine Jacht vor den schottischen Shetlandinseln. Das Erstaunliche: Es sei das erste Mal, dass ein Orca der nördlichen Population dasselbe Verhalten zeige wie seine Artgenossen im Süden Europas.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen Instagram-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren Instagram-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Will "Willy" sich jetzt am Menschen rächen?
Doch warum agieren Orcas so? In den Medien kursieren neben den gruseligen Berichten auch wilde Spekulationen. Darunter eine Theorie, dass das Verhalten von einer Orca-Dame mit dem Namen Gladis Blanca, zu Deutsch Weiße Gladis, weitergegeben worden sei. Der Geschichte zufolge habe entweder die Walkuh oder eines ihrer Jungen sich in einem Fischernetz verfangen und sei von einem Boot angefahren worden. Das habe bei den Walen für eine Reaktion auf eine negative Erfahrung gesorgt. Gladis Blanca habe 2021 mit ihrer neugeborenen Tochter Boote angegriffen, heißt es.
Auch wenn die Tiere aktuell viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wird schon seit einigen Jahren über Zwischenfälle mit den Meeressäugern berichtet. Dass Orcas keine handzahmen "Willys" sind, sondern intelligente Raubtiere, ist mittlerweile wohl den meisten Menschen bekannt. Dennoch werden sie als Raubtiere oft unterschätzt.
Ob die "Interaktionen" mit den Booten, wie Biologen sie bezeichnen, aber tatsächlich Attacken auf Menschen sind, ist fragwürdig. Einige Experten warnen vor dem Narrativ, die "Natur schlage zurück". Dass Orcas sich am Menschen rächen wollten, sei wissenschaftlich nicht fundiert. Zudem könnte es unnötige Ängste und Vergeltungsmaßnahmen der Menschen hervorrufen. Vor allem Schlagzeilen in den Medien wie "Aufstand der Orcas" oder "Rache der Mörderwale" verwischten die Realität.
In einem "Washington Post"-Artikel zu dem Thema, schreibt der Journalist David Neiwer zu dem Orca-Verhalten: "Sie führen keinen Krieg gegen Menschen". Es sei klar, dass diese Orcas nicht darauf aus sind, Menschen zu töten. "Sie haben kein Interesse an den Menschen an Bord der Schiffe gezeigt und sind von der Bildfläche verschwunden, sobald die Boote zum Stillstand gekommen sind."
Doch was könnte dann der Grund für ihr seltsames Verhalten sein? Wissenschaftler glauben, dass es sich um eine Art "Modeverhalten" der Tiere handeln könnte. Die Meeressäuger aus der Familie der Delfine sind hochintelligente, neugierige und soziale Wesen, die von ihren Artgenossen lernen. Schon in der Vergangenheit entdeckte man, wie einzelne Orca-Gruppen eigenwillige Gewohnheiten entwickelten.
Alles nur ein Spaß?
So sagte etwa Renaud de Stephanis, der Präsident der Umweltschutzorganisation Circe zu dem für den Menschen eher erschreckenden Verhalten, die Orcas wollten einfach nur Spaß haben. "Es ist klar, dass es sich um Spiele handelt." Jüngere Tiere hätten damit begonnen, und nun seien auch zwei Mütter aktiv, versichert er. Es sei zu erwarten, dass die Zwischenfälle aufhörten, sobald die Orcas dieses Spiel satthätten.
Diese Marotte, die einheitlich bei Jugendlichen und Heranwachsenden zu beobachten sei, könnte mit dem rücksichtslosen Verhalten menschlicher Teenager vergleichbar sein, so Experten. Die jungen Tiere wollen sich demnach wohl in ihrer Gruppe beweisen.
Auch Dr. Conor Ryan, der die Orca-Populationen vor der schottischen Küste untersucht, sagte zu dem jüngsten Vorfall vor den Shetlandinseln, das Verhalten könnte erlernt sein. "Es ist möglich, dass diese 'Modeerscheinung' auf verschiedene Herden überspringt".
Dass die Lage für alle Beteiligten jedoch ernst ist, zeigt die jüngste Reaktion des Ministeriums für Ökologischen Wandel in Madrid. Nachdem Fahrverbote für kleinere Boote mit einer Schiffslänge von bis zu 15 Metern in bestimmten Meereszonen wenig gebracht hatten, begann man vorige Woche damit, einzelne Orcas mit GPS-Trackern zu bestücken, um sie orten und Kapitäne warnen zu können.
Experten stimmten ein. Das Verhalten könne dadurch aufgelöst werden, indem man sich von den Orcas fernhalte. Kapitäne müssten sich besser informieren und alternative Schifffahrtswege wählen, nicht nachts fahren und sich nicht allzu weit von den Küsten entfernen.
- theguardian.com: "Orca rams into yacht off Shetland in first such incident in northern waters" (englisch)
- newscientist.com: "Why have orcas been damaging and sinking so many boats?" (englisch, kostenpflichtig)
- washingtonpost.com: "Why are orcas attacking boats? Hint: It’s not a war on humans." (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa