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Der Fall Pelicot und die Folgen: Die Täter sind überall


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51 Urteile nach Massenvergewaltigung
Das Ende der Macho-Gesellschaft?


Aktualisiert am 19.12.2024 - 15:17 UhrLesedauer: 6 Min.
FRANCE-JUSTICE/MENVergrößern des Bildes
Vor dem Gericht in Avignon verbirgt ein Mann sein Gesicht hinter einer Maske. (Quelle: ALEXANDRE DIMOU)
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Der Haupttäter hatte keine Schwierigkeiten, jederzeit einen zur Vergewaltigung bereiten Komplizen zu finden. Der Fall Pelicot könnte Frankreich verändern.

Dieser Prozess markiere nichts weniger als eine Zeitenwende, hatte im November Frankreichs damaliger Premierminister Michel Barnier gesagt: Die Nachwelt werde die Geschichte Frankreichs später einmal in ein "Vorher" und ein "Nachher" teilen. Der Fall Pelicot ändere alles.

Nun ist der Prozess am Donnerstag mit 51 Schuldsprüchen zu Ende gegangen. Der Hauptangeklagte muss 20 Jahre in Haft, danach wird über eine Sicherungsverwahrung entschieden. Für Dominique Pelicot bedeutet dies die Höchststrafe. Es ist gut möglich, dass der 72-Jährige nie wieder einen Fuß in Freiheit setzen kann.

Auch alle anderen Angeklagten wurden schuldig gesprochen. Vor dem Gericht in Avignon brandete Jubel auf, als die Nachricht nach draußen drang.

Was ändert sich nun wirklich im Land?

Der Fall hat Frankreich aufgewühlt wie wenige andere, wegen der Monstrosität der Verbrechen ließ er sich von niemandem ignorieren. Jahrelang hatte Dominique Pelicot seine Frau Gisèle unter Drogen gesetzt und die bewusstlose Frau von Dutzenden Fremden vergewaltigen lassen. Als sie sich wegen ihrer ständigen Erinnerungslücken und gynäkologischen Probleme Sorgen machte, ernsthaft krank zu sein, spielte er den liebevollen Ehemann und begleitete sie zum Arzt – nur um sie unmittelbar danach erneut zu betäuben und im Internet zum Missbrauch anzubieten.

Jetzt sind die Urteile also gefallen. Und die große Frage, die Frankreich nun bewegt, lautet: Wie wird das "Danach" aussehen? Was ändert sich wirklich im Land?

Frankreich diskutiert über Gesetzesänderung

Ein paar Dinge sind bereits von der Regierung beschlossen worden: Tests, mit denen Frauen feststellen können, ob sie betäubt wurden, sollen künftig einfacher zur Verfügung gestellt werden. Außerdem sollen Frauen in allen Krankenhäusern direkt Anzeige gegen mutmaßliche Missbrauchstäter erstatten können – weil Krankenhäuser zumeist die erste Anlaufstelle von Frauen sind, die sexualisierte Gewalt erfahren haben.

Zudem wird darüber diskutiert, das Strafgesetz zu ändern: Eine Vergewaltigung liegt in Frankreich bisher nur vor, wenn der Täter Gewalt oder Zwang ausübt oder damit droht. Unter dem Eindruck des Pelicot-Prozesses hat sich der französische Justizminister bereits dafür ausgesprochen, dies zu ändern, sodass künftig sexuelle Handlungen ohne explizite Zustimmung als Straftat gelten, also eine Ja-heißt-Ja-Regel in den Paragrafen 222-23 aufgenommen wird.

Gisèle Pelicot wünscht sich einen grundlegenden Wandel

Aber was ist mit den großen, gesellschaftlichen Fragen? Wird sich auch das alltägliche Verhältnis zwischen Frauen und Männern in Frankreich fundamental ändern?

Gisèle Pelicot selbst hat während des Prozesses mehrfach deutlich artikuliert, dass sie sich das wünscht: Die Scham müsse die Seiten wechseln, zitierte sie eingangs eine feministische Forderung. Nicht die Opfer von sexualisierter Gewalt sollten das Bedürfnis haben, sich zu verstecken, sondern die Täter.

Vielleicht war diese Haltung die Initialzündung. Gisèle Pelicot hätte anonym bleiben können, sie hätte verlangen können, dass die von ihrem Mann gefilmten Vergewaltigungen nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezeigt werden. Aber sie wollte, dass ihr immenses, persönlich erfahrenes Leid noch etwas Gutes bewirkt – und entschied sich deshalb für vollständige Offenheit.

"Erzieht eure Söhne"

Gisèle Pelicot hatte von Anfang an eine klare Botschaft. Im Prozess forderte sie: "Erzieht eure Söhne." Und sie sagte: "Ich möchte, dass sich jede Frau, die eines Morgens aufwacht und sich nicht an die vergangene Nacht erinnern kann, an meinen Fall denkt." Keine Frau dürfe mehr Opfer der "Soumission chimique" werden, wie in Frankreich Vergewaltigungen genannt werden, bei denen die Täter K.-o.-Tropfen oder andere Drogen verwenden, um Frauen zu betäuben. "Chemische Unterwerfung" lautet die wörtliche Übersetzung.

Dominique Pelicot erklärte vor Gericht, diese Methode sei seine einzige Chance gewesen, seine starke Frau zu beugen. Gisèle Pelicot sagte: "Ich wurde auf dem Altar des Lasters geopfert, und wir müssen darüber reden."

"Chemische Unterwerfung": Eine Seuche der Macho-Gesellschaft

Ihr Mut trug Früchte: Während die Täter sich hinter Corona-Masken oder unter Kapuzen zu verbergen suchten, legte sie im Laufe des Prozesses die Sonnenbrille ab, die sie anfangs noch trug. Durch ihren Mut zur Offenheit wurde sie zur Ikone: Immer mehr Frauen drängten zu den Verhandlungsterminen, applaudierten vor Gericht und demonstrierten im ganzen Land. Der Fall schlug auch im Ausland Wellen.

Die britische BBC zitierte eine Frau, die zum Prozess gekommen war: "Gisèle hat alles auf den Kopf gestellt. Mit einer Frau wie ihr haben wir nicht gerechnet." Unzählige Frauen schrieben Gisèle Pelicot Briefe und berichteten von ähnlichen Erlebnissen. Ihre Anwälte zitierten aus den Schreiben: "Ich danke Ihnen für das, was Sie tun. Dank Ihnen finde ich den Mut, zur Polizei zu gehen. Dank Ihnen spreche ich nun über Dinge mit meiner Familie, die weit zurückliegen."

So trat die Dimension des Problems immer klarer zutage: Die "chemische Unterwerfung" als eine der letzten Eskalationsstufen einer nach wie vor von Machtungleichheit und männlicher Dominanz geprägten Gesellschaft ist offenbar verbreiteter, als sich das viele je vorstellen konnten oder wollten.

Vergewaltigung werde banalisiert, formulierte es Gisèle Pelicot im Prozess: "Es ist höchste Zeit, dass die von Machismus und patriarchalen Strukturen geprägte Gesellschaft sich ändert."

Männer fragen sich: "Bin ich Teil des Problems?"

Und tatsächlich: Die Wucht dieses Falls scheint auch bei vielen Männern alte Weltbilder zu erschüttern – und so teilweise auch für persönliche Verunsicherung zu sorgen. Die Zeitung "Le Monde" schreibt, viele Männer würden sich mittlerweile fragen, ob sie Teil des Problems seien. Zum Beleg führt das Blatt einen Familienvater an, der erzählt, sexualisierte Gewalt gegen Frauen habe ihn früher nie sonderlich interessiert.

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In Fällen, die in der Vergangenheit ein großes Medienecho in Frankreich hervorriefen, seien die Täter immer als abnormal böse geschildert worden – wie etwa Michel Fourniret und Guy George. Die beiden mordenden Serienvergewaltiger seien in der Berichterstattung zu halben Teufeln stilisiert worden. Der durchschnittliche französische Mann habe sich sagen können, mit diesen Gestalten nichts gemein zu haben, reflektierte der von "Le Monde" befragte Mann: "Das kam uns allen entgegen."

Die Täter sind überall, sie kommen aus der Mitte der Gesellschaft

Die Dutzenden Täter im Fall Pelicot mit ihren durchschnittlichen Biografien lassen diese Verdrängung nun nicht mehr zu. Zu offensichtlich ist: Die Männer kommen nicht aus einer abgeschotteten Parallelwelt. Einige mögen bemitleidenswerte persönliche Geschichten haben, sind alkoholkrank oder selbst Opfer von Gewalttaten. Die meisten allerdings sind ganz normale Familienväter, viele übten angesehene Berufe aus: Ein Tischler ist dabei, ein ehemaliger Feuerwehrhauptmann, ein Journalist, ein Soldat, ein Krankenpfleger, ein Computerspezialist mit mehreren Universitätsabschlüssen. Sie kommen aus allen Schichten der Gesellschaft, aus allen Altersklassen. Zum Zeitpunkt der ihnen vorgeworfenen Taten waren sie zwischen 22 und 67 Jahre alt.

Dominique Pelicot hatte keinerlei Mühe, jederzeit einen zur Vergewaltigung bereiten Mann aufzutreiben. Einer kam am Abend, an dem seine Frau ein Kind zur Welt gebracht hatte, ins Haus der Pelicots. Bis sie am Tatort waren, brauchten die Komplizen von Dominique Pelicot meistens nicht lange. Viele wohnten in der Nachbarschaft, nur wenige Kilometer entfernt. Der Fall offenbarte damit: Potenzielle Täter sind überall.

Gisèle Pelicot kontert Ausflüchte der Männer

"Der Vergewaltiger sind wir", schrieb die deutsche Tageszeitung "taz" dazu und meinte damit: Die Kultur von Vergewaltigung, von Dominanz und Unterwerfung sei tief in der Gesellschaft verankert.

Die Hoffnung, die viele hegen: Dies ins kollektive Bewusstsein zu holen, könnte die Grundlage dafür schaffen, den Anker endlich zu lichten. Es sei im Prozess auch darum gegangen, das Gericht "zu einer Art Labor" zu machen, sagte einer von Gisèle Pelicots Anwälten dem "Spiegel". Dies sei der Wunsch von Gisèle Pelicot gewesen: "Sie wollte zeigen, wie man sich im Jahr 2024 gegen eine Vergewaltigung wehren kann."

Das Team um Pelicot habe zudem eine gewisse Vorstellung von Männlichkeit entlarven wollen, die bei den Angeklagten vorherrschend war. Einige der Männer versuchten etwa, sich vor Gericht herauszureden, Dominique Pelicot habe doch die Erlaubnis zur Vergewaltigung seiner Frau erteilt.

Gisèle Pelicot konterte solche Ausflüchte konsequent. "Wann genau hat Frau Pelicot Ihnen eigentlich ihr Einverständnis gegeben?", fragte sie.

"Dank Ihnen habe ich heute weniger Sorgen um meine Tochter"

Die schlechten Ausreden der Männer und die Erwiderung von Gisèle Pelicot zeigen indes zweierlei: Offenbar glauben immer noch manche Männer, dass sie über "ihre" Frauen frei verfügen könnten – und sind sogar der Ansicht, es wäre eine gute Idee, dies offen vor Gericht kundzutun.

Dass sie mit diesen Ausflüchten nicht durchgekommen sind und alle Angeklagten schuldig gesprochen wurden (mehr zu den Urteilen lesen Sie hier), verdeutlicht zweitens: Solche Haltungen sind von gestern.

Viele Menschen im Land sind nun überzeugt, dass der Mut von Gisèle Pelicot helfen wird, ein neues, gesellschaftliches "Danach" zu schaffen. So schrieb eine Mutter erst kürzlich in einem Brief an Gisèle Pelicot: "Dank Ihnen habe ich heute weniger Sorgen um die Zukunft meiner Tochter."

Verwendete Quellen
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