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Thüringen-Wahl: AfD auf dem Vormarsch – Koalition mit dem BSW?


Wahlen im Osten
Autonome Republik Thüringistan

  • Uwe Vorkötter
MeinungEine Kolumne von Uwe Vorkötter

Aktualisiert am 20.08.2024Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Björn Höcke: Seine AfD steht bei 30 Prozent.Vergrößern des Bildes
Björn Höcke: Seine AfD steht in Thüringen bei 30 Prozent. (Quelle: Hannes P Albert)

Bei der Landtagswahl in Thüringen zeichnet sich ein Totalschaden der Ampelparteien ab. Weil auf dem Dorf der Netto dichtmacht. Und Deutschland Raketen in die Ukraine schickt.

Woran denken Sie zuerst, wenn es um Thüringen geht? Ich denke an Weimar, an Goethe und Schiller. An die Wartburg, Martin Luther. An August Bebel und die SPD, deren Wurzeln in Eisenach zu verorten sind. An Jena, das Hightech-Zentrum der optischen Industrie. An Sven Fischer, den Biathleten, der vier Mal Gold bei Olympia holte.

Ende nächster Woche wird in Thüringen gewählt. Dann könnte eine neue Zeitrechnung beginnen. Die Demoskopen sagen voraus, dass die AfD zum ersten Mal in einem Landtag stärkste politische Kraft wird. Sahra Wagenknecht kämpft gegen die CDU um den zweiten Platz. Björn Höcke will Ministerpräsident werden. Thüringen, das Land, in dem die Ampelkoalition untergeht. Die Rechten schwadronieren schon lange vom Systemwechsel – ist es jetzt so weit? Vorsicht, hinter Bad Hersfeld verlassen Sie (wieder) den demokratischen Sektor!

Meinen ersten Besuch in Thüringen werde ich nie vergessen. Ich war politischer Korrespondent, damals noch in der alten Bundesrepublik mit Sitz in Bonn. 1990, Deutschland versank in der Euphorie der Einheit, im Dezember stand die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl an. Alle westdeutschen Spitzenpolitiker zogen in die Schlacht um die Mehrheit in den "neuen" Ländern, wie man damals sagte. Ich hatte Gelegenheit, Helmut Kohl in Thüringen zu begleiten.

Wir schwebten mit einem Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes in Oberhof ein, dem Wintersportzentrum der DDR, direkt neben dem Hotel Panorama. Kohl hatte zwei Kundgebungen auf dem Programm, in Suhl und in Eisenach. Vorher Empfang mit Mittagessen in dem imposanten Hotelbau, dessen Form zwei Sprungschanzen nachempfunden ist. Die Köche des damaligen Interhotels servierten eine Thüringer Schlachtplatte und sie hätten dem Kanzler der Einheit damit kein größeres Glück bescheren können. Kohl vertilgte Rotwurst, Leberwurst, Schweinebauch, Sauerkraut und Klöße, als hätte er zuvor tagelang hungern müssen, dazu trank er drei Gläser Weißwein-Schorle. Für jeden halbwegs normalen Menschen wäre der Rest des Tages gelaufen gewesen.

Nicht so für Kohl. Der zog frisch und gut gelaunt in seine Kundgebungen, machte den Thüringern ein Kompliment für ihre Bratwurst, versprach blühende Landschaften, wetterte gegen die "rotlackierten Faschisten" der PDS (heute Die Linke) und ließ sich feiern. Am 2. Dezember holte die CDU mit 52,5 Prozent die absolute Mehrheit der Stimmen in Thüringen.

Was ist seitdem passiert? Ist Thüringen derart heruntergekommen und verwahrlost, dass man die Ultra-Rechten zum Aufräumen holen muss? Oder die neuen Linken? Höcke sagt, die Gesellschaft sei krank, infiziert vom Migrations-Virus. Thüringen sei ein "Failed State", ein gescheitertes Land. Ein Land, in dem die Wirtschaft abstürzt, in dem die Schulkinder kein Deutsch mehr lernen, Rechnen sowieso nicht. Wagenknecht sieht auch beim Lesen Defizite. Sie zieht gegen das "Regierungschaos" in Erfurt in den Wahlkampf. Thüringen, das Zentrum der deutschen Depression.

Uwe Vorkötter
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".

Ministerpräsident ist aktuell der Linke Bodo Ramelow, vor einem Jahr noch Wagenknechts Parteigenosse. Eigentlich genießt er hohes Ansehen. In den Pisa-Studien schneiden die Schüler aus Thüringen regelmäßig deutlich besser ab als die anderer Bundesländer. Das liegt auch daran, dass gerade einmal acht Prozent der Einwohner einen ausländischen Pass haben, was wiederum die Integration erleichtert. Ja, die Wirtschaft schwächelt, wie überall in Deutschland. Aber in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Arbeitslosigkeit halbiert. In Arnstadt bauen die Chinesen eine große Batteriefabrik. Die Hochschulen von Ilmenau bis Schmalkalden genießen einen guten Ruf. Eigentlich gibt es in Thüringen keinen Grund für eine Revolution.

Die Niederungen der Landespolitik spielen aber im Wahlkampf kaum eine Rolle. Meist geht es ums große Ganze. Höcke und Wagenknecht überbieten sich gegenseitig mit außen- und sicherheitspolitischen Forderungen: Keine Waffen mehr für die Ukraine! Keine US-Raketen in Deutschland! Höcke sagt, die Lage sei so gefährlich wie nie seit 1962 (Kubakrise, die Welt kurz vor dem Atomkrieg). Wagenknecht sagt, die Abstimmung im Osten sei eine Wahl zwischen Krieg und Frieden. AfD und BSW sind für den Frieden. Und die anderen?

Zehntausende an russischen Soldaten

Als ich damals mit Kohl im Wahlkampf unterwegs war, standen noch zehntausende Soldaten der Roten Armee in Thüringen. Kohl versprach den Abzug der sowjetischen Truppen, auch dafür wurde er gewählt. 1994 verließ der letzte Rotarmist das Gebiet der ehemaligen DDR. 30 Jahre später machen Höcke und Wagenknecht Politik mit der Kriegsangst. Nicht etwa mit der Angst vor Putin, der die Ukraine überfallen hat. Sondern mit der Angst vor der Nato. Vor Amerika. Vor dem Westen. Das ist Putins Erzählung.

Ich ahne, wie Helmut Kohl heute den Wahlkampf führen würde. Offensiv, Abteilung Attacke. Er würde über die historische Dimension dieser Wahl reden. Etwa so: Die Thüringer haben 1989 die Freiheit erkämpft – gegen die Sowjets und gegen die DDR-Oberen. Auch gegen die Kommunistin Sahra Wagenknecht, die heute wieder Propaganda für Moskau macht. Und während die Ostdeutschen auf den Straßen für die Einheit demonstrierten, ging ein blasser Jüngling namens Björn Höcke im behüteten Rheinland-Pfalz zur Schule. Warum hat er in Geschichte nicht aufgepasst? Kohl überließ die Polarisierung nicht dem politischen Gegner.

Und jetzt also Olaf Scholz

Tja, und jetzt Olaf Scholz. Nächsten Dienstag tritt er in Jena auf, die einzige Kundgebung des SPD-Kanzlers. Zu Beginn des Wahlkampfs hat er einen "Bürgerdialog" veranstaltet, mit 150 geladenen Gästen. Das war’s. Die SPD muss um den Wiedereinzug in den Landtag fürchten, das gab es noch nie. Und Scholz schaut zu. Kennen Sie Georg Maier? Das ist der Spitzenkandidat der SPD vor Ort, er ist aktuell Innenminister. Bewundernswert, wie er um die Reste des sozialdemokratischen Erbes in seinem Land ringt. Aber es ist ein Kampf auf verlorenem Posten. Auf verlorenem Posten gegen Höcke und Wagenknecht: Die SPD droht in Thüringen nicht nur eine Wahl zu verlieren. Sondern auch ihren Stolz.

Vielleicht kritisieren Sie mich, weil ich AfD und BSW ständig in einen Topf werfe. Aber schauen Sie hin, Wagenknechts BSW ist wie Höckes AfD, nur ohne dieses ganze Nazi-Gedöns. Björn Höcke will als Ministerpräsident die Bundesregierung wegen ihrer Flüchtlingspolitik verklagen. Aus dem Mitteldeutschen Rundfunk soll Thüringen aussteigen. Alle Klimaschutzmaßnahmen werden beendet. Das Wagenknecht-Bündnis will erst einmal die Corona-Politik aufarbeiten. Für Gesundheit, Wohnen und Energie soll der Staat zuständig sein. Wenn’s gegen alles Grüne und das Gendern geht, sind sich AfD und BSW sowieso einig.

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Ist das also die neue Koalition in Thüringen? Ministerpräsident Björn Höcke, AfD, Stellvertreterin Katja Wolf, BSW? (Sahra Wagenknecht ist nur auf den Plakaten zu sehen, sie tritt selbst gar nicht an.) Würde dann aus dem Bundesland Thüringen die Autonome Republik Thüringistan? Oder wird eine diplomatische Großoffensive aus Erfurt Frieden schaffen? Höcke kann sich vorstellen, mit den Taliban in Afghanistan ein Abkommen über die Abschiebung von Flüchtlingen auszuhandeln, speziell für Thüringen. Das hat er wirklich gesagt. Stellen Sie sich diese Bilder vor: Höcke in Kabul, Fundamentalisten unter sich. Wagenknecht im Kreml, ehemalige Waffenbrüder und -schwestern unter sich.

Weltmacht Thüringen?

Ich bitte um Nachsicht, aber es fällt mir schwer, das alles ernst zu nehmen. 2,1 Millionen Einwohner hat Thüringen, 1,7 Millionen Wahlberechtigte. Und die Linken und die Rechten treten im Wahlkampf auf, als sei Thüringen eine Weltmacht. Es gibt ganz sicher Probleme, die zwischen Eisenach und Gera, zwischen Nordhausen und Sonneberg ungelöst sind. Vor allem auf dem Land: Im Dorf hat der Netto dichtgemacht, der Arzt findet keinen Nachfolger, der Bus kommt nur alle zwei Stunden. Die Kinder sind nach Berlin gezogen. Die Schule wird geschlossen. Alles wird teurer. Und dann die Weltlage.

Ich kann und will den Thüringern nicht sagen, wen sie wählen sollen und wen nicht, das müssen sie selbst wissen. Aber ich darf mir ein Ergebnis wünschen: Vielleicht könnten sie das Amt des Ministerpräsidenten dann doch Mario Voigt anvertrauen, dem einzigen ernsthaften Kandidaten aus der politischen Mitte. Ein CDU-Mann, kein Geopolitiker, kein Popstar, kein Revoluzzer. Ein Pragmatiker, ganz vernünftig. Mir scheint in diesen aufgeregten Zeiten etwas unaufgeregte Sachkunde hilfreich zu sein.

Wenn es um Thüringen geht, würde ich auch künftig gern zuerst an das Welterbe der Weimarer Klassik denken, an herausragende Erfolge im Wintersport, an die Bratwurst, die den guten Namen des Landes in die Welt hinausträgt. Nicht an blaulackierte Faschisten, nicht an Putins Fanclub der Ehemaligen. "Drittes Reich" meets DDR? Das kann doch nicht die Zukunft sein.

Verwendete Quellen
  • Eigene Reportereindrücke aus Wendezeiten
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