"YOG’TZE"-Fall im Siegerland Sechs Buchstaben, eine Vorahnung und dann ist er tot
Im Herbst 1984 hat ein Lebensmitteltechniker plötzlich Angst, umgebracht zu werden. Wenige Stunden später stirbt er auf brutale Weise. Kurz vorher hinterließ er eine kryptische Botschaft, das Wort: "YOG'TZE".
Günther Stoll aus dem Dorf Anzhausen im Siegerland benimmt sich merkwürdig an diesem Herbstabend vor 35 Jahren. Der 34-jährige Lebensmitteltechniker und Vater einer Tochter grübelt, denkt viel nach, und sagt zu seiner Frau, er habe "richtig Angst". Ihn plagen böse, für andere unerklärliche Vorahnungen. "Die wollen mir was antun. Die bringen mich um", solche Sätze sagt er. Angeblich bedrängen "sie" ihn, auch nicht zum ersten Mal: Was ist bloß los? Wer will dich umbringen? Klare Antworten bekommt seine Frau auf solche Fragen nicht.
Was kurz darauf passiert, wird die Kriminalpolizei im 100 Kilometer nördlich entfernten Hagen am Rand des Ruhrgebiets über Jahrzehnte beschäftigen. Denn Stoll unterbricht das rätselhafte Gespräch mit seiner Frau und sagt: "Mir geht ein Licht auf." Er nimmt sich einen Schmierzettel, notiert sechs Großbuchstaben aufs Papier: "YOG'TZE". Anschließend streicht er die Notiz wieder durch. Ein Ort? Ein Eigenname? Ein unverständlicher Code?
Eine Vorahnung, die sich als richtig erweisen sollte
Unmittelbar darauf, gegen 23 Uhr, verlässt er die gemeinsame Wohnung. Er will in seiner Stammkneipe im benachbarten Wilnsdorf die trüben Gedanken mit einem Bier löschen. "Bleib nicht so lange", sagt seine Frau. Aber die Angst, die Günther Stoll ergriffen hat, wird nicht verschwinden. Der Familienvater wird an diesem Abend nicht mehr nach Hause zurückkehren. Er hat nur noch wenige Stunden zu leben.
Es gibt lang zurückliegende, ungelöste Kriminalfälle, die selbst routinierte Fahnder nerven, weil die Lösung trotz aller Suche auch nach mehr als drei Jahrzehnten nicht zu finden ist. Der Fall von Günther Stoll ist so einer. Die Beamten möchten heute im Hagener Präsidium nicht mehr gerne über diese Altlast reden. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Aber natürlich ist die Akte Günther Stoll jederzeit präsent – und sie kommt immer wieder auf den Schreibtisch.
Material für einen echten Thriller
Mord verjährt nicht, auch wenn der damalige "Aktenzeichen XY... ungelöst"-Moderator Eduard Zimmermann ein halbes Jahr nach der Tat in einer sehr detailreichen ZDF-Dokumentation festgestellt hat: Alles sei "äußerst undurchsichtig". Günther Stolls gewaltsamer Tod könnte einer der mysteriösesten Vorgänge der deutschen Kriminalgeschichte der letzten Jahrzehnte sein, die Mitternachtsstunden im Herbst des Jahres 1984 haben das Zeug für einen echten Thriller:
Donnerstag, 25. Oktober, zwischen 23 und 24 Uhr. Günther Stoll, der die gemeinsame Wohnung der Eheleute gegen 23 Uhr verlassen hat, betritt das "Pappillon" in Wilnsdorf und setzt sich auf einen Hocker an der Theke. Er bestellt das Bier, von dem er sich ein bisschen Vergessen erhofft. Bevor er den ersten Schluck nehmen kann, fällt er unvermittelt nach hinten auf den Boden. Beim Aufprall verletzt er sich das Gesicht. Andere Gäste helfen ihm auf die Beine. Hat er getrunken?, fragen sie. "Nein. Ich war plötzlich weg", soll er geantwortet haben. Nach einem Schnaps und einem Orangensaft verlässt er die Gaststätte. Er startet seinen blauen VW Golf und verschwindet.
"Heute Nacht passiert was"
Freitag, 26. Oktober, gegen 1 Uhr. Bei Erna Hellfritz, die Stoll in seinem Geburtsort Haiger-Seelbach von früher gut kennt, schellt es an der Tür. Die Rentnerin wacht auf und geht zu ihrem Schlafzimmerfenster, unter dem sie Stoll stehen sieht. "Günther, du?", fragt sie. Ihr Eindruck: Der Mann ist reichlich verstört. "Heute Nacht passiert noch was. Was ganz Fürchterliches", sagt er. Erna Hellfritz hält das für wirres Gerede. Er solle zu seiner Frau nach Hause fahren, rät sie ihm. Stoll antwortet, das werde er wohl tun. Und verschwindet.
Freitag, 26. Oktober, um 3 Uhr. Die Autobahn A45 ist eine der meist befahrenen Lkw-Routen in der alten Bundesrepublik. Die "Sauerlandlinie" verbindet Süddeutschland und das Rhein-Main-Gebiet mit dem östlichen Ruhrgebiet. In dieser Nacht sind zwei Trucker, deren Namen im ZDF mit Georg Konzler und Holger Meffert angegeben werden, mit ihren Fahrzeugen auf dem Weg nach Dortmund. Holger Meffert erkennt aus seinem Cockpit zuerst den zerfetzten blauen VW, der im Graben kurz vor der Ausfahrt Hagen-Süd liegt. Und er sieht eine Person, die um das Unfallauto herumschleicht.
Er stoppt den Laster. Auch der folgende Lkw-Fahrer, Georg Konzler, hält auf dem Seitenstreifen an. Beide gehen zum Wrack des VW. Sie erschreckt, was sie dort sehen: Im Fahrzeug liegt auf dem Beifahrersitz ein blutverschmierter, mit Laubresten bedeckter nackter Mann. Sein Arm ist fast abgerissen, der Motor des Golf ist schon etwas länger kalt, den Zündschlüssel finden die Lkw-Fahrer auf der Hutablage. Der Schwerverletzte ist Günther Stoll. "Es waren vier", stöhnt er noch, und: "Ich will weg." Im Rettungswagen, auf dem Weg ins Krankenhaus, stirbt er dann.
Es war wohl geplanter Mord
Die Hagener Kripo versuchte herauszufinden, was damals geschah. Schnell steht fest: Stoll war kein Unfallopfer. Er muss in unbekleidetem Zustand von einem fremden Auto überfahren worden sein. Unbekannte haben ihn dann in sein eigenes Fahrzeug geladen und vom Tatort zum Fundort bei Hagen-Süd gebracht.
Vieles deutet also auf einen geplanten Mord hin. Nur: Wer sind die Täter? Was war ihr Motiv? Und welche Rolle spielte das Opfer bei einer möglichen Vorgeschichte? Auch: Hatte die Person etwas damit zu tun, die die Lkw-Fahrer Meffert und Konzler noch gesehen haben wollen? All diese Fragen sind bis heute offen geblieben, auch die nach einem von Zeugen erwähnten Anhalter auf der anderen Fahrtrichtungsseite, der zur Fundzeit dort unterwegs war und durch einen Blutfleck am Oberarm auffiel. Nie sind dazu konkretere Hinweise eingegangen.
Bleiben die restlichen Spuren. Die erste von ihnen führt ins nahe Ausland.
Hatte Stoll Kontakte ins Drogenmilieu?
Drogen und die Niederlande – das war Mitte der 80er-Jahre ein kriminalpolitisches Megathema. Und es machte der deutschen Polizei viel Arbeit. 1987 meldete allein die Hauptstadt Amsterdam 50 Rauschgifttote, 17 davon aus Deutschland. 1.000 der 10.000 Junkies der Stadt stammten aus der Bundesrepublik. Jeden Tag verzeichnete die niederländische Polizei in ihrer Metropole 200 Strafanzeigen in diesem Zusammenhang. Der Grenzverkehr hatte sich zu einem einzigen, illegalen Handelsplatz entwickelt.
War hier der Hintergrund der Tat an der A45 zu finden? Könnte der ermordete Lebensmitteltechniker Kontakte in die niederländische Drogenszene gehabt haben? Könnte er irgendwelchen Dealerbossen irgendwie in die Quere gekommen sein? Keine unbegründete Mutmaßung: Die Hagener Ermittler haben tatsächlich von solchen Begegnungen in den letzten Urlauben des Opfers erfahren. Sie haben um Zeugenmeldungen gebeten – vergeblich.
1.200 Spuren wurden verfolgt
Und was ist mit den sechs Großbuchstaben, dem geheimnisvollen "YOG'TZE"? Das Wort gibt es in keiner Sprache der Welt. Auch den Zettel mit der geheimnisvollen Notiz, die Günther Stoll vor dem Verlassen seiner Wohnung aufgeschrieben haben soll, gibt es nicht mehr. Stolls Frau will ihn am Abend vor der Tat weggeworfen haben. Kann es, wenn das "G" in der Wortmitte als "6" gelesen würde, tatsächlich ein rumänisches Funkrufkennzeichen gewesen sein, wie die einzige Interpretation lautet? Aber auch: Gab es den Zettel überhaupt? War er ein Irrtum, eine falsche Erinnerung, die Überbewertung eines unbedeutenden Details?
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3.000 D-Mark wurden 1984 als Belohnung ausgesetzt. Insgesamt 1.200 Spuren wurden verfolgt. Auch die im zerstörten Auto gefundenen Fasern und die DNA sind viel später mit den erst dann möglichen Methoden untersucht worden. Nichts hat die Ermittler weitergebracht. Der Fall Stoll bleibt ein Cold Case — denn bis heute ist er nicht aufgeklärt.
- Siegener Zeitung: "Rätselhafter Tod weiter ungeklärt"
- Stern: "Ein nackter Toter im Siegerland"
- Berichte in "Auto-Bild" und "Hörzu"
- Eigene Recherchen