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Zwangsprostitution: Verkommt Deutschland zum "Puff Europas"?


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Kampf gegen Zwangsprostitution
Verkommt Deutschland zum "Puff Europas"?

Von Dietmar Seher

12.05.2019Lesedauer: 5 Min.
Eine Razzia in einem Oberhausener Bordell: Deutschland steht für seinen Umgang mit Prostitution in der Kritik. Droht das Land zum "Puff Europas" zu werden?Vergrößern des Bildes
Eine Razzia in einem Oberhausener Bordell: Deutschland steht für seinen Umgang mit Prostitution in der Kritik. Droht das Land zum "Puff Europas" zu werden? (Quelle: Symbolfoto/imago-images-bilder)

Deutschland ist für Frauenhändler bisher ein angenehmes Pflaster. Sie werden meist nur zu Geld- oder Bewährungsstrafen verurteilt, wenn überhaupt. Doch jetzt wächst international der Druck, das Land nicht zum "Puff Europas" verkommen zu lassen.

Jürgen Rudloff galt als mächtiger deutscher Bordell-König, der in Interviews und Talkshows immer gerne seine Gesetzestreue betonte – bis er wegen Beihilfe zum Menschenhandel in die Fänge von Augsburger Ermittlern geriet. Das Stuttgarter Landgericht schickte den 65-Jährigen im Januar für fünf Jahre in Haft. Viel wichtiger aber für die Strafverfolger: Erstmals ist dem Urteil ein Geständnis eines Rotlichtherrschers vorausgegangen. Er habe in seinem Großbetrieb, dem "Paradise", Frauenmangel gehabt. Ein rumänischer Frauenhändler habe geliefert. Zwei Rockergruppen hätten die Ordnung aufrechterhalten. Er habe die Augen geschlossen vor den Methoden und der Gewalt gegenüber seinen Sexsklavinnen.

Das Verfahren in Stuttgart belegt, was Kritiker der deutschen Rotlichtszene schon lange vorwerfen: Dass hinter den Türen auch vermeintlich nach deutschen Rechtsvorschriften geführter Bordelle Zwang und sexuelle Ausbeutung herrschen. Von Freiwilligkeit keine Spur. "Ein sauberes Bordell in dieser Größe ist nicht vorstellbar", sagte der Vorsitzende Richter im Schlusswort.

Kritik an Deutschlands liberalem Umgang mit Prostitution

Doch ist ein Urteil wie das Stuttgarter die Ausnahme. Deutsche Behörden, Gerichte und Transportunternehmen sind dem Vorwurf ausgesetzt, sich beim Verdacht auf Menschenhandel lieber wegzuducken. Der Druck, intensiver zu fahnden und härter zu urteilen, nimmt zu. Außerdem fordert etwa die Pilotenvereinigung Cockpit, dass Schulungen für Flugzeugcrews angeboten werden, damit diese "Entführungen" im Zusammenhang mit Menschenhandel schon an Bord der Maschinen erkennen und der Polizei melden können.

Besonders heftig greift der "Länderbericht zu Menschenhandel 2018" des amerikanischen Außenministeriums den eher lässigen deutschen Umgang mit der Sexbranche an. Das State Department zielt auf die Gerichte. Der Vorwurf: Deutschland lässt Menschenhändler laufen – nicht selten mit dem Risiko, dass Opfer, die mit der Polizei bei den Ermittlungen kooperiert hätten, in Gefahr gerieten.

Zwar erfülle das Land die Mindeststandards bei der Verfolgung von Menschenhändlern. Doch untergrabe "die hohe Anzahl an Bewährungsstrafen in Menschenhandelsfällen die Bestrebungen, Menschenhändler zur Rechenschaft zu ziehen", heißt es im Report, der sich auf die letzten verfügbaren statistischen Daten von 2016 stützt. Der Kernsatz: "Nur 30 Prozent der verurteilten Menschenhändler verbüßten 2016 eine Haftstrafe und zahlreiche Menschenhändler wurden lediglich zu Geldstrafen verurteilt". Zum Vergleich: Wegen Vergewaltigung mussten dagegen 57 Prozent in Haft. Außerdem: Opfer würden zu wenig betreut, "Maßnahmen zur Reduzierung der Nachfrage nach kommerziellem Sex" seien "begrenzt".

Viele Länder erkennen Sexarbeit nicht als Beruf an

Die US-Anklage ist keine gezielte Gemeinheit der Trump-Regierung. Schon die Obama-Administration hatte die Bundesrepublik unter Druck gesetzt. Hintergrund: Der generelle Umgang mit Prostitution in Deutschland und die ausdrückliche, umstrittene gesetzliche Anerkennung als Dienstleistungsberuf. Im neuen Prostituiertenschutzgesetz von 2017 steht im Paragrafen 2: "Prostituierte sind Personen, die sexuelle Dienstleistungen erbringen".

Immer mehr Länder – nicht nur die USA – akzeptieren weder die Begriffe "Dienstleistung" noch "Beruf" und drehen auf den genau entgegengesetzten Kurs. Sie bewerten Prostitution als Straftat, greifen zu strikten Verboten und hohen Strafen. Frankreich, einst bekannt wegen seiner Luxusbordelle, hat inzwischen per Gesetz die Arbeit der Sexindustrie beendet. Schweden stellt ertappte Freier vor Gericht, was auch Norwegen und Island tun. Das Vereinigte Königreich sowie die Mehrheit der US-Bundesstaaten haben speziell Bordellbetriebe verboten. In den liberal geltenden Niederlanden wird über ähnliche Rechtsverschärfungen diskutiert.

Viele Sexarbeiterinnen kommen aus dem Ausland – unfreiwillig

Wie sieht die Lage in Deutschland aus? Wer beherrscht die Szene? Und wer sind die Opfer? "Deutschland", sagt Manfred Paulus, ein ehemaliger Kriminalhauptkommissar aus Ulm und Lehrbeauftragter an Polizeischulen, verkomme "zum Puff Europas" und werde "Hauptabnehmer der Ware Mensch". Die genaue Zahl der hier tätigen Prostituierten sei nur eine sehr grobe Schätzung, etwa 400.000 sollen es sein. 80 bis 100 Prozent dieser Frauen im heimischen Rotlichtgewerbe seien Ausländerinnen, die zum Job gezwungen würden.

Zunehmend seien Ausländer, teils aus der EU, auch die Chefs der Opfer, analysiert Paulus. Sie verdrängten die einheimischen Luden. Die neuen Herren hätten sich die Regionen aufgeteilt: In Berlin beherrschten Libanesen die Szene. Die Hamburger Reeperbahn sei weitgehend in der Regie von Albanern, die mit uraltem Stammesrecht aus den albanischen Bergen ("Die Frau ist der Besitz des Mannes") Abhängigkeitsverhältnisse auf deutschem Boden schüfen. Bulgarische Kriminelle würden die "Loverboy"-Methode zur Anwerbung nutzen und rumänische Zuhälter mit "Model-Agenturen" locken. Meist erst in Deutschland beginne dann die Gewalt gegen die eingeschüchterten, verschleppten oder gelockten Frauen.

Mit 89 Verfahren im Jahr 2017 ist Nordrhein-Westfalen der bei Weitem wichtigste Schauplatz im Kampf gegen die Verschleppung von Prostituierten nach Deutschland. "Der Menschenhandel hat überwiegend das Ziel der sexuellen Ausbeutung", sagt der Direktor des Landeskriminalamtes, Frank Hoever. Auf dem Europäischen Polizeikongress in Berlin sprach er von "moderner Sklaverei" gegenüber Frauen, die vor allem aus Bulgarien, Rumänien und neuerdings vermehrt aus Nigeria kämen.

Mit Voodoo und kultischen Zeremonien zum Sex gezwungen

Den nigerianischen "Bruderschaften" sind inzwischen in NRW-Städten Ermittlungsgruppen mit Namen wie "Caesar" in Bochum, "Madame" in Düsseldorf, "Aid" in Duisburg und "Nero" in Oberhausen auf der Spur. Ihre Gegner: Banden, die ihre Opfer mit Voodoo, afrikanischen "Juju"-Schwüren und mit Gewalt- und Todesdrohungen gefügig machen und auf den deutschen "Markt" schicken. Junge Mädchen haben vor Gericht ausgesagt, sie seien mit einem Gehorsamskult eingeschworen worden und hätten dabei das Herz von Hühnern roh essen müssen. Besonders perfide: Den Zwangsprostituierten wird bei Ungehorsam damit gedroht, dass ihren Familien zu Hause in Afrika Leid angetan wird.

Wie rasch sich in dieser Branche eine Szene entwickelt, zeigen auch Zahlen des Bundeskriminalamtes : Danach hat das BKA 2017 gegen 16 nigerianisch beherrschte kriminelle Gruppen ermittelt, darunter gegen die berüchtigte "Schwarze Axt". Gegenüber 2016 hat sich die Aktivität damit verdoppelt. "Äußerst brutal" gingen die Nigerianer vor, warnte kürzlich der Bundesnachrichtendienst.

Die Dunkelziffern der Delikte jedoch sind riesig – auch, weil die Opfer eingeschüchtert nur selten bereit sind, auszusagen oder zur Polizei zu gehen. Deshalb ist neben der Ahndung der schweren Menschenrechtsverletzungen die Prävention entscheidend, das rechtzeitige Erkennen.

Moralische und rechtliche Verpflichtung zum Eingreifen

Nicht selten, so berichtet es die Pilotenvereinigung Cockpit, würden Prostituierte per Flugzeug zum "Einsatzort" geflogen, zum Beispiel zu einem Kongress. Und eigentlich gibt es gerade in Jet-Kabinen die Chance, zu sehen, ob dort Frauen sitzen, die unter Druck stehen, durch Begleiter in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, sich besonders ängstlich verhalten oder jeden Kontakt meiden. Schulungen jedoch gebe es, anders als in vielen anderen Staaten, in Deutschland ebenso wenig wie eine Meldekette in solchen Fällen.

Cockpit-Vorstandsmitglied Maria Murtha zu t-online.de: "Für uns bedeutet jeder Fall einen zu viel und wir wünschen uns ausdrücklich Maßnahmen, die uns Flugzeugbesatzungen helfen, Menschenhandel in der Luftfahrt zu verhindern". Murtha sieht die Crews in der Pflicht: "Die Kommandantin oder der Kommandant müssen dafür Sorge tragen, dass bei Gefahr den Passagieren geholfen wird. Es sind nicht nur unsere moralischen Werte, die uns dazu verpflichten. Laut Strafgesetzbuch können wir gegebenenfalls wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden". In den USA schreibe die Aufsichtsbehörde FAA nunmehr seit 2016 Schulungen für Flugbegleiter vor.

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Zwangsprostitution erfassen können vor allem aber Behörden. Das Landeskriminalamt in Düsseldorf hat eine "Konzeption Menschenhandel" entwickelt. "In den Lagebildern sind nur die Fälle des Menschenhandels abgebildet, die polizeilich bekannt werden", heißt es im LKA. Rotlicht-Kriminalität soll aber aktiver ausgeleuchtet, ihre Opfer als solche erkannt werden. Das Konzept geht an Polizeidienststellen, Ordnungs- und Sozialämter, seine Details seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, so das LKA. Hoever hat auf dem Europäischen Polizeikongress jedoch ein paar Indizien genannt, wie staatliche Stellen Zwangsprostitution im Alltag sehen können: In dem sie nach "verängstigten Frauen mit Verletzungen" Ausschau halten, nach Frauen, die versteckt würden oder die weder über einen "Haustürschlüssel verfügten noch über ein eigenes Einkommen".

Deutschland beginnt, seine Defizite aufzuarbeiten.

Verwendete Quellen
  • US-Botschaft: Länderberichte zu Menschenhandel 2018
  • Vereinigung Cockpit: Bekämpfung von Menschenhandel in der Luftfahrt
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