Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Der Krieg beginnt Deutschland zu spalten
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
der Krieg in der Ukraine beherrscht die Schlagzeilen, trotzdem lohnt sich ein Blick zurück: Das Jahr hatte scheinbar normal begonnen, doch die Nervosität wuchs mit jedem Tag. Plötzlich enthüllte sich die wahre Monstrosität der Ereignisse – und die ganze Welt stand Kopf. Angesichts der Katastrophe rückten die Menschen zusammen, auch hierzulande. Solidarität hieß das Gebot der Stunde. Die Bereitschaft, auch persönlich Opfer zu bringen, war allgegenwärtig. Wir durchlebten eine beängstigende, aber auch berührende Zeit. In der Politik galten die alten Spielregeln nicht mehr, Regierung und Opposition hörten auf, sich zu beharken, und zogen stattdessen im nationalen Interesse am gleichen Strang. Und in den Redaktionen spürten wir Journalisten das schier unerschöpfliche Bedürfnis nach Information und Orientierung. Ja, es waren außergewöhnliche Zeiten.
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Dann kam der Mai, und mit der Einheit war es vorbei. Die Diskutanten in den Talkshows gerieten sich immer heftiger in die Haare, die Meinungen wurden radikaler, der Ton schärfer. Auch auf der politischen Bühne hatten sich nun nicht mehr alle lieb, sondern begannen sich zu zoffen: Die einen profilierten sich auf Kosten der anderen. Der Herr Merz düpierte das Kanzleramt und fuhr in die Ukrai ... nein, halt, der Herr Laschet war es, und der fuhr nirgendwohin, sondern wollte alles öffnen. Sie erinnern sich: So war das bei Corona, damals im Mai 2020. Oder reden wir irgendwie doch über den Krieg von heute?
Es ist wieder Mai, nur zwei Jahre später, und es verändert sich etwas. Wir Journalisten merken es in den Redaktionen: Das Interesse vieler Leserinnen und Leser nimmt ab. Der Krieg geht weiter, aber irgendwann kann man es nicht mehr hören. Das ist der Gang der Welt. Jede Aufregung findet ihr Ende, jeder Ausnahmezustand hat eines Tages sein Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten. Es ist ein grundsätzlich segensreicher Mechanismus der menschlichen Natur, der uns davor bewahrt, in permanenter Übererregung zu verharren und uns dabei zu verschleißen.
Aber noch etwas anderes ist am Werk: So wie damals bei Corona verschwinden nun auch beim Krieg in der Ukraine allmählich die vielen Fragezeichen aus den Köpfen. Sie weichen der Überzeugung, fürs Erste genug zu wissen. Verunsicherung und Neugier haben sich verwandelt. Sie sind zu Standpunkten geworden. Manche verhärten sich.
Wer aufmerksam hinschaut, kann bereits die Umrisse dessen erkennen, was uns bald erwartet, und es ähnelt der Covid-Vergangenheit. Erinnern Sie sich, wie das damals war? Randgruppen formierten sich und traktierten die Gesellschaft mit ihrem Geschrei, bis man meinen konnte, wir lebten in einer Großgemeinschaft der Corona-Leugner. Die Bewegung wurde zu einem Sammelbecken. Rechtsradikale protestierten Seite an Seite mit Menschen, in deren Welt man Demeter-Müsli im Bioladen shoppt. Verschwörungsapostel und andere Spinner mischten sich mit Normalos, die dem Staat, dem Fernsehen, Zeitungen und Nachrichtenportalen wie t-online diffus misstrauen und sich auf Facebook, Telegram und Twitter aus Gerüchten und Mutmaßungen ihre eigene Wahrheit zusammenbasteln. Auch Menschen, die von den Ereignissen lediglich stark verunsichert waren, glitten in diese Abgründe.
Es ist leider keine gewagte Prognose: Das kann sich nun wiederholen. Putin-Versteher, friedensbewegte Politik-Esoteriker, profilneurotische Professoren und Fans der AfD brauchen nach einer Schnittmenge nicht lange zu suchen. Ist es nicht eigentlich die Schuld der Nato, was da gerade in der Ukraine passiert? Ist Putin nicht eigentlich das Opfer? Sitzen die wahren Kriegstreiber denn nicht in der Bundesregierung, liefern Waffen, befeuern den Konflikt?
Eigentlich sind die Antworten einfach: dreimal nein plus ein Kopfschütteln. Putin hat seine Soldaten in die Ukraine gehetzt, den Krieg begonnen und schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten. Aber Fragen, die das Gegenteil suggerieren wollen, kommen Ihnen inzwischen bestimmt genauso bekannt vor wie mir. Sie werden nun schriller werden. Die Jetzt-muss-aber-Schluss-sein-mit-dem-Krieg-Bewegung hat sich bereits formiert, und sie weiß längst besser als die Betroffenen in der Ukraine, dass die russische Besatzung den Opfern besser täte als der Widerstand. Das sind die geistigen Nachfolger der Corona-Leugner. Sie laufen sich jetzt warm.
Apropos warm: Der Sommer 2020 schenkte uns eine Atempause von der Pandemie und täuschte uns mit seiner Leichtigkeit. Doch dann kam der harte Herbst. In diesem Sommer 2022 lässt zwar der Krieg nicht nach, nur weil die Badesaison beginnt, aber dank des warmen Wetters können wir uns bezüglich unserer Abhängigkeit von russischen Rohstoffen trotzdem ein bisschen was in die Tasche lügen. Später im Jahr allerdings werden die Heizungen angemacht, und die Energiekrise beginnt zu beißen.
Dann wird es teurer, und zwar für viele. Falls das Wirtschaftswachstum wie erwartet einbricht, Supermarkteinkäufe richtig ins Geld gehen und viele Arbeitsplätze verschwinden, wird die Frage nach der Solidarität mit der Ukraine noch einmal neu und viel lauter gestellt werden. Gibt es dann Demos und Proteste? Werden Barrikaden gebaut und Autos abgefackelt, so wie bei den Gelbwestenprotesten in Frankreich? Hoffentlich versucht nicht wieder eine Meute, den Bundestag zu stürmen.
Die neue Konfliktlinie in unserer Gesellschaft zeichnet sich bereits ab, und es ist dieselbe wie die alte: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die zur Solidarität mit ihren gefährdeten Mitmenschen bereit sind – vor zwei Jahren lebten die in Deutschland, jetzt in der Ukraine – und sich das manchmal auch einfach besser leisten können. Es ist ja so: Wer gut verdient und seinen Bürojob zu Corona-Zeiten ins Homeoffice verlegen konnte, dem fiel die Großherzigkeit leichter als Angestellten in der Gastronomie, für die eine Zwangspause mit offenem Ende begann. Auch heute geht die Solidarität wieder ans Portemonnaie; das beginnt schon an der Tankstelle.
Denn auf der anderen Seite der gesellschaftlichen Trennlinie stehen Menschen, die schneller dabei sind, wieder ihr altes Recht zu verlangen. Im Mai vor zwei Jahren wollten viele gleich wieder zur Normalität zurück, und Armin Laschet führte sie an. Rückblickend war das ein kolossaler Fehler – getragen von Wunschdenken, Realitätsverweigerung und Selbsttäuschung angesichts des nahenden Sommers. Man mag auch eine ordentliche Portion Egoismus darin erkennen. Der wird uns wieder begegnen. Die Haltung bleibt, das Verhalten kommt wieder.
Der Bundeskanzler hat deshalb eine riesige Aufgabe. Der Krieg kam unerwartet, der Schock war riesig, die Menschen in Deutschland suchten nach Orientierung in einer radikal veränderten Situation – doch nun ebbt das Interesse ab. Die Standpunkte verhärten sich. Das Zeitfenster, in dem Erklärungen auf besonders fruchtbaren Boden fielen, schließt sich jetzt schnell. Seinen Kurs kann der Regierungschef der Nation noch immer erklären, aber auf unvoreingenommene Zuhörer wird er nun seltener treffen. Olaf Scholz hat lange keine klaren Worte gefunden und selbst Politikprofis rätseln lassen, wohin denn nun die Reise gehen soll. Seine Fernsehansprache am Sonntag ließ aufhorchen, aber da kann mehr kommen. Muss mehr kommen.
In einer Krise ist nichts schlimmer als die gesellschaftliche Spaltung. Der Kreml wird sie mit seinen Trollen auf Facebook, Telegram und Twitter befördern. Der Kanzler muss diesem Gift entgegentreten – kontinuierlich, mit klaren Worten, unumwunden, ohne Phrasen. Man kann darin seine wichtigste Aufgabe sehen.
Was steht an?
Der wichtigste Termin hat heute nichts mit den Querelen auf der Erde zu tun, sondern mit dem Geschehen sehr viel weiter oben: Auf sieben zeitgleich abgehaltenen Pressekonferenzen präsentieren Forscher aus der ganzen Welt ihre jüngste Entdeckung im Weltall. Mit dem globalen Teleskopnetzwerk "Event Horizon" haben sie das Zentrum der Milchstraße beobachtet – und dort Bahnbrechendes beobachtet. Etwa das größte Schwarze Loch unserer Galaxie? In der Presseankündigung ist von einem "epochalen Ergebnis" die Rede.
Finnlands Präsident Sauli Niinistö will seine Position zum möglichen Nato-Beitritt des Landes bekannt geben. Sein Wort hat nicht nur Gewicht, er wird auch gemeinsam mit der Regierung entscheiden, ob Finnland den Antrag auf Mitgliedschaft stellt. Auch Ministerpräsidentin Sanna Marin wird sich heute wohl dazu äußern. Was der Beitritt bedeuten würde, analysiert mein Kollege David Schafbuch.
Der Bundestag stimmt über das Steuerentlastungspaket, einen Sofortzuschlag für Kinder aus ärmeren Familien und eine Reform des Energiesicherungsgesetzes ab. Letzteres klingt kompliziert, würde es der Regierung aber einfacher erlauben, die Kontrolle über die Erdölraffinerie im brandenburgischen Schwedt zu übernehmen. Bisher hat der russische Rosneft-Konzern dort das Sagen.
Am Weissenhäuser Strand im schönen Ostholstein steht ein noch schöneres Luxushotel. Dort treffen sich ab heute die Außenminister der führenden demokratischen Wirtschaftsmächte. Annalena Baerbock hat den G7-Vorsitz; mit ihren Kollegen bereitet sie den Gipfel in Elmau Ende Juni vor und bespricht mit dem ukrainischen Außenminister Dymtro Kuleba, was die G7-Staaten noch tun können, um Kiew zu unterstützen und Moskau zu bestrafen.
Was lesen?
Ja, der Westen straft Russland mit harten Sanktionen, doch Putins Regime ist robuster als gedacht. Was daraus folgt, erklärt unsere Wirtschaftskolumnistin Ursula Weidenfeld.
Olaf Scholz droht nach dem Impfpflicht-Debakel eine weitere Niederlage: Für seinen Plan, die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro zu modernisieren, braucht er CDU und CSU – doch die könnten sich querstellen. Unsere Reporter Johannes Bebermeier und Miriam Hollstein sind der Frage nachgegangen, ob das Vorhaben scheitert.
Christine Lambrecht macht Schlagzeilen: Die Posse um die Flüge der Verteidigungsministerin und ihres Sohnes offenbaren ein Problem von Politikern, schreibt unsere Kolumnistin Nicole Diekmann.
Elon Musk kauft Twitter – und will Donald Trump auf die Plattform zurücklassen. Das könnte ein politisches Beben auslösen, kommentiert unser Digitalchef Jan Mölleken.
Was amüsiert mich?
Die Ukraine hat eine russische Gasleitung Richtung Westeuropa unterbrochen – und nun?
Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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