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Afghanistan-Desaster: Ein Debakel reiht sich an das nächste


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Tagesanbruch
Ein Debakel reiht sich an das nächste

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 01.09.2021Lesedauer: 6 Min.
Soldaten einer US-Luftlandedivision auf einem Truppenstützpunkt im Nahen Osten.Vergrößern des Bildes
Soldaten einer US-Luftlandedivision auf einem Truppenstützpunkt im Nahen Osten. (Quelle: Taylor Crul/U.S. Air Force/ap)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wenn man sich nach Osten wendet und aufmerksam lauscht, kann man die Stille fast schon hören. Die große Flut der Meldungen, Kommentare, Features und TV-Beiträge aus Afghanistan geht nun zu Ende. Die Amerikaner sind weg, die Deutschen sowieso, auch die Grenze der Aufmerksamkeitsspanne ist für viele erreicht. Die Medienkarawane zieht weiter, weil das eben so ist. Hier die Bundestagswahl, dort das Virus – es herrscht schließlich kein Mangel an Themen von Belang. Aber bevor wir uns wieder in den Mahlstrom der neuen Nachrichten stürzen, sollten wir uns einen Moment zum Nachdenken nehmen. Schließlich sind wir in Afghanistan gerade Zeugen eines historischen Einschnitts geworden. Was bedeutet er? Was können, was müssen unsere Regierung, die Nato, der Westen daraus lernen? Erfolgreiche Intervention: Geht das überhaupt?

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Eines ist jetzt schon klar: Die Mitglieder der internationalen Koalition in Afghanistan werden sich mit einer ausgesprochen unangenehmen Erkenntnis auseinandersetzen müssen. Die Koalitionäre waren zwanzig Jahre da und haben bis zum Schluss das Land nicht verstanden. Anders kann man die offenen Münder nicht erklären, mit denen die politische Elite von Berlin bis Washington auf den plötzlichen Zerfall der afghanischen Armee und den Fall Kabuls gestarrt hat. Dabei haben Ethnologen, Landeskenner und Reporter immer wieder beschrieben, wie gewöhnlich der Wechsel von Truppen auf die andere Seite ist. Nicht überall auf der Welt gilt das gleich als verwerflicher "Verrat": Deals mit den feindlichen Kämpfern gehören in Afghanistan zum Handwerk. Kein Wunder also, dass die Taliban wie am Fließband Kapitulationen mit Regierungstruppen aushandelten, als die abziehenden US-Truppen ihre afghanischen Kollegen im Regen stehen ließen. Nur das politische und militärische Establishment der westlichen Verbündeten verstand auf einmal die Welt nicht mehr.

Eigentlich sollte man es nicht sagen müssen, aber: Liebe Regierungschefs, liebe Minister, sehr verehrte Generäle (und ein Hallo auch an die Schlapphüte), ohne Ortskenntnis kommt man nicht zum Ziel. Und damit ist nicht nur die Straßenkarte gemeint. Wer die Spielregeln einer Gesellschaft nicht kennt, tappst verloren durch die Umgebung. Das ist die erste Lektion aus Afghanistan: Kenne dich aus, verstehe die Leute vor Ort. Sonst geht es als Verlierer nach Hause.

Die zweite Lektion: keine halben Sachen. Milliardenbeträge sind in die Ausbildung der afghanischen Armee und Polizei geflossen. Doch Geld allein ist nicht genug. Auf den Scheck gehört nicht nur eine Summe, sondern auch ein sinnvoller Verwendungszweck. Die US-Ausbilder haben den afghanischen Soldaten beigebracht, wie man kämpft und Checkpoints bemannt, aber sich nicht um den Aufbau funktionierender Strukturen dahinter geschert. Die Rekruten lernten, den Feind aufzuspüren, wussten aber nicht, wie sie an ihr Gehalt kommen sollten. Als das Ende kam, hatten afghanische Soldaten zum Teil seit einem Dreivierteljahr keinen Sold mehr gesehen.

Fehlende Strukturen bedeuteten aber auch: keine Logistik. In den größeren Militärbasen fielen den Taliban ganze Fuhrparks an Kampffahrzeugen und Waffen im Überfluss in die Hände. In den Außenposten hatten Soldaten der afghanischen Armee zuvor händeringend um jedes Gewehr und jeden Schuss Munition gebettelt. Wenn so etwas nicht funktioniert, hat man auch keine Armee aufgebaut. Kurzum: Das westliche Projekt in Afghanistan ist keine "halbe Sache" gewesen – eher ein schlecht durchdachtes, schmales Viertel.

Die Liste westlicher Verfehlungen könnte man noch lange fortsetzen. Die internationale Koalition, die Afghanistan eine bessere Zukunft hätte bescheren sollen, hat mörderische Warlords an die Schalthebel der Macht zurückgeholt, korrupte Seilschaften akzeptiert, Misswirtschaft im großen Stil hingenommen. Der gemeinsame Nenner in der langen, traurigen Geschichte: Das Schicksal der Afghanen hat nie wirklich interessiert. Gewiss, Staaten haben keine Freunde, sondern Interessen – so könnte man das abhaken, dabei taugt der Spruch höchstens fürs Poesiealbum. Denn er übergeht die naheliegende Frage, ob die Beschränkung auf das Eigeninteresse zu den Ergebnissen führt, die wir uns wünschen. Selten ist die Antwort darauf so klar wie in Afghanistan.

Seit dem Zweiten Weltkrieg sind westliche Interventionen nur noch im Ausnahmefall erfolgreich gewesen. Die Bilanz in jüngster Zeit: Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien – ein Debakel reiht sich an das nächste. Das Konzept der engstirnigen Interessenpolitik ist gescheitert. Das ist die letzte Lektion: Nur wer sich das Wohl der Menschen vor Ort wirklich auf die Fahnen schreibt, hat überhaupt eine Chance auf Erfolg.


Früher warnen

Es kommt auf die Daten an: Das ist eine entscheidende Lehre aus dem Kampf gegen Corona. Wie breitet sich das Virus in Deutschland aus? Wie weltweit? Wie entwickelt sich der Anteil positiver Tests? Wie viele Menschen liegen auf den Intensivstationen? Welche Mutanten gibt es wo? Eine weitere Lektion der Covid-19-Pandemie hat der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, benannt: "Die Welt muss einen bedeutenden Sprung in der Datenanalyse machen, damit Politiker auf dieser Basis Entscheidungen zur öffentlichen Gesundheit treffen können."

Um genau das zu erreichen, eröffnet die WHO heute in Berlin ein Frühwarnzentrum für Pandemien. Das Forschungszentrum, das der Bundesregierung 30 Millionen Euro wert ist, soll mithilfe künstlicher Intelligenz Daten aus aller Welt analysieren – zur Tiergesundheit, zu verdächtigen Krankheiten, zu Klimakrisenfolgen und zu Migrationsbewegungen. So will man künftig Gesundheitskrisen schneller erkennen und am besten auch verhindern. Dafür sollen Wissenschaftler, Behörden und Firmen zusammenarbeiten. Gute Sache.


Eisenbahner auf Egotrip

Als Dauerzugfahrer graut mir vor heute Nacht. Um 17 Uhr beginnt der Ausstand im Güterverkehr, ab 2 Uhr nachts wird auch der Personenverkehr weitgehend lahmgelegt: Die Lokführergewerkschaft GDL ruft ihre Mitglieder zum dritten Mal binnen weniger Wochen zum Streik auf. Bis Dienstagnacht, 2 Uhr, soll er dauern. "Es ist eine der längsten Arbeitskampfmaßnahmen, die wir durchführen, und zwar absichtlich", posaunt GDL-Chef Claus Weselsky in die Mikrofone.

Nun sind Streiks zwar das gute Recht von Gewerkschaften, doch um mehr Geld für die Angestellten geht es der GDL gar nicht in erster Linie – sondern darum, bessere Konditionen als die Konkurrenzgewerkschaft EVG herauszuschlagen. So will Herr Weselsky nämlich den Kampf um die Macht im Bahnkonzern gewinnen: Er braucht unbedingt mehr Mitglieder als die Konkurrenz. Auf der GDL-Website umwirbt er deshalb potenzielle Neu-Mitglieder ("Ich bin derzeit noch in der EVG und spiele mit dem Gedanken, in die GDL einzutreten") mit dem Angebot, "aufgrund der Streiksituation" nicht erst wie üblich mit Eingang des ersten Mitgliedsbeitrags, sondern schon "mit der Unterschrift auf der Beitrittserklärung sofort alle Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft" zu erlangen – also auch Streikgeld. Bezahlte Loyalität nennt man das wohl. Andernorts nennt man es Mafia. Die Mehrheit der Deutschen nervt dieser Egotrip jedenfalls gewaltig, wie eine exklusive Umfrage von t-online zeigt. "Die GDL überzieht total", kommentiert die "Süddeutsche Zeitung". Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Leinwandfieber

Haben Sie die Kinos in den Lockdown-Monaten auch so schmerzlich vermisst? Gut, dass nun auch wieder Festivals stattfinden. Heute Abend beginnen die 78. Filmfestspiele von Venedig. Als Eröffnungsfilm feiert der Streifen "Madres Paralelas" ("Gleichzeitig Mutter") von Spaniens Meisterregisseur Pedro Almodóvar Premiere: Er dreht sich um zwei sehr unterschiedliche Frauen in einem Krankenhauszimmer, und natürlich ist auch Penélope Cruz wieder dabei. Bis zum 11. September folgen 20 weitere Filme, die ebenfalls um den Goldenen Löwen konkurrieren. Vorhang auf!


Was lesen?

Die Taliban sind auch deshalb so stark, weil sie riesige Waffenbestände der westlichen Truppen erbeutet haben. Mein Kollege Patrick Diekmann hat Bemerkenswertes herausgefunden.


Wegen seines chaotischen Afghanistan-Abzugs steht Joe Biden politisch mit dem Rücken zur Wand. Schafft er es nun, seine Kritiker zu überzeugen? Unser Washington-Korrespondent Bastian Brauns hat bei der Rede des US-Präsidenten vergangene Nacht genau hingehört.


Die drei Kanzlerkandidaten versprechen allerhand – aber taugen ihre Pläne, um die deutsche Wirtschaft wieder auf Trab zu bringen? Unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld erklärt Ihnen eine riskante Entwicklung.


Südafrikanische Wissenschaftler haben eine neue Corona-Variante entdeckt, die auf sage und schreibe 59 Mutationen beruhen soll. Was bisher über sie bekannt ist, erklärt Ihnen meine Kollegin Sandra Simonsen.


Was amüsiert mich?

Da kommt was auf uns zu …

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Morgen schreibt Peter Schink den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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