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"Bild" muss Bericht richtigstellen: Wie konnte DAS je erscheinen?


Alles erfunden, von Anfang bis Ende
Wie konnte die "Bild"-Zeitung diese Geschichte je drucken?


17.04.2025Lesedauer: 5 Min.
Die Startseite der "Bild" am Donnerstagmittag: "Wirklich alle unsere Leserinnen und Leser sollen diese Richtigstellung lesen", sagte "Bild"-Chefin Marion Horn.Vergrößern des Bildes
Die Startseite der "Bild" am Donnerstagmittag: "Wirklich alle unsere Leserinnen und Leser sollen diese Richtigstellung lesen", sagte "Bild"-Chefin Marion Horn. (Quelle: Screenshot)
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Eine "Bild"-Geschichte über eine angeblich transsexuelle Polizistin entpuppt sich als gigantische Lüge. Fußte sie auf einer polizeiinternen Intrige? Jetzt äußert sich erstmals die in dem Fall angegriffene Gewerkschaft.

Schwarz auf Hellgrau, riesengroß, stundenlang an prominenter Position auf der Homepage: Am Donnerstag musste die "Bild"-Zeitung einräumen, eine komplette Artikelserie quasi herbeifantasiert zu haben.

"Richtigstellung Fall Judy S.", stand in mächtigen Buchstaben auf der "Bild"-Internetseite. Und etwas kleiner darunter: "'Bild' hat im November 2024 in mehreren aufeinanderfolgenden Berichten Falschbehauptungen über die Berliner Polizistin 'Judy S.' verbreitet. Wir haben berichtet, dass Judy S. in Wirklichkeit eine Transfrau sei. Sie habe beim Sex in ihrer Wohnung zwei Männer unter Drogen gesetzt und missbraucht, unter anderem mit einer Penispumpe."

Es war eine Geschichte, die bundesweit Wellen schlug. Die in sozialen Medien viral ging. Die den ehemaligen "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt dazu trieb, Häme nicht nur über Judy S., sondern über trans Personen ganz allgemein auszugießen: "Wann merkt diese Gesellschaft, dass wir solche Leute nicht in die Umkleiden von Mädchen lassen dürfen?", ätzte er auf der Plattform X. Und unzählige User fielen in sein anklagendes Johlen mit ein.

"Keine dieser Behauptungen war zutreffend. Sie sind widerlegt"

Allerdings, wie sich dann herausstellte: Es war alles erfunden, von Anfang bis Ende. Oder wie es in der von der "Bild"-Zeitung publizierten Richtigstellung zur eigenen Berichterstattung heißt: "Keine dieser Behauptungen war zutreffend. Sie sind widerlegt."

Judy S. ist demnach also keine trans Frau. Sie ist als Mädchen zur Welt gekommen. Sie hat in ihrer Wohnung keine Männer beim Sex unter Drogen gesetzt. Und sie hat sie auch nicht mit einer Penispumpe missbraucht.

Der neue Fall Katharina Blum?

Es ist ein Fall, der das Zeug hat, zumindest die Glaubwürdigkeit von "Bild", wenn nicht aller Medien in Deutschland generell zu gefährden. Wie konnte die "Bild"-Redaktion nur eine solche Artikelserie veröffentlichen, die ganz offensichtlich jeder Grundlage entbehrte?

Zunächst: Bei allem, was Medien in Deutschland vorgeworfen wird, bei allen Fehlern, die Journalistinnen und Journalisten tatsächlich begehen – der Fall Judy S. ist eine Ausnahme. "In meiner ganzen beruflichen Laufbahn habe ich keinen derartigen Fall erlebt", erklärte Christian Schertz, Deutschlands bekanntester Medienanwalt, dem "Tagesspiegel". "Hier wurde eine Frau öffentlich diffamiert und zum Monster gemacht. Der neue Fall Katharina Blum."

Schertz, der die Vertretung von Judy S. übernahm, vergleicht den Fall Judy S. also mit Heinrich Bölls Roman aus dem Jahr 1974. Die Romanfigur Katharina Blum gerät darin nach einer Nacht mit einem ihr bis dahin unbekannten Mann ins Mahlwerk einer Boulevardzeitung. Das Publikum erkannte in dieser Zeitung, die die Ehre der Katharina Blum im Buch systematisch zerfetzt, ganz eindeutig die "Bild".

"Eine maximale Belastung": 150.000 Euro für Judy S.

So monströs findet der Medienprofi Schertz den Fall Judy S. also, dass er ihn heute, 50 Jahre nach Bölls Buch, nicht mit einem realen Fall von Falschberichterstattung vergleicht, sondern mit dem Roman. Das ist bezeichnend.

Auch Tobias Gostomzyk, Professor für Medienrecht an der TU Dortmund, hebt die Besonderheit des Falls hervor. Berichten zufolge haben sich "Bild" und S. außergerichtlich auf eine Zahlung von 150.000 Euro geeinigt. Gostomzyk nennt das, gerade auch angesichts des außergerichtlichen Vergleichs, "eine stattliche, in Deutschland nicht alltägliche Summe".

Die Artikelserie habe eine maximale Belastung für die betroffene Polizistin dargestellt: "Je größer die Auswirkung der Berichterstattung für einzelne Personen ist, desto sorgfältiger sollten Medien aus eigenem Interesse recherchieren", sagt er t-online. In der Summe der vereinbarten Zahlung sei sicher auch ein Teil enthalten, der zur Abschreckung dienen solle: "Die Höhe der Geldzahlung soll der Betroffenen Genugtuung verschaffen, aber auch dazu führen, präventiv von vergleichbaren Verletzungen abzuhalten."

"Bild"-Chefin: "Wir haben versagt"

Der "Bild"-Zeitung selbst scheint die Angelegenheit jedenfalls äußerst peinlich zu sein. Im Onlinenetzwerk LinkedIn schrieb "Bild"-Chefin Marion Horn: "Es tut weh, das so klar hinzuschreiben." Aber: "Im Fall 'Judy S.' haben wir versagt. Punkt." Darum bitte die Zeitung die Beamtin nun öffentlich um Entschuldigung. "Unser Ziel ist klar: Wirklich alle unsere Leserinnen und Leser sollen diese Richtigstellung lesen. Denn unsere falsche Berichterstattung tut uns aufrichtig leid."

Zuvor hatte "Bild" "handwerkliche Fehler" eingeräumt und angekündigt, redaktionelle Prozesse zu prüfen.

Nur: Wie konnten diese Fehler überhaupt passieren?

Wurde Judy S. Opfer einer polizeiinternen Intrige?

Dazu muss man wissen: Die Autorin der Artikelserie ist eine erfahrene Polizeireporterin, die seit vielen Jahren unzählige Kontakte in die verschiedenen Behördenteile hinein gesammelt hat. Auch privat ist sie mit der Polizei verbunden. Ihr Ehemann ist Teil des Berliner Landeshauptvorstandes der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Nach der Gewerkschaft der Polizei (GdP) ist das die kleinere der beiden großen deutschen Berufsverbände für Polizisten – und unter ihrem Chef Rainer Wendt bekannt geworden für scharfe, konservative bis hart rechte Positionen.

Zum Zeitpunkt der "Bild"-Berichterstattung Ende November 2024 standen bei der Berliner Polizei gerade Wahlen an. Es galt, die Posten der Gesamtfrauenvertreterin und ihrer Stellvertreterin zu vergeben. Judy S. kandidierte als Stellvertreterin.

Der "Tagesspiegel" berichtete: "Aus Polizeikreisen heißt es: DPolG-Vertreter hätten in den Wochen vor der Wahl immer wieder Stimmung gegen Judy S. gemacht."

Vor wenigen Wochen schwieg der DPolG-Chef noch, jetzt redet er

Das wirft die Frage auf: Ist es möglich, dass Teile der Polizei hinter der Kampagne gegen Judy S. steckten? Wurde die "Bild"-Autorin eventuell von ihnen benutzt und vor den Karren ihrer Intrige gespannt?

Bodo Pfalzgraf, Berliner Landesvorsitzender der DPolG, sagt, das sei nicht auszuschließen. Er glaube aber nicht an eine Beteiligung von Funktionären seiner Gewerkschaft.

Bemerkenswert ist, dass sich Pfalzgraf jetzt überhaupt äußert. Vor ein paar Wochen schwieg er noch eisern, als der "Tagesspiegel" von ihm wissen wollte: "Schließen Sie aus oder trifft es zu, dass Funktionäre der DPolG Berlin Informationen, dienstliche und nichtdienstliche, zum Fall Judy S. an 'Bild'-Redakteurin (…) weitergereicht haben und zu dem Fall mit ihr in Kontakt standen?"

Am Donnerstag erklärte er t-online zu dieser Frage nun: "Ich habe intern recherchiert und keinen tatsächlichen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass ein Funktionsträger der DPolG damit zu tun haben könnte."

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Tägliche Rüpeleien: "Na, mein kleiner Geheimnisverräter"

Es handle sich "um einen konstruierten Sachverhalt". Bei der Wahl zur Polizei-Frauenvertreterin seien die DPolG-Kandidatin und Judy S. gar nicht gegeneinander angetreten. S. habe Stellvertreterin werden wollen, die DPolG-Kandidatin Vorsitzende.

In der Sache Judy S. läuft ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Geheimnisverrats gegen Unbekannt. Der Ehemann der Autorin der "Bild"-Artikel stehe bei der Polizei aktuell unter großem Druck, sagt Pfalzgraf: "Er muss sich jetzt Rüpeleien von Kollegen anhören. Alle gucken ihn schief an." Teils werde er zu Dienstbeginn mit Begrüßungen wie "na, mein kleiner Geheimnisverräter" empfangen – und das alles, "ohne dass es den Hauch eines Beweises" gebe.

Der DPolG-Landeschef sagt aber auch, dass das, was Judy S. widerfahren ist, tatsächlich nach einer Intrige aussehe – und zwar einer üblen. "Was da mit der armen Frau passiert ist, ist unglaublich", hält Pfalzgraf fest. "Sie hat sich zu Recht gewehrt und Gott sei Dank zu Recht gewonnen."

Woher die "Bild"-Autorin die falschen Behauptungen über Judy S. hatte, kann oder will er allerdings auch nicht sagen. Die Journalistin habe "Hunderte Kontakte" zur Polizei.

Mittlerweile arbeitet die Autorin nicht mehr bei "Bild". Nach Informationen von t-online soll dies allerdings private Gründe haben.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Medienrechtler Tobias Gostomzyk von der TU Dortmund
  • Telefonat mit Bodo Pfalzgraf von der DPolG Berlin

Quellen anzeigenSymbolbild nach unten

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