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Olaf Scholz im Ukraine-Krieg: Ist das die richtige Haltung?


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Tagesanbruch
Die Möglichkeit des Scheiterns

  • Peter Schink
MeinungVon Peter Schink

Aktualisiert am 27.05.2022Lesedauer: 7 Min.
Was hat er noch auf Tasche?: Bundeskanzler Olaf Scholz beim Verlassen des Plenarsaals im Deutschen Bundestag.Vergrößern des Bildes
Was hat er noch auf Tasche?: Bundeskanzler Olaf Scholz beim Verlassen des Plenarsaals im Deutschen Bundestag. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

haben Sie in den vergangenen Tagen schon mal Haltung gezeigt? Nicht? Na ja, im Alltag muss man das ja nicht oft. Oder doch? Ach.

Tatsächlich leben wir hierzulande ja meist recht unbehelligt. Selten werden wir nach unserer Haltung gefragt. Da kann das Thema schon mal in Vergessenheit geraten, oder? Mitnichten. Wir entscheiden jeden Tag vielfach, ob wir mit Haltung oder Durchwurschtelei unserem Leben begegnen.

Haltung im Alltag heißt, aufrecht durchs Leben zu gehen und zu den eigenen Werten und Überzeugungen zu stehen. Auch, wenn das mal anstrengend ist.

Haltung ist im Privaten wichtig, und erst recht in der Politik.

Als US-Präsident Joe Biden am Dienstag auf das Schulmassaker in Texas reagierte, sah man einen Mann, der sichtlich berührt zu seinen Bürgern sprach. "Ein Kind zu verlieren, das ist so, als würde dir ein Stück deiner Seele einfach weggerissen", sagte er. Biden spricht aus eigener Erfahrung, er selbst hat zwei Kinder verloren. "Nie wieder werden sie in die Betten ihrer Eltern hüpfen können, um mit ihnen zu kuscheln", sagt er. Seine Sätze sind emotional, hilflos, fast ohnmächtig.

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Der US-Präsident sprach in seiner Reaktion vielen Menschen aus der Seele: "Wo in Gottes Namen ist unser Rückgrat, um uns gegen die Lobby zu erheben? Für alle Eltern, für alle Bürger dieses Landes müssen wir es jedem gewählten Vertreter in diesem Land klar machen. Es ist an der Zeit, zu handeln.“

Aus der Rede sprach zugleich Bidens größtes Problem: Die allmächtige Waffenlobby, die mit starkem Einfluss auf die Politik nach wie vor schärfere Waffengesetze verhindert. Es gehört in den USA eine Menge Haltung dazu, sich dem zu widersetzen. Es ist nicht ausgemacht, ob Biden genug davon zur Verfügung hat, um wirklich etwas bewegen zu können.

Alleine sicherlich nicht.

Doch das ist das Besondere an Haltung: Mit ihr lässt sich etwas verändern, lassen sich auch andere überzeugen.

Führung funktioniert deshalb nur mit viel Haltung. In Deutschland gibt es in der jüngeren Geschichte eine Vielzahl von Bundeskanzlern, die Entscheidungen aus ihrer Haltung heraus trafen und so Dinge veränderten: Konrad Adenauer legte im Jahr 1957 mit der Unterschrift unter die Römischen Verträge den Grundstein der heutigen Europäischen Union, Willy Brandt ermöglichte mit dem Kniefall von Warschau die Annäherung an den Osten, Gerhard Schröder verantwortete als erster Bundeskanzler im Jahr 1999 mit dem Jugoslawien-Einsatz einen bewaffneten Einsatz der Bundeswehr.

All diese Entscheidungen waren zu ihrer Zeit nur mit Haltung möglich, zugleich beinhalteten sie ein hohes Risiko des Scheiterns. Und auch dafür gibt es Beispiele: Helmut Schmidts Kanzlerschaft scheiterte am Nato-Doppelbeschluss, Schröders Regierung scheiterte an den Hartz-Gesetzen.

Und wie ist das bei Olaf Scholz? Der Kanzler ist zuletzt ja reichlich kritisiert worden für seine Haltung zum Ukraine-Krieg: Statt nach Kiew fahre er nach Afrika, zu zögerlich sei er bei Waffenlieferungen. So kann man die Kritik kurz zusammenfassen. Er selbst würde genau das wohl als Haltung ansehen. Sein Biograf Lars Haider sagte vor Kurzem, Scholz glaube, die Menschen wollten einen Kanzler, der in jeder Situation Ruhe und Souveränität ausstrahlt.

Auch das kann Haltung sein. Aber ist es auch die richtige Haltung im Ukraine-Konflikt? Es zeugt zumindest von einem Mangel an Empathie und Timing, wenn Scholz sich um eine Annäherung in Afrika bemüht. Während er zeitgleich in Kiew keine Präsenz zeigt.

Ist die richtige Haltung also rein subjektiv? Bestimmt nicht. Wer mit seiner Sicht der Dinge komplett falsch liegt, der muss sich zurecht auch eine falsche Haltung vorwerfen lassen. Das galt für Helmut Kohl in der CDU-Spendenaffäre ("Ich habe nicht die Absicht, deren Namen zu nennen, weil ich mein Wort gegeben habe") und gilt heute für Gerhard Schröder ("Wenn Russland die Gaslieferungen einstellt, werde ich zurücktreten").

Das ist das Spannende an Haltung. Sie spiegelt oftmals nicht die Mehrheitsmeinung, zeigt sich erst im Nachhinein als weitsichtig. Menschen mit Haltung gehen vorneweg, das impliziert die Möglichkeit des Scheiterns. Erst hinterher sind wir dann alle klüger.

Wie können wir dann unterscheiden, zwischen Verbohrtheit und nachdrücklicher Haltung?

  1. Kluge Haltung gibt äußeren Einflüssen nicht beliebig nach, aber ignoriert sie auch nicht. Es war Angela Merkel, die im Jahr 2011 sagte: "Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert." Menschen mit kluger Haltung sind also nicht unverbesserlich. Im Gegenteil, sie haben ein Gespür dafür, gegenteilige Argumente in die eigenen Überlegungen einzubeziehen. Sie lebt vom Austausch mit anderen Meinungen und wägt diese gegen den eigenen Standpunkt ab.
  2. Sie kennt kein Schwarz-Weiß-Denken. Wirtschaftsminister Robert Habeck zeigt das gerade exemplarisch, wenn er immer wieder erklärt, dass bei der Versorgung mit Öl und Gas eben auch Kooperation mit Staaten nötig sei, in denen die Unterdrückung von Menschenrechten an der Tagesordnung sei. Haltung ist, den Zwiespalt zu thematisieren und unsere Werte wo immer möglich ins Land zu tragen.
  3. Sie erklärt sich. Wer seinen eigenen Standpunkt in einfachen Worten erläutern kann, andere für sich gewinnen kann, dessen Haltung hat Durchsetzungskraft.
  4. Sie bleibt kompromissfähig. Es gilt, den eigenen Standpunkt weise und nachdrücklich zu vertreten und am Ende doch den Kompromiss zu suchen, um voranzukommen.

All das lässt sich auf beliebige Bereiche der Politik übertragen. Und genauso auf unser Privatleben.

Ganz anders verhält es sich in weniger demokratisch geführten Regionen dieser Welt. In Russland, China, Syrien, Afghanistan, Myanmar und anderswo. Dort bezahlen Menschen jeden Tag mit ihrer Freiheit und ihrem Leben für ihre Haltung. Haltung kann dort schnell tödlich sein.

Wir sollten es deshalb wertschätzen, dass wir hierzulande unsere Haltung frei abwägen und vertreten können. Klar, Haltung zeigen kann auch anstrengend sein. Doch sie macht uns Menschen in unserem Wesen aus.

Es ist egal, ob Sie den nächsten Urlaub nicht mit dem Flugzeug starten wollen, ob Sie sich für Schlechtergestellte einsetzen oder für die Rolle der Frauen in der Kirche kämpfen. Wo wir Haltung zeigen wollen, ist jedem von uns selbst überlassen. Aber ohne Haltung geht es nicht. Wie sähe eine Welt aus, voll von Haltungslosen?


Ein frommer Wunsch

Sehr grundsätzlich wurde Scholz gestern zum Abschluss des Weltwirtschaftsforums in Davos. "Wie schaffen wir eine Ordnung, in der ganz unterschiedliche Machtzentren im Interesse aller verlässlich zusammenwirken?" Eine multipolare Weltordnung bringt der Kanzler da ins Gespräch. Was das heißt? Dass auch aufstrebende Länder wie Südafrika oder Indien künftig eine größere Rolle in der Weltordnung spielen könnten.

Das ist das Eingeständnis, dass die Welt komplexer geworden ist. Scholz drückte das so aus: Die internationale Zusammenarbeit müsse mehr Rücksicht nehmen auf globale Ressourcen, solidarischer und klüger gestaltet sein. Dazu bräuchten die großen Industrienationen wie Deutschland neue Partner.

Scholz will es nicht beim Reden über eine neue Weltordnung belassen. Zum Gipfel der G7 Ende nächsten Monats auf Schloss Elmau in Bayern hat er auch Südafrika, den Senegal, Indien, Indonesien und Argentinien eingeladen.

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Dort könnten die Gipfel-Teilnehmer die Frage diskutieren, wer die Regeln der Zusammenarbeit der "multipolaren Weltordnung" künftig definiert. Scholz redet in Davos von Solidarität und Mitsprache. Doch die Weltordnung war bislang geprägt von militärischer Stärke, wirtschaftlicher Dominanz, geopolitischen Erwägungen oder Rohstoffvorkommen. Klimafragen oder Menschenwürde kamen da gerne mal zu kurz. Da klingt der Ruf von Scholz nach einer "multipolaren Weltordnung" nach dem frommen Wunsch, dies möge sich künftig ändern.


Die Termine

Scholz wird am heutigen Freitag auf dem Katholikentag in Stuttgart sprechen. Mehr als der Titel der Veranstaltung ("Leben teilen – Deutschlands Politik in unsicheren Zeiten") ist noch nicht bekannt. Die aktuellen Themen dieser Welt werden wohl seine Rede bestimmen. Aktuell geht es auch bei vielen anderen Veranstaltungen auf dem Katholikentag zu. Vor allem Klima, Krieg und Corona sind bestimmende Themen der Agenda.

Wenn es nach Wirtschaftsminister Robert Habeck geht, sollen die G7-Staaten beim Klimaschutz künftig "eine gewisse Vorreiterrolle" einnehmen. Wie das aussehen kann, wird sicherlich Thema zum Abschluss der Konferenz der G7-Energie- und Umweltminister in Berlin sein. Klima-Lippenbekenntnisse kann sich jedenfalls niemand mehr leisten.

Weniger beachtet, aber doch wichtig, ist dieser Termin: Das Statistische Bundesamt will einen Zwischenstand des Zensus 2022 veröffentlichen. Weil viele politische Entscheidungen auf statistischen Erkenntnissen fußen, sind hier Details durchaus interessant.


Was lesen

Die Stadt Butscha ist im April zur Chiffre der russischen Kriegsverbrechen geworden. Die Bilder der toten Zivilisten auf offener Straße gingen um die Welt. In Davos konnte mein Kollege Florian Schmidt den Bürgermeister Anatoly Ferudok treffen. Er schildert die dunkelsten Tage seiner Stadt unter russischer Besatzung.


Seitdem Russland die Ukraine überfallen hat, befürchten insbesondere unsere osteuropäischen Nachbarn einen Angriff. Anlass zur Sorge gibt dabei auch die Suwalki-Lücke, die Achillesferse der Nato. Hier könnten Belarus und Russland die baltischen Staaten isolieren. Meine Kollegen Rahel Zahlmann und Axel Krüger haben darüber mit dem renommierten Militärexperten William Alberque gesprochen.


Für die Bierbranche waren es zwei harte Jahre. Wegen der Pandemie brach der Absatz in Kneipen ein. Jetzt setzt der Ukraine-Krieg die Brauer unter Druck: Die Kosten für Energie, Malz und Logistik sind explodiert. Der Vertriebschef der Erdinger Weißbräu, Josef Westermeier, fordert deshalb im Interview mit meinen Kollegen Frederike Holewik und Mauritius Kloft einen "Paradigmenwechsel".


Was mich amüsiert

Im Tagesanbruch schreiben wir täglich viel zu lange Zeilen, um die Welt zu erläutern. Und Klimaexperte Mojib Latif schafft es bei Talkmaster Markus Lanz in wenigen Sekunden zu erklären, wie Berufspendler im Jahr gleichzeitig das Klima schützen und 400 Euro sparen können. Chapeau! Muss man sehen.

Ich hoffe, Sie haben es nach dem Vatertag gestern rechtzeitig nach Hause geschafft.

Morgen reden meine Kollegin Miriam Hollstein und ich im Tagesanbruch am Wochenende über ein Jubiläum, das von viel Haltung zeugt. Vor 25 Jahren unterzeichneten die Nato-Staaten und Russland die Nato-Grundakte. Von Frieden und Zusammenarbeit handelte sie. In diesen Tagen ist das Ereignis mehr als genug Grund dafür zurückzuschauen. Und zu lernen für die nächsten 25 Jahre.

Heute können Sie schon mal den jungen Jan Hofer am 27. Mai 1997 sehen.

In diesem Sinne wünsche Ihnen noch einen friedlichen Freitag. Und hören Sie gerne morgen rein!

Ihr

Peter Schink
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de

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