852 starben in der Ostsee Der Untergang der "Estonia" – Terrorismus oder Unglück?
Ein großes Fährschiff versinkt in der Ostsee, 852 Menschen sterben. Haben es stürmische Wellen kentern lassen? Oder rissen Bomben die "Estonia" auf – weil sie geheime Militärelektronik transportierte?
Septembernächte in der Ostsee können stürmisch sein. Vier, fünf Meter hohe Wellen sind nicht ungewöhnlich. Aber auf den dicht befahrenen Fährschiffrouten zwischen dem Baltikum und Schweden gilt das Gesetz des Fahrplans. Er ist einzuhalten. Mit 989 Menschen an Bord, 40 Lastwagen und 34 Pkw knüppelt Kapitän Ivo Andresson im Herbst 1994 die 155 Meter lange und zehn Stockwerke hohe "Estonia" von Tallinn in Estland kommend durch das aufgewühlte Meer Kurs Stockholm.
Überlebende schildern Explosionsgeräusche
Andresson steht unter Druck. Er hat in Estland verspätet um 19.17 Uhr abgelegt. In der Bar "Pub Admiral" können sich Nachtschwärmer und Tänzerinnen beim Tempo von 15 Knoten kaum auf den Beinen halten, als es kurz nach Mitternacht knallt. Ein Mal. Zwei Mal. Vielleicht auch ein dritter Schlag? Die Berichte der Überlebenden fallen unterschiedlich aus. An ein "Bäng Bäng" erinnert sich Fahrgast Leif Bogren. Marianne Ehm: "Etwas schlug heftig gegen das Schiff." Die Fähre kippt nach rechts. Um 0.22 Uhr sendet die "Estonia" ihren ersten Notruf: "Wir haben schwere Schlagseite." "Ich sehe Wasser durchs Fenster", ruft Herbert Augustin in einer hoch liegenden Kabine. Bettnachbar Georg Sörnsen schreit: "Raus hier!"
Immer wieder verschwinden große Schiffe in den Tiefen der Ozeane. Die legendäre "Titanic" rammte 1912 einen Eisberg. 1.514 Passagiere ertranken. Die "München", ein Containerfrachter, tauchte mit seiner 28-köpfigen Besatzung 1978 aus einer 16 Meter hohen atlantischen Monsterwelle nicht mehr auf. 161 Menschen starben, als 1990 die "Scandinavian Star" im Skagerrak in Brand geriet. Arktisches Eis, gewaltige Wellen, verzehrendes Feuer: Solche Ursachen waren meist schnell nachweisbar.
Experten sind uneins über Ursache
Doch: Was hat die "Estonia" in der stürmischen Nacht des 28. September 1994 auf den Grund der Ostsee sinken lassen? Fegte die See die Bugklappe weg, die für Autofähren eine typische Schwachstelle darstellt, und drang ungehindert ins Autodeck? Hatte der Kapitän das wichtige Teil – Motiv: unbekannt – selbst geöffnet? Oder rissen Bomben Löcher in den Rumpf und die Klappe ab? War es demnach ein hundertfacher Massenmord, weil irgendwer die Ankunft einer brisanten Fracht in Schweden verhindern wollte? Seit einem Vierteljahrhundert fragen sich das die Experten. Seit einem Vierteljahrhundert warten die Opfer-Angehörigen auf Klarheit.
Es ist 0.55 Uhr, als die "Estonia" von den Radarschirmen verschwindet. Ihre letzte Position ist 59 Grad 22 Minuten Nord und 21 Grad 48 Minuten Ost, 35 Seemeilen südöstlich der Insel Utö. Der Untergang spielt sich unbegreiflich schnell ab, ein halbstündiger Todeskampf. Bogren und Ehm können später einer Expertenkommission dazu Rede und Antwort stehen. Sie gehören zu den nur 137 Überlebenden der nächtlichen Katastrophe, die von der nach 40 Minuten heran preschenden finnischen "Mariella", weiteren Fähren und Hubschraubern gerettet werden.
"Wir sind zu spät"
852 andere Passagiere stürzen in steil geneigten Gängen zu Tode, erfrieren in den Flößen, ertrinken im Meer. Als das Drama endet, treiben auf den Wellen Schwimmwesten, Rettungsboote und zahllose Leichen. "Wir sind zu spät", ruft ein Pilot die finnische Bodenstelle.
In New York beginnt am nächsten Tag die wichtige Herbsttagung der Vereinten Nationen. Es ist die unruhige Zeit eines Vakuums. Die Welt ordnet sich gerade neu nach Mauerfall und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Estland, die Heimat der "Estonia", wurde zum Ärger Moskaus wie andere baltische Staaten zur unabhängigen, pro-westlichen Republik. Doch die Unglücks-Nachrichten aus Tallinn und Stockholm drängen die politischen Meldungen vom ersten Platz.
Trauer und Schuldzuweisungen
Schnell glaubt die schwedische Regierung die Ursache für das Schicksal des Schiffes zu kennen. Das zu leicht gebaute Bugvisier sei abgerissen. Eindringendes Wasser habe das Schiff versenkt. Eine Schwachstelle, die mehrfach im Fährbetrieb zu Unfällen geführt hat, zuletzt 1987 im Fall der "Herald of Free Enterprise" mit 200 Toten. Aber damit sind auch die Schuldigen gefunden: die Konstrukteure. Das waren, 14 Jahre zuvor, die der deutschen Meyerwerft in Papenburg an der Ems. Zudem habe die estnische Reederei es mit der Wartung nicht so ernst genommen.
Möglich, dass Schlamperei und defekte Scharniere zum raschen Sinken beigetragen haben. Man fand später Hinweise auf Matratzen, die bestehende Lecks abzudichten hatten. Aber es sind viele Dinge ungeklärt geblieben. Die Explosionsgeräusche, die viele Überlebende bestätigen. Eine ominöse erpresserische Drohung, die die Reederei noch kurz vor der Abfahrt erhalten hat. Der Verdacht "Das galt uns", den estnische Politiker bald äußerten und der gewaltsame Tod einer ihrer Zollbeamten, der zuvor Ermittlungsmaßnahmen im Zusammenhang mit illegalen Seetransporten geführt hatte. Die eigentlich für einen Feueralarm bestimmte Lautsprecher-Durchsage "Mr. Skylight", die sich bis heute keiner erklären kann.
Und was ist mit dem 2. Kapitän Avo Pith passiert, der nach den Rettungsaktionen leicht verletzt in einem finnischen Krankenhaus gesehen wurde – nur um dann, angeblich wie sieben weitere überlebende Besatzungsmitglieder, bis heute als vermisst zu gelten?
Schweden plante Betonsarg für das Wrack
Das Wrack mit den 852 Toten liegt nicht besonders tief. Die Hebung wäre möglich. Der schwedische Ministerpräsident Carl Bildt verspricht kurz nach der Unglücksmeldung: "Das Schiff und die Leichen sollen so bald wie möglich geborgen werden." Doch seine Behörden planen längst anderes. Das Seegebiet wird militärisch abgeriegelt. Tauchgänge werden mit dem Bannmeilengesetz 1995 unter Strafe gestellt. Das Schiff soll eingemauert in einen unterseeischen Betonsarg für immer unzugänglich bleiben – um die Totenruhe nicht zu verletzen.
Der Betonsarg ist nie gebaut worden. Er war am Ende mit umgerechnet 60 Millionen D-Mark nicht nur zu teuer – er befeuerte in den folgenden Jahren auch die Spekulationen über einen möglicherweise kriminellen Hintergrund des Desasters, der angeblich so vertuscht werden sollte. Angehörige der Opfer haben dem offiziellen Untersuchungsbericht nie getraut, der zwei Jahre nach den tragischen Ereignissen der Septembernacht veröffentlicht wurde und die Regierungsaussagen der ersten Tage bestätigte.
Vor allem: Längst gab es Gerüchte, schwedische Marinetaucher hätten Löcher in der Außenhaut entdeckt und zwei anhaftende, nicht explodierte Sprengstoffpakete. Die deutsche Journalistin Jutta Rabe organisierte eine private Tauchexpedition zur Unglücksstelle – und legte später Gutachten zu gefundenen Metallteilen vor, die angeblich die ungewöhnlichen Schäden bestätigten. Aber: Das am Tauchgang beteiligte Nachrichtenmagazin "Spiegel" distanzierte sich kurz darauf mit einem eigenen Gutachten deutlich von der Berichterstattung und den Schlussfolgerungen der Journalistin. Explosionen seien zwar nicht auszuschließen, aber durch die Materialproben auch nicht zu belegen.
Militärgut an Bord der "Estonia"
Nichtsdestotrotz: Wer könnte ein Motiv gehabt haben, fast 1.000 Menschen auf diese Weise in den nassen Tod zu schicken? Solche Fragen tauchten auf, als ein hochrangiger schwedischer Zollbeamter wie die Regierung Estlands bestätigten: Auf der Route Tallinn-Stockholm sei mit der "Estonia" kurz zuvor mehrfach geheimes militärisches Gut befördert worden – am Tag des Unglücks sei aber kein solches an Bord gewesen. Die Herkunft der klandestinen Fracht liegt nahe: elektronisches Gerät aus ehemaligen sowjetischen Waffenarsenalen, vielleicht zum Verkauf im Westen oder in Krisenregionen bestimmt.
Hat jemand mit Sprengstoff in den illegalen Handel hinein gegrätscht? Oder ging es doch nur um Kokain, das per Fährpassage auf westliche Märkte gelangen sollte – und das das Schiff zum Kollateralschaden in einem Mafia-Krieg machte? Ein geheimnisvoller "Felix"-Report aus dem Umfeld russischer Geheimdienste behauptet Letzteres und beschuldigt den "Estonia"-Kapitän, davon gewusst zu haben.
Gutachten auf Gutachten, Untersuchung auf Untersuchung sind über die Jahre seither gefolgt – und selbst zwei staatliche Institute in Deutschland kamen bei der Beurteilung der Frage, ob eine Bombe eine Rolle gespielt hat, zu diametral unterschiedlichen Ergebnissen. Im Jahr 2000 eröffnete die Hamburger Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Terrorismus – um es 2002 wieder einzustellen. Dagegen sieht sich die Papenburger Meyer-Werft in einem Gutachterbericht ihre Verteidigungsposition bestätigt: dass ein gezielter Anschlag gekoppelt mit zu fahrlässiger Wartung zum Untergang geführt haben könnten.
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Unglück oder Verbrechen? Das Wrack, 70 Meter tief in der Ostsee, lässt die Betroffenen auch in diesen Tagen nicht in Ruhe. Mitte April 2019 begann im Pariser Vorort Nanterre, dem Sitz der Schiffsversicherung, eine Anhörung. Eine Richterin muss eine lange schwelende Auseinandersetzung entscheiden, ob sie der Klage von 1.000 Angehörigen statt gibt und ein Schadensersatzverfahren gegen die Meyer-Werft eröffnet. Die Klagesumme liegt bei 40 Millionen Euro. Ein Urteil wird im Sommer erwartet, heißt es in Papenburg. Das wäre dann fast genau 25 Jahre nach der Todesnacht vor Utö.
- eigene Recherchen
- Spiegel: "Die Verschwundenen von Utö"