Rechtsmediziner im Gespräch Der Meister der "Klaviatur des Todes"
Die US-Serien "Navy CIS" und "Bones - die Knochenjägerin" beeindrucken mit High-Tech-Obduktionen, die letztendlich jeden Kriminalfall lösen. Dabei liegt die Heimat der Rechtsmedizin in Deutschland, mit Berlin als Hochburg der modernsten Methoden.
Hier lehrt, forscht und schreibt Michael Tsokos, Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner, UN-Beauftragter und Bestsellerautor. t-online.de hat mit ihm gesprochen und erfahren: Den perfekten Mord könnte es zumindest in Berlin nicht geben.
Die Toten verraten viel, wenn man sie kennt, wenn man sie lesen kann und wenn man so viel Erfahrung hat wie Tsokos. Der Puzzlemörder ist sein Lieblingsfall, eine zerstückelte Männerleiche, dessen Tattoos den Rechtsmediziner wie eine Schnitzeljagd beschäftigten. Eine echte Herausforderung auf der "Klaviatur des Todes".
Das Interview führte Maria Magdalena Held
Ist die Rechtsmedizin in Deutschland von Einsparungen bedroht?
Ja, durchgehend und zwar schon seit Jahrzehnten, weil wir in diesem Konkurrenzkampf der Universitäten nur schlecht mithalten können. Was medizinische Fakultäten möchten, ist die hochkarätige Forschung, mit der man sich im internationalen Vergleich messen kann, insbesondere Neurowissenschaften. Was wir in Deutschland in der Forschung zur Rechtsmedizin machen, ist zwar weltweit spitze, aber im gesamten medizinischen Bereich nicht so anerkannt.
Wir müssen nachweisen, ob jemand zu Lebzeiten verbrannt ist, den Staatsanwalt interessiert, ob jemand tatsächlich erwürgt wurde oder ob es vielleicht doch ein Unfall gewesen ist. Aber das können sie natürlich nicht in hochkarätigen wissenschaftlichen Zeitungen veröffentlichen. Wir sind zwar was die Lehre angeht, immer auf den vorderen Plätzen, aber bei den Forschungspublikationen können wir im Vergleich zur Neurologie, Neurobiologie oder Neuropathologie nicht mithalten.
Sind die TV-Rechtsmediziner aus "Tatort" oder "Navy CIS" nicht eine gute Lobby für Sie? Oder schreiben Sie auch deswegen die Bücher, um Ihre Arbeit noch bekannter zu machen?
Das ist tatsächlich von Anfang an ein Anliegen gewesen, eine Lanze für die Rechtsmedizin zu brechen. In den letzten Jahrzehnten wurde so viel wegrationalisiert, viele Institute wurden geschlossen. Das ist eine fatale Entwicklung. In Großbritannien hat man das erlebt: Dort wurde ein großer Teil der Polizei, nämlich die Spurensicherung privatisiert. Die Qualität bleibt dabei natürlich auf der Strecke. Jetzt versucht man das wieder gutzumachen, aber das geht nicht, weil es keine Rechtsmediziner mehr gibt.
Einen Rechtsmediziner auszubilden dauert mindestens elf Jahre: Sechs Jahre Medizinstudium, fünf Jahre Facharztausbildung. Auch wenn ich für meine Abteilung zehn zusätzliche Stellen bewilligt bekäme, ich würde keine zehn in Deutschland finden. Wir könnten wirklich an einem Punkt anlangen, an dem die Rechtssicherheit in Gefahr gerät - weil nicht mehr ausreichend obduziert wird, weil keine hochqualifizierte Leichenschau mehr durchgeführt wird. Die logische Konsequenz aus Einsparungen wäre, dass mehr Mörder und Totschläger unerkannt und frei herumlaufen.
Geld ausgeben muss man bestimmt auch für Fortbildung und modernste Technologie. Andererseits sagen Sie, Deutschland ist Vorreiter, andere Länder können von Deutschland lernen, wie passt das zusammen?
Man muss da etwas weiter ausholen: Die moderne Rechtsmedizin hat ihre Wurzeln im deutschsprachigen Bereich, insbesondere in Deutschland und in Österreich. Tatsächlich sind die Lehrstühle in Berlin und in Wien Vorreiter. Wir arbeiten heute im Sektionssaal mit ähnlichen Untersuchungsmethoden wie vor vielen Jahrzehnten - beispielsweise beim Erkennen von Vitalzeichen.
Das Problem ist, dass unsere deutschen Fachbücher nie ins Englische übersetzt worden sind, somit ist unser Wissen nur im deutschsprachigen Raum zugänglich. Wir sind relativ weit vorne, die Amerikaner müssen dennoch vieles neu entdecken.
Man kennt sich natürlich auch in der Szene, die in Deutschland nur aus 240 Leuten besteht. Wenn man sich selbst mit einer Thematik noch nie beschäftigt hat und auf ein ungewöhnliches Problem stößt, dann weiß man, wen man anrufen kann. Das ist ein sehr fragiler Mikrokosmos, wenn man da große Stücke rausschneidet, dann bricht alles in sich zusammen.
Nur rund drei Prozent aller Todesfälle werden in Deutschland rechtsmedizinisch untersucht, in Berlin bis zu sieben Prozent, in manchen Regionen jedoch nur ein Prozent, in Skandinavien dagegen 20 Prozent. Wie ist da denn die Quote von Kriminalfällen und natürlicher Todesursache?
In Deutschland gibt es jährlich rund 700.000 Todesfälle, davon werden etwa 22.000 bis 23.000 obduziert. Ein Zehntel davon machen wir allein in Berlin. Es gibt einige Regionen in Deutschland, wo gar keine Sicherungsobduktionen mehr stattfinden. Das sind Obduktionen in Fällen, bei denen nicht klar ist, ob es sich um ein Verbrechen handelt. Beispiel: Ein Mensch sitzt einer tot auf der Parkbank oder in der U-Bahn, es ist aber keine Kopfverletzung oder Schussverletzung zu sehen. In Berlin führen wir zum Ausschluss eines Verbrechens eine Obduktion durch. In vielen anderen Bundesländern ist es mittlerweile so, dass nur noch bei konkretem Verbrechensverdacht obduziert wird.
Deshalb kann man nicht sagen, wie viele davon natürliche Todesfälle sind, wie viele Suizide, wie viele Verbrechen, wie viele Morde. Bei uns in Berlin verteilt sich das ungefähr so: von den Obduktionen, die wir machen sind etwa 15 bis 20 Prozent Tötungsdelikte, etwa 20 bis 30 Prozent Suizide, etwa zehn bis 15 Prozent Unfälle und etwa 35 bis 50 Prozent natürliche Todesfälle.
Sie schildern spannende Fälle aus der Praxis: In Ihrem Buch steckt auch ein Stück Prävention?
Ja. Die Rechtsmedizin waren ganz entscheidend an der Entwicklung von Airbags beteiligt, auch bei der Entwicklung von Sicherheitsgurten. Die Arbeit von Rechtsmedizinern ist entscheidend dafür, dass Anoraks und Pullis von Kindern keine Kordeln mehr haben, weil wir beobachtet haben, dass sich Kinder damit beim Rutschen am Spielplatz strangulieren. Das wird häufig unterschätzt, aber wenn wir nicht mehr diese Obduktionen und Untersuchungen durchführen würden, dann würden viele Sachen in der Sicherheitsentwicklung sehr viel langsamer vorangehen.
Wenn der Thriller "Abgeschnitten", den Sie gemeinsam mit Sebastian Fitzek geschrieben haben, verfilmt wird, dann achten Sie bestimmt darauf, dass alles korrekt dargestellt wird, was die Rechtsmedizin angeht, anders als in Tatort & Co.?
Da würde ich schon künstlerische Freiheit zulassen, das soll ja ein Actionplot sein. Im Buch entspricht zwar alles der Realität, aber eben stark verdichtet und aus einem Sammelsurium von Fällen, die ich in meiner beruflichen Laufbahn angesammelt habe. In dieser Intensität würde sich das natürlich nie im wahren Leben abspielen. Aber wenn die “Klaviatur des Todes” verfilmt wird, und dazu gibt es jetzt auch schon konkrete Überlegungen, dann würde das natürlich 1:1 der Realität entsprechen.
Sie bilden ja beispielsweise auch in Ägypten aus. In wie vielen Ländern der Welt gibt es überhaupt eine vergleichbare Rechtsmedizin?
Es gibt eigentlich in jedem Land, sogar im Vatikan eine eigene Rechtsmedizin. Da geht es auch um die Identifikation unbekannter Toter. Jeder Staat hat natürlich ein Interesse daran, dass nicht nur seine im Ausland verstorbenen Angehörigen, sondern auch im Inland Verstorbene identifiziert werden können, um mögliche Verbrechen aufzuklären.
Stichwort Todesfälle in Haft. Es ist doch sicherlich nicht in jedem Land möglich, die zu überprüfen, gerade, wenn die Rechtsmedizin der Polizei nachgeordnet ist?
Genau, in einigen Ländern werden sie vermutlich gar nicht überprüft, in anderen Ländern sind die Rechtsmediziner direkt bei der Polizei oder der Justiz angestellt, dann ist das natürlich relativ schwierig, das ist zumindest meine Meinung, zu behaupten, dieser Mensch ist durch Gewalt im Polizeigewahrsam beispielsweise durch einen unangemessenen Würgegriff oder eine unangemessene Fesselung, die zum Ersticken geführt hat, oder sogar durch Schläge, stumpfe Gewalt, verstorben.
Da sind wir natürlich in einer ganz anderen Position in Deutschland, wo wir tatsächlich unabhängig sind. Der Staatsanwalt ist zwar unser Auftraggeber, aber wir leben nicht in einem Unrechtsstaat, wo dann irgendwelche Akten unter Verschluss kommen. oder uns jemand diktiert, wie das Gutachten auszusehen hat. Das ist natürlich ein großer Pluspunkt einer Demokratie, dass die Rechtsmedizin unabhängig ist.
Bei einem Tsunami, bei dem Fund eines Massengrabes, wer wäre dann der Auftraggeber, der Sie bittet, bei der Identifizierung der unbekannten Toten zu helfen?
Bei Massenkatastrophen wäre es die Bundesregierung, die über das Bundeskriminalamt ein Expertenteam zusammenstellt, das diese Untersuchung durchführt. Bei den Massengräbern 98/99 im ehemaligen Jugoslawien war es die UN, die gesagt hat, für unser Kriegsverbrecher-Tribunal benötigen wir Identifizierung und Nachweis, dass es sich um ein Kriegsverbrechen handelt oder eben nicht und eine Klärung der Todesursachen.
Wo fängt man denn bei einer Massenkatastrophe an?
Man muss erst einmal Daten sammeln. Je mehr Daten von Verstorbenen ich habe, umso mehr kann ich mit den Daten von Vermissten abgleichen. Wenn ich 300 Tote habe, untersuche ich jeden einzeln und versehe ihn mit einer Nummer. Dann prüfe ich, ob beispielsweise die Ohrläppchen angewachsen sind, ob der Tote gepierct ist, eine Tätowierungen oder Narben hat. Der Zustand der Organe verrät mit das ungefähre Alter des Toten. Ich erhebe alle diese Daten.
Parallel ermittelt die Polizei, fragt bei Angehörige der Vermissten nach charakteristischen Narben, Piercings, Tattoos und so weiter. Die Ermittler sammeln DNA-Spuren von Zahnbürsten oder stellen Fingerabdrücke sicher. Dann wird das alles abgeglichen. Je mehr Daten man hat, desto mehr Treffer sind möglich. Am Anfang ist es mühsam, aber dann schnellt die Identifizierungsquote hoch.
Gibt es denn einen besonders faszinierenden oder schrecklichen Fall?
Ja, das ist der Puzzlemörder, gleich der erste Fall aus der "Klaviatur des Todes". Denn das ist so richtig klassische Rechtsmedizin. Zerstückelte Leiche, die Frage, wer hat es getan und wer ist es überhaupt? Die Identifizierung über die Tätowierung. Dann die Rekonstruktion über den Tatort, über die Blutspuren, über die Verteilung der Leiche, die Computertomographie, das ist so ein Fall, an dem man eigentlich die ganze Rechtsmedizin erklären kann: Identifizierung, Todesursache, Rekonstruktion, Blutspuren, Computertomographie.
Manche Fälle, bei denen alles Routine ist, kann man bestimmt einfach abarbeiten, dann gibt es sicherlich solche, die viel Kombinationsleistung verlangen?
Ja, das ist so, da ist kein Fall wie der andere. Aber man muss erkennen, wann es darauf ankommt. Viele Fälle sind 0815, da macht man die Brust auf und hat einen Herzinfarkt, dann ist alles geklärt. Aber bei den anderen Fällen, muss man erkennen, so jetzt muss ich auf den langsamen Modus umschalten und ganz genau gucken und rekonstruieren. Aber das ist einfach eine Erfahrung, die man mit den Jahren sammelt. Das ist die Stärke eines guten Rechtsmediziners, die ganz wenigen besonderen Fälle herausfiltern zu können, damit die nicht unter 0815 mitlaufen.
Professor Dr. Michael Tsokos ist Direktor am Institut für Rechtsmedizin der Charité in Berlin. "Abgeschnitten" heißt der Bestseller, den er gemeinsam mit Krimiautor Sebastian Fitzek geschrieben hat, "Klaviatur des Todes", die Sammlung seiner spektakulärsten Fälle. Im Auftrag der Bundesregierung und der Vereinten Nationen identifiziert er Tote aus Massengräbern in Kriegsgebieten und Opfer von Naturkatastrophen. Rechtssicherheit ist ihm ein Anliegen, auch für die Lebenden, deshalb mischt er sich in aktuelle Debatten ein.