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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Gehirnwäsche im Namen der Bibel" Wie eine Kinderschläger-Sekte in Bayern Fuß fasste
Naturverbunden, gemeinschaftlich, bibeltreu – so inszenieren sich die "Zwölf Stämme" gerne. Doch Aussteiger der radikalen Sekte sprechen von Gehirnwäsche und Gewalt.
Die Mitglieder einer Kommune der "Zwölf Stämme" leben meist gemeinsam auf einem Landgut oder Bauernhof. Die Gruppe versorgt sich selbst, hat selten Kontakt zur Welt außerhalb ihrer vermeintlichen Landidylle. Was zunächst harmonisch klingt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als gefährliches Konstrukt.
Innerhalb weniger Jahre wurde die bibeltreue Gemeinschaft zu einer Sekte aus christlichen Hardlinern, die immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Die "Zwölf Stämme" machten wiederholt mit Kindesmisshandlung und sogar mit einer Entführung Schlagzeilen.
Die Geschichte der "Zwölf Stämme"
Die streng religiöse Gruppe hat ihren Ursprung im US-Bundesstaat Tennessee. Dort gründete der Pädagoge Elbert "Gene" Spriggs Anfang der 1970er-Jahre einen Bibelkreis namens "Light Brigade".
Nach einiger Zeit begannen die Mitglieder in einer Kommune zu leben und isolierten sich zunehmend. Im Jahr 1978 kaufte die Gruppe ein Gelände in Island Pond, einem Dorf im Bundesstaat Vermont.
Mitte der 1980er-Jahre kam es erstmals zu einer Razzia der US-Polizei, bei der sie 112 Kinder in staatliche Obhut nahm. Gegen die Eltern wurde wegen Kindesmisshandlung und -missbrauchs ermittelt.
Kurz darauf setzte sich Sektengründer Spriggs nach Südfrankreich ab, um einen europäischen Ableger seiner Kommune zu gründen. Innerhalb weniger Jahre wuchs die Gruppe auch dort auf über 100 Personen an, ehe die Sekte erste Kommunen in Deutschland gründete.
Nach zahlreichen Ermittlungen und Gerichtsverfahren zogen sich die fundamentalchristlichen Siedler aus Deutschland zurück und schlugen ihr Lager in Tschechien auf. Auch in anderen europäischen und amerikanischen Ländern ist die Sekte aktiv.
So lebt die Sekte
Was auf den ersten Blick wie friedliche Selbstversorgung wirkt, ist in Wahrheit ein streng hierarchisches System, das von Hass und Gewalt geprägt ist. Bereits im Jahr 2012 konnte die "Augsburger Allgemeine" mit einem Aussteiger reden. Er spricht von "Gehirnwäsche im Namen der Bibel", von einem Weltbild, in dem Schwarze den Weißen zu dienen haben, von harter, patriarchischer Ordnung.
Die Mitglieder der Kommune müssen lang arbeiten, erhalten aber keinen Lohn. Persönliches Eigentum gibt es nicht, alles gehört der Gemeinschaft. Staatliche Unterstützung und sämtliche Sozialsysteme, wie etwa die Krankenversicherung, lehnt die Sekte strikt ab.
Kinder bei den "Zwölf Stämmen"
Der Aussteiger Robert Pleyer berichtete einst in einem Interview mit dem "Focus" von regelmäßiger Gewalt gegenüber Kindern. Rutenschläge in der Schule, Prügel vom Vater, sogenannte Züchtigungsräume für laute Kinder – all das sei Alltag bei der Sekte gewesen, sagt Pleyer. Es gehe darum, den Willen der Jüngsten zu brechen.
Statt Spaß und Spiel mussten die Kinder auch am Nachmittag bei der Ernte oder Handwerksaufgaben helfen. Manchmal soll dafür sogar die Schule ausgefallen sein. Kinderspiele seien verboten gewesen, Kinderarbeit allerdings nicht, so fasst es der Aussteiger zusammen.
Die Schule der Sekte
Eine staatliche Schule durften Kinder der Sekte nie besuchen. Denn aus Sicht der "Zwölf Stämme" seien Sexualkunde und die Evolutionstheorie unmoralisch. Nach langer Auseinandersetzung mit den Behörden und einer der Sekte angedrohten Strafzahlung in niedriger sechsstelliger Höhe genehmigten die bayrischen Behörden schließlich den Betrieb einer eigenen Schule.
Erst sieben Jahre später entzog man die Genehmigung wieder, nachdem Berichte über die massive Gewaltanwendung sowie rassistische und sexistische Unterrichtsinhalte ans Tageslicht gekommen waren. Bei vorherigen Kontrollen der zuständigen Behörden soll die Gemeinschaft teils Lehrer aus dem Ausland eingeflogen haben, um den eigenen Schein zu wahren, wie einer der Aussteiger berichtet.
Der Abzug aus Deutschland
Kurz darauf nahmen staatliche Stellen 40 Kinder der "Zwölf Stämme" in Obhut und entzogen den Eltern vorläufig das Sorgerecht. Ein Jahr später lebte noch rund die Hälfte der Kinder in Pflegefamilien oder Heimen.
Mehrere Elternteile und ehemalige Lehrer wurden rechtskräftig verurteilt. Darunter eine Lehrerin, die vom Landgericht Augsburg eine Strafe von zwei Jahren Haft ohne Bewährung erhielt.
Aufgrund des Vorgehens der Behörden und der gestiegenen Aufmerksamkeit siedelten die Mitglieder der deutschen "Zwölf Stämme"-Kommune nach Tschechien über. Dort sei es leichter, "Kinder nach [den eigenen] Wertvorstellungen zu erziehen", wie damals ein Sprecher der Gruppe sagte. Man hatte zuvor einige Grundstücke in der Nähe von Prag gekauft.
Im Jahr 2021 verschwand die damals 11-jährige Shalomah, die seit Jahren in einer Pflegefamilie untergebracht war. Kurz darauf erhielt der Pflegevater eine E-Mail – dem Kind gehe es gut. Absender sollen die leiblichen Eltern sowie ein weiteres Sektenmitglied gewesen sein. Deutsche Behörden gehen daher von einer Entführung nach Tschechien aus. Tschechische Behörden sehen diesen Verdacht jedoch nicht als bestätigt an und lehnten einen Antrag auf Rückführung ab. Bis heute wurden weder Shalomah noch ihre leiblichen Eltern gefunden.
- Focus: "Shalomah wohl in Fängen der Sekte Zwölf Stämme"
- BR24: "Wer sind die Zwölf Stämme?"
- RTL: "Psychodrill und Rutenhiebe: Wie die Sekte Zwölf Stämme ihre Kinder bricht"
- Augsburger Allgemeine: "Sekte Zwölf Stämme: Das Leben hinter der Fassade"
- Süddeutsche Zeitung: "Gehirnwäsche, Prügel, Rassismus"
- Süddeutsche Zeitung: "Zwölf Stämme wandern aus"