Fall Adelina Pismak Der ungelöste Kindermord von Bremen
Die 10-jährige Adelina wird 2001 entführt, missbraucht und umgebracht. Der Täter ist bis heute nicht überführt, doch es gibt einen Verdacht. Adelinas Schicksal beschäftigt selbst den Chef des BKA bis heute.
Holger Münch ist der ranghöchste deutsche Polizist. Er ist Präsident der 6.400 Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes. Reporter der Wochenzeitung "Die Zeit" haben ihm im vergangenen April eine sehr persönliche Frage gestellt: "Wenn Sie ein Verbrechen lösen könnten, das nie aufgeklärt wurde – welches würden Sie wählen?" Münch stammt aus Bremen. Er war dort Polizeipräsident und Chef des Landeskriminalamtes. Er sagte: "In meiner Zeit in Bremen ist ein Mädchen auf dem Weg nach Hause entführt worden, seine Leiche wurde später in der Nähe in einem Waldgebiet gefunden. Adelina hieß es."
Adelina: Jeder Fahnder in der Hansestadt kennt ihren Namen. Ihre Geschichte reicht an den Anfang der Nullerjahre zurück. 1,3 Millionen Russlanddeutsche sind in dem Jahrzehnt nach der großen weltpolitischen Wende von 1990 nach Deutschland gekommen. Ältere Zuwanderer tun sich in der neuen Heimat bisweilen schwer. Anders ist das bei ihren Kindern und Enkeln. Sie lernen fix die fremde Sprache, sind Spitze in Mathematik und Naturwissenschaften. Adelina Pismak ist eines dieser Kinder.
Suchaktion ohne Erfolg
Noch geboren nahe Orenburg, 1.200 Kilometer südöstlich von Moskau an der russisch-kasachischen Grenze, spricht das Mädchen neben seiner russischen Muttersprache fließend Deutsch. Sie lernt auch Englisch. Sie ist zehn Jahre alt und wohnt im Bremer Stadtteil Kattenturm. Hier, wo Wohnblock an Wohnblock steht, ist auch der Opa Christian Seidel in einem elfgeschossigen Bau zu Hause. Sie besucht ihn am 28. Juni 2001. Am späten Nachmittag des Tages fragt Seidel sie, ob sie noch ihr Eis aufessen wolle. "Ich muss zu Mama. Die ist doch krank", gibt sie dem Opa zu bedenken – und macht sich auf den nur 200 Meter langen Heimweg. Es ist 17.30 Uhr. Was dann passiert, bleibt bis heute nicht nur für den BKA-Chef ein Rätsel. Adelina kommt zu Hause nicht an.
Die vermisste Russlanddeutsche löst eine der bis dahin größten Suchaktionen der Bremer Polizei aus. Doch die Arbeit der 40-köpfigen Sonderkommission bringt genauso wenig ein Ergebnis wie der Einsatz von Flugblättern und Tauchern, von Hunden und "Tornado"-Jets der Luftwaffe, die mit Wärmebildkameras ausgestattet sind. Viele Möglichkeiten werden durchdekliniert. Hat der leibliche Vater des Kindes, ein Russe, der immer noch nahe der chinesischen Grenze wohnt, mit dem Verschwinden zu tun? Hat er Adelina entführt? Es ist eine erste, durchaus naheliegende Mutmaßung. Sie wird wie anderes als falsch verworfen.
Drei Monate vergehen. Es ist der 7. Oktober 2001. Eine Frau sucht Pilze im Pastorenwäldchen der Leester Marsch südlich von Bremen. Das Wäldchen ist ein kleines Stück Grün, gerade mal 180 mal 46 Meter groß. Da stößt die Pilzsucherin auf einen blauen Plastiksack. Der Fund bringt Klarheit über das Schicksal der 10-Jährigen. Im Sack eingeschnürt sind Adelinas teils schon verwesten sterblichen Überreste. Die Rechtsmedizin, die den Inhalt untersucht, kommt zu dem Schluss: "Bei der von einem oder mehreren Tätern verübten Tat handelt es sich um ein Sexualdelikt." Adelina ist vergewaltigt und dann getötet worden. Wie, ist nicht mehr nachzuvollziehen.
Mehr als 1.000 Hinweise
Die Ermittler durchsuchen die Umgebung. Sie finden weitere Auffälligkeiten. "In unmittelbarer Umgebung", so stellen sie fest, sind sechs Damenbadeanzüge verscharrt, eine Umstandsmiederhose, ein Top und drei Strumpfhosen. Sie folgern: "Es könnten Sexualstraftäter infrage kommen, die als transvestitisch veranlagte Fetischisten einzustufen sind" – Täter, die bestimmte Kleidungsstücke des anderen Geschlechts erregend finden. Auffallend auch: Der von Adelina am Tatabend getragene kurze blaue Wollrock fehlt beim Leichenfund.
Drei Jahre später: 1.235 Hinweisen wurde in dieser Zeit nachgegangen, 286 Sexualstraftäter wurden überprüft, 1.700 Spuren abgearbeitet. Der Fall Adelina umfasst 300 Akten. Man hat neue Ansätze ermittelt. Könnte der Stiefvater Adelinas, der von der Mutter längst getrennt lebt, etwas mit der Tötung zu tun haben? Die Spur führte genauso in die Sackgasse wie die eines 22-Jährigen, der 2003 – auch in Kattenturm – ein 9-jähriges Mädchen zwei Stunden in seinem Auto gefesselt gefangen hielt. Da kommt der Zufall zur Hilfe.
Im Sommer 2004 werden in der Region innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten zwei Kinder entführt, missbraucht und ermordet: Die 8-jährige Levke und der gleichaltrige Felix. Am 8. Dezember wird Marc H. verhaftet. Der 30 Jahre alte Beschäftigte einer Sicherheitsfirma, der schon früh mit Sexualstraftaten aufgefallen war, ist 1995 aus seiner Heimat, dem Sauerland, ins Bundesland Bremen gezogen. Noch am Tag der Verhaftung gesteht er den Mord an Levke, im Januar darauf den an Felix.
"Unvorstellbares Leid"
Am 29. Juni 2005 verurteilt das Landgericht Stade H. zu einer lebenslangen Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Er habe anderen "unvorstellbares Leid" zugefügt, sagt der Vorsitzende Richter. Ist das Leid, das Täter H. gebracht hat, noch größer? Nicht nur, dass in der Wohnung des Verurteilten kleine Perlen sichergestellt wurden – wie auch am Fundort der Leiche von Adelina Pismak. 2005 berichten Fernsehsender mehrfach über "Adelina aus Bremen". Mit dem verurteilten H. in einer Zelle sitzt damals Michael E., ihr TV-Gerät ist eingeschaltet. H. verfolgt gebannt einen entsprechenden Bericht zu dem ermordeten Mädchen und sagt: "Tja, bei Adelina bin ich noch mal schwach geworden." Wie meinst du das?, fragt der überraschte E., wie er später in einem TV-Beitrag schildert.
Es ist der Augenblick, in dem der zweifache Kindermörder dichtmacht. Kein Wort mehr. Auch nicht, als die Kripo kurz nach einer einschlägigen Aussage von E. mit H. ins Pastorenwäldchen fährt – an den Ort, an dem die Pilzsammlerin die 10-Jährige aus Orenburg gefunden hatte. Dort haben die Beamten eine Puppe hingelegt, so gekleidet wie Adelina am Tag ihres Verschwindens. Eine gezielte Provokation, die manchmal wirkt. Jetzt wirkt sie nicht.
Ist Marc H. der Mörder von Adelina? Die Staatsanwaltschaft hat das schon früh für möglich gehalten. Sie ist sich – ohne weitere Beweise – aber nie sicher gewesen, wie viel Fantasie bei seinen Geständnissen mitspielt. Wahr ist nämlich: Der Sauerländer hat im Gefängnis gerne von vermeintlichen Taten erzählt und die Erzählungen dann wieder kassiert. Vom Mord an einer alten Frau aus seinem Heimatort und an zwei weiteren älteren Damen. An zwei Anhalterinnen. An zwei Kindern aus dem Osten Deutschlands. Aber den Mord an Adelina gesteht er nicht. Nichts konnte nachgewiesen werden.
Fall weiter auf einer BKA-Liste
Staatsanwalt Frank Passade ist der Sprecher der Bremer Anklagebehörde. Er hat gegenüber t-online.de bestätigt: Die Ermittlungen, ob H. der Mörder des Mädchens war, seien eingestellt. Um dann noch den Satz hinzuzufügen: "Ich will nicht ausschließen, dass es doch noch mal untersucht wird."
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Beim Bundeskriminalamt steht der Fall Adelina als ältester auf einer Liste von 50 Fahndungen. BKA-Chef Holger Münch würde eine Wiederaufnahme sicher freuen: "Der Fall bewegt mich noch heute."
- Artikel: "Der Fall Adelina", "Weser-Kurier", 2014
- Artikel: "Spuren führen zu Marc H.", "Spiegel Online", 2005
- Artikel: "Keine Spur von Adelinas Mörder", "Welt", 2002
- Interview mit Holger Münch: "Die Sicherheitslage ist gut", "Zeit", 2019
- Eigene Recherchen