Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Führender Historiker "Für den Kremlchef geht es jetzt nur noch um ein Ziel"
Russland ist auf dem Vormarsch, die USA befinden sich im Niedergang. Es besteht aber Hoffnung, sagt Historiker Heinrich August Winkler. Denn wir haben einen Vorteil.
Russlands Vormarsch in der Ukraine stockt, Grund zur Hoffnung besteht dadurch allerdings nicht. Denn Wladimir Putin profitiert davon, dass der Westen alles andere als geschlossen gegen ihn steht. Diese Warnung spricht mit Heinrich August Winkler Deutschlands führender Historiker im t-online-Gespräch aus. Die westlichen Demokratien müssen aber im Widerstand gegen Putin einig sein, so Winkler. Sonst könnte die Ukraine nicht das letzte Opfer von Russlands Drang nach "Größe" sein.
Wird Deutschland selbst aber durch Rekordinflation und Gasmangel längst von einer Krise historischen Ausmaßes bedroht? Diese Frage beantwortet Winkler im Interview. Und auch, welchen unschätzbaren Vorteil der Westen gegenüber Putin hat, während der Kremlherrscher leichtsinnig sein Land einer Gefahr aussetzt.
t-online: Herr Professor Winkler, Wladimir Putin führt einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine, einen weltweiten Zusammenschluss aller Demokratien gegen Russland hat es aber nicht gegeben. Staaten in Asien, Afrika und Lateinamerika halten weiter zu Moskau. Ist die westliche Werteordnung am Ende?
Heinrich August Winkler: Der Westen hat schon lange aufgehört, die Welt zu dominieren. Aber sein großes normatives Projekt ist weiter aktuell: einen weltweiten Anspruch auf unveräußerliche Menschenrechte zu etablieren. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist dafür nun ein gewaltiger Rückschlag. Aber am Ende ist der Westen noch lange nicht.
Aber wie kann der Westen Begeisterung für Demokratie und Rechtsstaat wecken, wenn eine Diktatur wie Russland mit billigem Öl und Gas lockt – oder China Milliardensummen auf dem Globus verteilt, ohne Fragen nach Menschenrechten zu stellen?
Die westlichen Demokratien verfügen über die Fähigkeit zur Selbstkritik, in dieser Hinsicht sind wir Wladimir Putin bei Weitem überlegen. Die Geschichte des Westens ist eben auch die Geschichte brutaler Verstöße gegen die eigenen Werte. Denken Sie an Sklaverei und Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus. Das alles muss immer wieder benannt und aufgearbeitet werden. So gewinnt der Westen an Glaubwürdigkeit – und an Respekt. In manchen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ist den Politikern mittlerweile im Übrigen sehr bewusst, dass eine Kooperation mit Russland oder China keineswegs kostenlos ist.
Was meinen Sie damit?
Natürlich verlangen Moskau und Peking Gegenleistungen, etwa Zugang zu Rohstoffen oder Privilegien beim Handel. Die geraten für die betreffenden Länder oft nicht zum Vorteil. Man könnte inzwischen durchaus von einem Neokolonialismus à la Moskau und Peking sprechen.
Heinrich August Winkler, 1938 in Königsberg geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Winkler ist einer der bedeutendsten deutschen Historiker, seine Publikationen, wie etwa "Der lange Weg nach Westen" oder die "Geschichte des Westens", sind Standardwerke. Am 15. September erscheint im Verlag C.H. Beck Winklers neues Buch "Nationalstaat wider Willen. Interventionen zur deutschen und europäischen Politik".
Die deutsche Russland-Politik ist in den vergangenen Jahren aber alles andere als glaubwürdig gewesen. Trotz Putins Krim-Annexion 2014 kaufte Deutschland weiterhin massenhaft russisches Gas – und tut das auch heute noch, trotz des völkerrechtswidrigen Krieges gegen die Ukraine.
Es ist mir unbegreiflich, wie Deutschland nach der Krim-Annexion sehenden Auges weiter in dieser einseitigen Energieabhängigkeit von einer expansiven Macht wie Russland bleiben konnte. Da haben wirtschaftliche Interessen den Ausschlag gegeben. Alle früheren Bekenntnisse zu einem Primat der Politik haben sich dagegen als hohl erwiesen.
- Tagesanbruch: Putin schlägt zu – Deutschland reagiert
Können deutsche Politiker Putin jemals wieder vertrauen? Für einen stabilen Waffenstillstand in der Ukraine wäre das die Voraussetzung.
Vertrauen können wir Putin niemals mehr – auch wenn wir wieder mit ihm sprechen müssen. Putin hat spätestens 2014 mit der Besetzung und Annexion der Krim deutlich gemacht, dass er sich nicht mehr an die nach dem Ende des Kalten Krieges in der Charta von Paris festgelegte europäische Friedensordnung hält. Damals haben sich sämtliche Mitgliedsstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wechselseitig ihre nationale Souveränität und territoriale Integrität sowie das Recht auf freie Bündniswahl zugesichert. Von alldem will Putin nichts mehr wissen. Für den Kremlchef geht es jetzt nur noch um ein Ziel: Die angebliche "geopolitische Katastrophe", als die er den Untergang der Sowjetunion bezeichnet hat, so weit wie möglich rückgängig zu machen. Das macht die Situation für den Westen so gefährlich.
Welche Verantwortung trägt Deutschland dafür, dass die Ukraine-Krise so eskalieren konnte?
Man kann der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel sicherlich bescheinigen, dass sie ein wesentlich realistischeres Bild von Russland und dessen Führung hatte als ihr Amtsvorgänger Gerhard Schröder. Aber in Sachen Energiepolitik hat Merkel nahtlos an Schröders Kurs angeknüpft. Das Desaster um das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 ist eine Folge dessen. Merkels Vorgehen war ein strategischer Fehler. Nicht umsonst haben Polen wie auch die baltischen Staaten immer wieder schwere Bedenken geäußert. Von den existenziellen Sorgen der Ukraine ganz zu schweigen.
Warum sind deutsche Politiker aller Parteien taub für diese Sorgen gewesen?
Wir Deutschen haben uns von der überaus geschickten Rhetorik Putins in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft vielfach täuschen lassen. Alle späteren Anzeichen einer aggressiven und nationalistischen Neuausrichtung Russlands haben viele übersehen. Oder wollten sie nicht wahrhaben. Polen und die baltischen Staaten haben die Entwicklung allerdings sehr genau beobachtet, während Berlin ein eher unkritisches Verhältnis zu Russland pflegte.
Woher stammt die deutsche Fehleinschätzung des Kremlregimes?
Bei manchen deutschen Politikern und vor allem Ex-Politikern hatte ich selbst noch in den letzten Jahren das Gefühl, dass sie sich in Bezug auf das deutsch-russische Verhältnis in einer Art Großmachtrolle wähnten. Wenn sich Deutschland und Russland verstehen, dann sei im östlichen Mitteleuropa alles in Ordnung: So will es diese Denkweise. Sie ist überheblich und höchst gefährlich.
In Polen denkt man bei deutsch-russischer Verständigung schnell an die polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts. Damals beendeten Preußen, Österreich und Russland Polens Existenz als souveräner Staat für mehr als 100 Jahre. Im sogenannten Hitler-Stalin-Pakt 1939 teilten dann das Deutsche Reich und die Sowjetunion Polen erneut unter sich auf.
Offiziell wurde dieses Abkommen als Nichtangriffspakt bezeichnet, aber in Wahrheit war es ein doppelter Angriffspakt. Das erste Opfer dieser Art deutsch-russischer Komplizenschaft war Polen, dann folgten Litauen, Estland und Lettland. Diese historische Tatsache zu vergessen, kann sich das heutige Deutschland gar nicht leisten, wenn es seine Vergangenheit ernst nehmen will. Dazu gehört auch ein Bewusstsein dafür, dass die Bundesrepublik aufgrund des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 und der folgenden Verbrechen nicht nur eine Verpflichtung gegenüber Russland hat. Sondern ebenso gegenüber den damaligen sowjetischen Teilrepubliken Ukraine und Belarus.
Die Bundesrepublik betrachtet sich als "Friedensmacht", dafür wurde sie anlässlich des 75. Jubiläums der Vereinten Nationen von UN-Generalsekretär António Guterres ausdrücklich gelobt. Haben wir die Lektion des Kalten Krieges verlernt, dass der Frieden auch seinen Preis hat?
Das verdrängen manche sehr. Von Linken wird derzeit gern Willy Brandts Entspannungspolitik mit dem Ostblock angeführt. Zu der gehörte aber immer eine glaubwürdige militärische Abschreckung, auch nuklearer Art. Die Ausrüstung der Bundeswehr ist in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt worden.
Brandts Entspannungspolitik war nur deshalb möglich, weil die Sowjetunion sich von einer expansiven Macht zur Status-quo-Macht gewandelt hatte: Der Kreml akzeptierte das "Gleichgewicht des Schreckens". Putin hat nun anderes im Sinn: Er will das russische Imperium gewaltsam erneuern.
Die Sowjetunion wollte spätestens Ende der Sechzigerjahre in erster Linie ihren Einflussbereich sichern, den sie sich am Ende des Zweiten Weltkriegs verschafft hatte. So konnte es überhaupt erst zur Politik des "Wandels durch Annäherung" kommen. Das Problem besteht darin, dass diese Politik bis in die jüngste Zeit fortgesetzt wurde – ohne die politischen Veränderungen in dem Land unter Putin wahrhaben zu wollen. Diesen Fehler müssen nicht nur die Sozialdemokraten aufarbeiten, sondern auch die Unionsparteien. Auch in deren Reihen hat es viele Fürsprecher einer russlandfreundlichen Politik gegeben, die nicht sehen wollten, in welche Richtung Putin Russland führt.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion glaubten viele im Westen, dass Russland eine liberale Demokratie nach westlichem Vorbild werden könne. Warum war das illusorisch?
Russland hat sich historisch vollkommen anders entwickelt als die Staaten des Westens. Im Westen bildete sich seit der ansatzweisen Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt im hohen Mittelalter eine Tradition der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates heraus, die es so in dem von der byzantinischen Orthodoxie geprägten Russland nie gegeben hat. Dort war alles der Oberhoheit des Zaren unterworfen, eine rechtsstaatliche und freiheitliche Tradition konnte sich hier nicht herausbilden. Was es bis zur russischen Oktoberrevolution 1917 trotzdem an bürgerlichen und rechtsstaatlichen Errungenschaften gab, wurde unter den Bolschewiki zerstört. 1991 gab es also kein rechtsstaatliches Erbe, an das man im postsowjetischen Russland hätte anknüpfen können. Von einem demokratischen Erbe ganz zu schweigen. Das haben wir im Westen oft übersehen.
Bereits unter dem oft belächelten früheren Präsidenten Boris Jelzin wandten sich Teile der russischen Intellektuellen einem antiwestlichen Nationalismus zu.
Richtig. Unter Putin kam das alles dann zur vollen Blüte.
Bis heute haben offenkundig Teile der russischen Elite den Verlust des einstigen Imperiums nicht verwunden. Könnte eine militärische Niederlage in der Ukraine die politische Kultur Russlands zum Besseren verändern?
Putin darf aus dem Krieg nicht als Sieger hervorgehen, weil das die ohnehin marginalisierte Opposition und die Zivilgesellschaft weiter schwächen und Putin zu weiteren Aggressionen ermutigen würde. Bei allen weitergehenden Hoffnungen sollten wir aber bescheiden sein. Wenn in der russischen Machtelite Kräfte an Boden gewinnen, die einsehen, dass Putins Politik den russischen Interessen auf katastrophale Weise schadet, wäre schon viel gewonnen. Kann Putin seinen Kurs fortsetzen, droht Russland zu einem Satelliten Chinas zu werden.
In Deutschland gibt es nun aber immer mehr Forderungen, den harten Kurs gegen Russland aufzuweichen. Mehrere linke SPD-Politiker haben sich gegen die Lieferung weiterer schwerer Waffen an die Ukraine ausgesprochen und fordern einen Waffenstillstand. Was halten Sie davon?
Es ist anmaßend, den angegriffenen Ukrainern vorschreiben zu wollen, auf welche Art und wann sie diesen Krieg zu beenden haben. Sie haben jedes Recht, ihr Land zu verteidigen. Die Bundesregierung unter Olaf Scholz hat klipp und klar erklärt, dass niemand der Ukraine einen Frieden aufzwingen darf und Deutschland sie mit Waffen unterstützen wird, solange es nötig ist. Das ist gut und richtig.
Die SPD-Linken sehen auch die Folgen der von Kanzler Scholz eingeleiteten "Zeitenwende" kritisch. Diese soll die Bundeswehr wieder in die Lage versetzen, das Bundesgebiet und die Nato-Partner verteidigen zu können.
Die Zeitenwende vollzieht sich seit der Krim-Annexion von 2014 und vor allem seit dem Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022. Hinter die Kanzlerrede vom 27. Februar dieses Jahres kann Deutschland nicht mehr zurück, ohne weltweit seine Glaubwürdigkeit zu verlieren.
In seiner Grundsatzrede in Prag hat Scholz eine schnelle EU-Eingreiftruppe mit einem Hauptquartier und eine eigene europäische Luftverteidigung gefordert. Ist das angesichts der zersplitterten Militärstrukturen in der EU überhaupt realistisch?
Die Prager Rede entwirft ein Zukunftsprogramm mit einer Reihe von konkreten Forderungen, auf die sich die EU der 27 einstweilen aber kaum verständigen wird. Manches kommt der Quadratur des Kreises gleich, so etwa die Forderung nach einem repräsentativeren, also irgendwie "gleicheren" Wahlrecht für das Europäische Parlament. Solange die EU sich als Ganze nicht auf grundlegende Reformen einigen kann, müssen die Staaten, die in den wesentlichen Zielen übereinstimmen, so eng wie nur möglich zusammenarbeiten. Das gilt vor allem für die Außen- und Sicherheitspolitik, die ja in Scholz' Rede zu Recht eine herausgehobene Rolle spielt.
Eigentlich erfordern die vielen Krisen der Welt, dass die westlichen Länder maximal geschlossen handeln. Geht das überhaupt, wenn sich die Führungsmacht USA in einem derart heiklen Zustand befindet wie jetzt?
Falls sich Putin durchsetzt und er den Eindruck gewinnt, dass der Westen ihn gewähren lässt, wird die Ukraine in seinem Expansionsstreben sicher nicht die Endstation sein. Der Westen müsste dringend geschlossen handeln, er tut es aber nicht. In Europa stellen Polen und Ungarn mit der Aushebelung des Rechtsstaates westliche Werte der EU infrage, die Vereinigten Staaten sind in der Krise. Wir müssen sogar mit dem schlimmstmöglichen Fall rechnen: einem Wahlsieg Trumps oder eines Trumpisten im November 2024.
Droht in diesem Fall, wie es von manchen Experten diskutiert wird, eine Spaltung der USA oder gar ein Bürgerkrieg?
In den USA wird über diese Gefahr ernsthaft diskutiert. Eine zweite Präsidentschaft Trumps wäre jedenfalls eine weltgeschichtliche Katastrophe. Wir können nur hoffen, dass sich die verfassungspatriotischen Kräfte in den USA über die Parteigrenzen hinweg durchsetzen. Im Übrigen muss die EU ihre Beziehungen zu ihrem anderen nordatlantischen Partner, Kanada, weiter ausbauen.
Schauen wir zum Schluss auf Deutschland: Die hohe Inflation macht vielen Menschen große Sorgen, die Energiepreise schnellen nach oben, der Verfassungsschutz warnt vor einem Erstarken von Extremisten. Als wie stabil wird sich unsere Demokratie in dieser Krise erweisen?
Wenn es zu einer Entwicklung kommen sollte, die nicht mehr durch stetiges Wirtschaftswachstum und annähernde Vollbeschäftigung gekennzeichnet ist, dann stehen wir vor der größten Bewährungsprobe unserer Demokratie seit Bestehen der Bundesrepublik. Ich setze aber darauf, dass die demokratischen Parteien stark genug sind, eine solche Herausforderung zu bestehen. Es gibt mittlerweile auch, anders als in der Weimarer Republik vor 1933, genügend demokratische Kräfte, die sich jeglicher autoritären oder gar totalitären Bedrohung erfolgreich erwehren können.
Herr Professor Winkler, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Heinrich August Winkler via Telefon