Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Unaufgeklärtes Lockerbie-Attentat Das Rätsel der fünften Bombe
270 Menschen starben beim Attentat auf einen PanAm-Jumbo über Lockerbie. 30 Jahre später rätseln Ermittler immer noch: Wer war der Täter? Die spannendste Spur führt in eine Wohnung im Rheinland.
PanAm-Flugkapitän Jim McQuarry hat den 300 Tonnen schweren Jumbo "Maiden of the Seas" mit 25 Minuten Verspätung von der Startbahn des Londoner Flughafens Heathrow hochgezogen. Jetzt, um 19.03 Uhr, eine halbe Stunde nach dem Start, erreicht er die Reiseflughöhe von 10.000 Metern und ruft die Flugsicherung im schottischen Prestwick an. Er bittet um die Freigabe, auf den offenen Atlantik zu drehen. Doch schon das "Go" der Lotsen kommt im Cockpit des Jets nicht mehr an.
An diesem frühen Abend des 21. Dezember 1988 erleben sie in Prestwick den Albtraum aller Fluglotsen. Auf den Schirmen zerlegt sich das einzelne Radarecho, das ein Verkehrsflugzeug normalerweise abstrahlt, in fünf Bruchstücke. Es sind die Einzelteile der Passagiermaschine, die nach New York wollte. Sie verschwinden bald vom Schirm. PanAm-Flug 103, eine Boeing vom Typ 747, ist eben über der Ortschaft Lockerbie in Schottland explodiert und abgestürzt.
270 Menschen starben damals. Mit der 25-jährigen Maria Lürbke aus Beckum, mit Alfred Hill aus Sonthofen, Elke Kühne aus Hannover und Johannes Schäuble aus Balingen waren vier deutsche Passagiere unter den Toten. Auch ein amerikanisches Geheimdienstteam, unterwegs von Nahost nach Hause, soll an Bord gewesen sein. Elf Bewohner Lockerbies überlebten den Regen aus Feuer und Trümmer nicht, der aus zehn Kilometer Höhe auf die Stadt fiel und dort tiefe Krater riss.
Nahost-Konflikt bildet Hintergrund
Drei Tage bevor die christliche Welt das Weihnachtsfest 1988 friedlich feiern wollte, ist der Crash als eine der größten Katastrophen in die Geschichte der Zivilluftfahrt eingegangen. Das ist jetzt drei Jahrzehnte her. Viele der Opfer waren Studenten auf dem Heimflug zur Familie in den USA. Eltern, Geschwister und Freunde leben noch. Nicht nur die engeren Angehörigen werden in diesem Dezember der Toten gedenken. 30 Jahre danach bleibt Lockerbie ein hochpolitischer und im Kern ungelöster Kriminalfall. Terrororganisationen und Geheimdienste sind verwickelt. Interessen von Staaten und Regierungen kommen sich in die Quere. Der dauernde, die Weltpolitik belastende und brisante Nahost-Konflikt bildet den Hintergrund. Ermittler sind längst in Pension gegangen und entscheidende Aktennotizen immer noch nicht öffentlich gemacht.
Täterschaft bis heute unklar
Die Explosion im Jumbo ist auf ein Bombenattentat zurückzuführen. Das ist sicher. 300 bis 450 Gramm des Plastiksprengstoffs Semtex, versteckt in einem Radiorecorder und mit Höhenzünder versehen, haben das Flugzeug zerrissen. Reste der Bombe fand man zwischen Metall- und Leichenteilen am Absturzort. Doch bei den anderen wichtigen Fragen sind die Antworten offengeblieben. Wer hat den Sprengsatz an Bord von PanAm-103 gebracht? Wer waren die Drahtzieher, wer die Auftraggeber hinter der Tat? Hätte der Todesflug der "Maiden of the Seas" verhindert werden können? Was wussten Geheimdienste? Auch: Musste am Ende ein Unschuldiger für die Terrortat büßen?
22. Dezember 1988. Die Welt steht unter dem Schock der Absturznachricht, als wenige Stunden nach dem Drama der US-Geheimdienst CIA in einem internen Papier (PanAm-103. Analysis of Claims) einräumt: In einer europäischen US-Botschaft – es war die in Helsinki – sei am 5. Dezember ein Hinweis eingegangen, wonach iranische Revolutionswächter einen Bombenanschlag als Racheaktion bestellt hätten. Das Motiv: der Abschuss eines iranischen Passagierjets durch den amerikanischen Kreuzer "Vincennes". Das Ziel: Eine PanAm-Maschine, die von Frankfurt/Main in die Vereinigten Staaten fliegen werde. Die CIA stellt dazu fest: Der Hinweis sei glaubhaft.
Es ist eine sehr frühe Mutmaßung. Aber die Iraner haben diese Rechnung tatsächlich offen. Im Airbus, der im Juli durch ein Versehen des amerikanischen Kreuzer-Kommandanten abgeschossen worden war, ließen 290 Zivilisten ihr Leben, unter ihnen 66 Kinder. Amerikanische, britische, schottische und später deutsche Polizei-Experten halten deshalb die CIA-Einschätzung für schlüssig.
Libyens Staatschef Gaddafi von Agent beschuldigt
Doch juristisch kommt alles anders: Nach drei Jahren der Fahndung, 1991, gerät überraschend ein libyscher Agent ins Visier des Westens. Die Untersuchungen ziehen sich hin. 2001, lange zwölf Jahre nach dem Anschlag, wird dieser Agent, Abdel al-Megrahi, für die Tat zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Urteil fällt ein schottisches Gericht. Al-Megrahi sitzt einen Teil der Strafe ab und stirbt 2012 in seiner Heimat an Krebs. Bis zu seinem Tod bestreitet Megrahi alle Grundlagen des Richterspruchs: Dass er die Bombe in Malta in Zubringer-Jets von Malta über Frankfurt nach London auf den Weg geschickt hat, wo sie in den Jumbo nach New York geladen wurde. Dass Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi der Auftraggeber war. Dass Gaddafi so den Tod seiner Tochter vergelten wollte, die bei einem US-Luftangriff auf seinen Regierungssitz ums Leben gekommen war.
Aber in diesen zwölf Jahren zwischen der Explosion und dem Prozess 2001 hatte sich die Weltlage gedreht. Freund und Feind hatten gewechselt. Irak war gegen Kuweit marschiert. Amerika brauchte einen Iran, der beim Straffeldzug gegen Saddam Hussein still hielt. Libyen dagegen? Blieb ein "Bad Guy". Ist die libysche Spur die gewesen, die damals politisch besser passte? Zahlte Libyens Herrscher am Ende eine 2,4 Milliarden Dollar hohe Entschädigung an die Lockerbie-Hinterbliebenen – nur, um dem Westen nach erhoffter Aufhebung eines Embargos wieder Öl liefern zu dürfen? Gaddafi beglich die Summe "ohne jede Anerkennung einer Schuld".
Spur führt nach Deutschland
Weit entscheidender aber: Die umstrittene Beweisführung im Prozess gegen al-Megrahi, die selbst eine schottische Untersuchung im Nachhinein als fehlerhaft einstufte, hat fatal eine ganz andere Fährte zu ganz anderen möglichen Tätern verdeckt. Vielleicht war sie die belastbarere Spur – bis heute. Sie führte nach Deutschland.
Es ist der Morgen des 26. Oktober 1988, sieben Wochen vor dem tödlichen Terror von Lockerbie. Polizeieinheiten holen im Auftrag des Bundeskriminalamtes (BKA) zu einem Doppelschlag aus. Die "Operation Herbstlaub" beginnt. Die Beamten stürmen in Frankfurt/Main die Adresse Sandweg 28. Sie finden in einer Wohnung Panzerfäuste, Kalaschnikows, zwei Dutzend Granaten, kiloweise Sprengstoff und elf Zünder. Zur gleichen Stunde räumen ihre Kollegen in Neuss am Niederrhein in der Isarstraße 16 eine Bombenwerkstatt aus.
Das Rätsel der fünften Bombe
Die Isarstraße wird zur eigentlichen Fundgrube: Neben Gepäckaufklebern und Flugplänen stellen die Ermittler eine voll funktionsfähige Höllenmaschine in einem in der Nähe parkenden Auto sicher. Wie die Frankfurter Adresse gehören die Räume und das Auto in Neuss zum Syrer Hafez Dalkamoni. Die Bombe ist aus einem Radio vom Typ Toshiba RT-SF 16 BombBeat 453, zwei Radiotunern und einem "Sanyo"-Computermotor zusammengebastelt. Sie ist mit barometrischen Druckdosen versehen, in einen Recorder integriert und kann im Laderaum eines Flugzeuges in großer Höhe detonieren. Der Sprengstoff: Tschechisches Semtex. Fünf Kilo davon sind im Wagen versteckt. Noch drei weitere Sprengsätze wird man in der Zeit danach im Keller des Gebäudes finden, die im Eifer übersehen worden waren. Eine fünfte fertige Bombe, für deren Bau in der Neusser Wohnung Hinweise ermittelt werden, fehlt.
Beide Adressen, so hat es Israels Geheimdienst Mossad an die deutschen Kollegen gemeldet, sind Dependancen der als hochgefährlich eingestuften Terrortruppe des Syriers Ahmed Jibril, dessen Sicherheitschef Dalkamoni ist. 16 Mitglieder des PFLP-GC, der radikalsten Abspaltung innerhalb des Palästinenserlagers, werden an diesem Oktobertag festgenommen, vier davon im Rheinland. Dalkamoni selbst ist dabei – und der Jordanier Marwan Khreesat.
Das ist ein großer Erfolg für die deutschen Fahnder. Khreesat hat in seinen Kreisen den Ruf als Spezialist für den Bau von Bomben, die Passagierflugzeuge vom Himmel holen. In der Befragung in Düsseldorf zeigt sich der Mann überraschend kooperationswillig und gesteht: Er habe neben den vier Bomben noch eine fünfte gebaut.
Bombe made in Germany
Doch in den ersten Monaten des Jahres 1989 verlässt die bundesdeutschen Behörden das Glück. Ein 37-jähriger BKA-Beamter wird getötet, als er eine der Neusser Bomben im Labor des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden entschärfen will und diese dabei detoniert. Und ein Richter am Bundesgerichtshof lässt ausgerechnet den geständigen Khreesat wegen "mangelnden dringenden Tatverdachts" laufen. "Das ist gegen unseren Willen geschehen", bekräftigt die Bundesanwaltschaft, Deutschlands oberste Anklagebehörde. Was kaum hilft: Khreesat, über den Medien später berichten, er sei zu diesem Zeitpunkt längst als Doppel- oder gar Dreifachagent mal für den Bundesnachrichtendienst, mal für den jordanischen Geheimdienst oder noch andere unterwegs gewesen, taucht unauffindbar ab.
Verschwand mit dem Bombenbauer Marwan Khreesat der Haupttäter? Fahnder haben in den Wochen nach der Lockerbie-Katastrophe herausgefunden: Die Bombe in Dalkamonis Ford in Neuss ist baugleich mit den drei anderen im Keller der dortigen Wohnung – und auch mit der, die den Jumbo über der schottischen Stadt zerrissen hat. Die fehlende Nummer fünf von Neuss könnte der Lockerbie-Sprengsatz gewesen sein. Eine Bombe made in Germany.
Auch für die Ausführung des Anschlags gibt es eine Erklärung. Terroristen von Ahmed Jibrils PFLP-GC könnten den Khreesat-Sprengsatz auf dem Frankfurter Flughafen unkontrolliert in einen ebenfalls von PanAm durchgeführten Zubringerflug nach London gebracht haben – und dort ins Gepäckfach des Jumbos. Dass so etwas über mehrere Flugetappen funktioniert, wissen Experten seit 1986, als man bei einer italienischen Terrorgruppe kombinierte Zünder fand. Sie waren auch für einen Zeitpunkt nach einer Zwischenlandung einstellbar. "Gute Gründe" gebe es für solche Zusammenhänge, heißt es damals in deutschen Fahnderkreisen. Später wird der frühere iranische Staatschef Bani Sadr zum Fall Lockerbie berichten: "Iran gab den Auftrag. Ahmed Jibril führte ihn aus".
Umstände blieben vom Gericht ungeprüft
Die Spur der Neusser Bombe passt in die Zeit. Zahlreiche Entführungen und Sprengungen von zivilen Airlinern sind seit dem Ende des israelisch-arabischen Sechs-Tage-Kriegs 1967 Begleiterscheinungen der Gewalt des Nahost-Konflikts. Fünf Monate nach dem Absturz von PanAm-103, am 23. und 24. Mai 1989, trafen sich in Bern Polizeiexperten aus Schottland und der Schweiz, um den ganz weiten Bogen zu schlagen. Sie haben Ermittlungsergebnisse aus länger zurückliegenden Attentatsfällen beleuchtet und ausgetauscht – wie den ungeklärten Anschlag auf einen Swissair-Flug in Würenlingen bei Zürich mit 47 Toten und auf eine österreichische Maschine, beide Anfang der 70er-Jahre. Sie wussten zudem, dass Khreesat schon um 1970 herum in den vagen Verdacht geraten war, bei Attentaten eine entscheidende Rolle zu spielen.
Sie haben dann zwei und zwei zusammengezählt und ins Protokoll der Berner Konferenz geschrieben: "Parallelen zwischen dem Swissair-Absturz und dem Anschlag auf die AUA-Maschine vor fast zwanzig Jahren sowie mit dem Absturz des PanAm-Jumbos Ende 1988 in Lockerbie ergeben sich in verschiedener Hinsicht. Es spielt eine Radiobombe, kombiniert mit einem Höhenmesser, eine Rolle. Die Bombe wurde als Postsendung aufgegeben, im Falle der Swissair war der Aufgabeort München, bei Austrian Airlines Frankfurt sowie bei PanAm vermutlich auch Frankfurt. Es muss in allen Fällen die Täterschaft in Kreisen der PFLP-PC angesiedelt werden."
Deutschland der Tatort? Khreesat der Täter? Bis heute ist das alles nur ein, wenn auch belastbarer, Verdacht. Kein Gericht hat je die Umstände der Spur geprüft, die bei der "Operation Herbstlaub" sieben Wochen vor dem 270-fachen Tod der Jumbo-Passagiere in Schottland aufgedeckt worden ist. Marwan Khreesat, der in Jordanien lebt, hat vor wenigen Jahren erklärt, er wolle über alles ein Buch schreiben. Er hat es nicht getan. Die Akte Lockerbie bleibt offen.
- Lockerbie-Spur führt in deutsche Gefängniszellen. "Neue Ruhr Zeitung" 04.01. 1989. Lockerbie: Sichtflug in die Katastrophe. "Die Zeit" Nr. 52/1989
- PFLP: Die Sippe des Terrors. "Die Zeit". 22. Dezember 1989
- Lockerbie-Spuren führen nach Deutschland. "Berliner Zeitung". 09.05.1992.
- Der Tod im Herbstlaub. "Der Spiegel" 16/1994
- Ein Feuerball und viele falsche Fährten. "Der Spiegel". 19.12.2008.