Tagesanbruch Putin schlägt zu – Deutschland reagiert
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
das erste Septemberwochenende 2022 wird in die politischen Annalen eingehen. Wir werden uns künftig ebenso daran erinnern, wie wir uns an den 5. Oktober 2008 und an den 18. März 2020 erinnern: jenen Sonntag auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, als Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück die Einlagensicherung verkündeten ("die Spareinlagen sind sicher"). Und jenen Mittwoch zu Beginn der Corona-Pandemie, als Merkel den Lockdown verkündete ("es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.").
In den vergangenen drei Tagen haben sich die Ereignisse überschlagen. Unter einem Vorwand haben Putins Gazprom-Schergen am Freitag angekündigt, Deutschland nun gar kein Erdgas mehr zu liefern. Der Kreml kappt Deutschlands Lebensader Nord Stream 1. Putin schlägt zu und weiß natürlich, wie hart er uns am Herbstbeginn trifft.
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Damit ist der Druck auf die Bundesregierung enorm gestiegen. Zwar sind die deutschen Gasspeicher schon zu 84 Prozent gefüllt, doch in den kühleren Wochen werden sie sich leeren, und wenn nicht genug Gas aus Norwegen, Holland und Belgien nachkommt, wird es im Frühjahr eng. Schon jetzt spielen die Energiepreise verrückt: steigen, fallen, steigen wieder. Von Butter über Benzin bis zur Heizung verteuert sich das Leben, die Mittelschicht droht zu verarmen, bei Niedrigverdienern geht es buchstäblich ums tägliche Brot. "So schlimm wie jetzt war es noch nie", sagt Sabine Werth von der Berliner "Tafel", die Lebensmittel an Bedürftige verteilt, im Interview mit meiner Kollegin Lisa Becke. Im Kanzleramt fürchtet man um den sozialen Frieden, "Gelbwesten-Proteste" muss es ja nicht nur in Frankreich geben.
Im selben Tempo, in dem die Preise steigen, sinkt die Zufriedenheit mit der Ampelregierung. Die Fehler und Zankereien der vergangenen Wochen haben Spuren hinterlassen: Sieben von zehn Deutschen sind unzufrieden mit der Arbeit von SPD, Grünen und FDP, meldet die ARD im "Deutschlandtrend" – mehr als je zuvor.
Putin dreht den Gashahn zu, und der Rückhalt in der eigenen Bevölkerung schwindet: Unter dem doppelten Druck von außen und innen ist die Ampelregierung notgedrungen in die Offensive gegangen – und hat dieselbe Antwort gegeben wie alle Bundesregierungen der vergangenen Jahre, wenn sie mit akuten Krisen konfrontiert waren. Sie greift tief in die Staatskasse und versucht, die Krisenwunden mit einem riesigen Geldpflaster zuzukleben. Die Beschlüsse im Überblick:
Rentner bekommen zum 1. Dezember eine einmalige Energiepreispauschale von 300 Euro. Studenten und Azubis erhalten 200 Euro.
Der Strompreisdeckel kommt, zumindest für den Basisverbrauch. Sowohl Privathaushalte als auch kleine Firmen sollen davon profitieren. Allein das kostet einen zweistelligen Milliardenbetrag, den die Ampelleute durch eine verkappte Übergewinnsteuer hereinholen wollen. Zwar darf die nicht so heißen, damit die FDP ihr Gesicht wahren kann. Doch Energiefirmen, die von den hohen Preisen profitieren, müssen blechen.
Der Klimaschutz wird hinausgezögert: Der CO2-Preis für Heizen und Tanken steigt nicht wie geplant im nächsten Jahr, sondern erst 2024.
Wohngeldbezieher erhalten einen Heizkostenzuschuss; für einen Einpersonenhaushalt sind es 415 Euro.
Die Einkommensteuer wird angepasst. So will die Regierung verhindern, dass Millionen Bürger trotz Gehaltserhöhungen durch die Inflation Geld verlieren.
Das 9-Euro-Ticket bekommt einen Nachfolger, dessen Preis zwischen 49 und 69 Euro pro Monat liegt. Genaueres muss Verkehrsminister Wissing mit den Bundesländern aushandeln, Herr Kretschmann in Stuttgart läuft sich schon warm.
Im Januar will die Regierung Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzen und die Regelsätze um 50 Euro auf rund 500 Euro erhöhen.
Das Kindergeld steigt ebenfalls ab Januar um 18 Euro monatlich für das erste und zweite Kind.
Das ist der Plan. Anders als bei den ersten beiden Entlastungspaketen greifen die Koalitionäre diesmal vor allem jenen Menschen unter die Arme, die eh schon jeden Euro zweimal umdrehen müssen (mehr zu den Details lesen Sie hier). "Klotzen statt kleckern – das soll die Botschaft sein", berichten unsere Reporter aus dem Berliner Regierungsviertel.
65 Milliarden Euro soll das alles kosten, viel mehr als ursprünglich geplant. "Möglicherweise liegen wir je nach Entwicklung sogar noch darüber", sagt Finanzminister Lindner. Zusammengenommen summieren sich die drei Pakete auf fast 100 Milliarden Euro. Das Sondervermögen für die Bundeswehr in selber Höhe hinzugerechnet, kostet die Ukraine-Krise Deutschland somit nach sechs Monaten schon halb so viel wie das gesamte Corona-Desaster. Und das Drama ist noch lange nicht zu Ende, der Winter kommt ja erst noch. "Es geht darum, unser Land sicher durch diese Krise zu führen", sagt der Kanzler, "wir werden niemanden allein lassen." Ein großes Versprechen, das nur ein reiches Land geben kann.
Ist die Euro-Schwemme also klug? Sicher, so viel Geld kann helfen, wenn es gezielt eingesetzt wird, um die ärgste Not zu lindern und soziale Verwerfungen zu verhindern. Zugleich ist klar: Das XXL-Geldpflaster mag den Schmerz zwar ein paar Monate lang betäuben. Vollständig heilen wird es die Wunden, die der Krisensturm in der Gesellschaft schlägt, sicher nicht. Selbst wenn in der Ukraine irgendwann die Waffen schweigen sollten, selbst wenn Putin irgendwann weg vom Fenster ist: Die Herausforderungen schrumpfen nicht, sie wachsen. Rohstoffe werden knapper; auch Windkraft, Solarenergie und grüner Wasserstoff bleiben noch lange rar und teuer. Zugleich verschärfen sich die Folgen der Erderhitzung. Katastrophen wie derzeit in Pakistan, wo die Sintflut mehr als 30 Millionen Menschen zu Obdachlosen gemacht, die Äcker auf Jahre vernichtet und 20.000 Schulen zerstört hat, sind keine Ausnahmen mehr. Sie werden zur Regel, und ihre Erschütterungen haben immer häufiger globale Folgen. Die Weltgesundheitsorganisation warnt bereits vor neuen Seuchen aus Südasien.
Die Art und Weise, wie wir gegenwärtig leben, konsumieren, Politik machen, überfordert die Natur. Sie ist kurzfristig, dabei müssten wir endlich vorausschauend handeln. In diesem Modus bleibt ein Planet mit acht Milliarden Zweibeinern nur noch wenige Jahre halbwegs stabil. Deshalb ist es zwar richtig, die Schmerzen von Inflation und Energiemangel jetzt mit einem großen Geldpflaster zu lindern. Aber ab jetzt sollten einflussreiche Länder wie Deutschland den konsequenten Klimaschutz zur obersten Priorität machen. Sonst helfen irgendwann auch keine Geldpflaster mehr, um uns ein gutes Leben zu erhalten.
Tod und Spiele
Zum 50. Mal jährt sich heute der Albtraum bei den Olympischen Spielen 1972 in München: Terroristen des palästinensischen Kommandos "Schwarzer September" überfielen das israelische Team im Olympischen Dorf, nahmen Geiseln, wurden samt diesen von der Polizei in einem dilettantischen Rettungsversuch auf den Militärflughafen Fürstenfeldbruck gebracht und in eine stundenlange Schießerei verwickelt. Am Ende waren elf Israelis, fünf Terroristen und ein Polizist tot. Der Film "Tod und Spiele" in der ARD-Mediathek zeigt die Ereignisse als ebenso fesselnde wie bestürzende Dokumentation.
Lange war unklar, ob und wie eine Gedenkfeier stattfinden würde. Die Familien der Opfer konnten sich in zermürbenden Verhandlungen mit der Bundesregierung zunächst nicht auf eine Entschädigungssumme einigen und sagten ihre Teilnahme ab. Erst in der vergangenen Woche wurde mit der Erhöhung des Schmerzensgelds auf 28 Millionen Euro ein Eklat abgewendet und die gemeinsame Trauerfeier ermöglicht. So werden zur Gedenkveranstaltung auf dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck heute Nachmittag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Israels Staatspräsident Jitzchak Herzog und Hinterbliebene der Ermordeten erwartet; auch Innenministerin Nancy Faeser und Ministerpräsident Markus Söder haben sich angekündigt. Die ARD überträgt ab 15 Uhr live. Dem Vernehmen nach wird sich Steinmeier in seiner Rede zur deutschen Verantwortung für die Ereignisse bekennen und die Hinterbliebenen um Entschuldigung bitten – als erster Repräsentant der Bundesrepublik überhaupt.
Entscheidung in London
Das Auswahlverfahren zieht sich seit Wochen: 200.000 Parteimitglieder konnten abstimmen – heute Nachmittag wollen die britischen Tories bekannt geben, wer die Nachfolge von Regierungschef Boris Johnson antritt. Von den mehr als zehn Kandidaten hatten es Außenministerin Liz Truss und Ex-Finanzminister Rishi Sunak in die Stichwahl geschafft. Umfragen zufolge dürfte die Johnson-Getreue Truss in die Downing Street einziehen. Und macht dann wohl weiter mit dem politischen Zickzackkurs.
Trauer und Bestürzung in Kanada: Bei einer Serie von Messerattacken in der ländlichen Provinz Saskatchewan sind 10 Menschen getötet und mindestens 15 weitere verletzt worden. Die Angriffe ereigneten sich an mehreren Orten, die Polizei fahndet nach zwei Verdächtigen.
Was lesen und hören?
Wieso hat sich Deutschland in so große Abhängigkeit von Putin begeben? Können wir da wirklich herauskommen – oder bröckelt die westliche Front gegen Russland bereits? Wenige Menschen kennen die Tücken der deutschen Geschichte so gut wie Heinrich August Winkler. Im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke und mir erklärt Deutschlands führender Historiker, in welcher vertrackten Lage wir uns befinden.
Die Ukraine hat eine Großoffensive gegen die russischen Truppen begonnen – doch hat sie überhaupt Aussicht auf Erfolg? Der Bundeswehr-Experte Carlo Masala erklärt es in seiner Videokolumne auf t-online.
Die Kollegin Ulrike Herrmann schätze ich sehr. Sie kennt sich nicht nur in der Wirtschaft und der Ökologie gut aus, sie kann auch globale Trends auf den Punkt bringen. Was sie in diesem kurzen Vortrag berichtet, sollten Sie hören.
Sahra Wagenknecht hat eine ganz andere Sicht auf Putin und die Sanktionen gegen Russland. Unser Reporter Tim Kummert hat sie zum Gespräch gebeten.
Was amüsiert mich?
Manchen Leuten kann man es nie recht machen.
Ich wünsche Ihnen einen zufriedenen Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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