Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ist das alles ein Fehler?
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
falls Sie gerade Ihre Kaffeetasse abgestellt haben, um ihr Frühstücksbrötchen zum Mund zu führen, legen Sie es am besten noch mal kurz zur Seite. Die folgende Erinnerung ist nämlich unappetitlich.
Wie schlimm wird es?
Wir befinden uns im Juli 2015. Rund ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro. Bei Wassertests fällt auf: Die Bucht von Guanabara, in der Surfer und Segler ihre Wettbewerbe austragen würden, ist immer noch so durch Fäkalien, Müll und tote Tiere verseucht, dass das Wasser die Gesundheit von Athleten und Besuchern bedroht. Wer dort bereits trainiert, leidet mitunter schon an Fieber, Durchfall oder Erbrechen.
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Gehen wir in den Januar 2016. Ein halbes Jahr vor den Spielen. In Brasilien sind auffällig viele Fälle von Mikrozephalie aufgetreten. Kinder leiden dabei unter einem vergleichsweise geringen Kopfumfang, der mit einer geistigen Behinderung einhergeht. Die Regierung führt dies auf Infektionen der Mütter mit dem Zika-Virus zurück und rät schwangeren Frauen davon ab, die Spiele zu besuchen. Sie setzt 220.000 Soldaten ein, um den Kampf gegen die Tigermücke zu gewinnen, die das Virus überträgt. Athleten sagen ihre Teilnahme ab. Und: Sogar eine Absage der Spiele wird diskutiert.
Juli 2016, rund zwei Wochen vor den Spielen: Athleten und Betreuer gehen auf die Barrikaden, weil das Olympische Dorf in ihren Augen unbewohnbar ist, einige boykottieren die Unterkunft sogar und ziehen in benachbarte Hotels.
Die Fäkalien-Bucht, die Tigermücken-Plage und das Dorf-Dilemma. Die Beispiele zeigen: Die Vorbereitung auf Olympische Spiele wird mitunter von Negativschlagzeilen, Skandalen oder zumindest Komplikationen überschattet. Tiefpunkte gab es in der Historie reichlich. Einer der tiefsten: Die Boykottspiele von 1980, bei denen erst die USA, dann auch die Bundesrepublik und Japan fernblieben. Sie reagierten damit auf die Invasion der Sowjetunion in Afghanistan im Dezember 1979.
Tatsächlich traten die Probleme rund um die Spiele mit dem Startschuss der Wettbewerbe meist in den Hintergrund, wenn sie nicht sogar gelöst wurden.
Die entscheidende Frage in diesem Jahr: Wird das auch bei den Olympischen Spielen in Tokio möglich sein? Die starten heute offiziell mit der Eröffnungsfeier um 20 Uhr Ortszeit und aufgrund der siebenstündigen Zeitverschiebung entsprechend um 13 Uhr deutscher Zeit. Bei t-online verfolgen Sie die Feier und natürlich auch die Wettbewerbe im Liveticker. Und hier erfahren Sie, wie Sie unseren neuen Olympia-Push abonnieren, damit Sie keine Nachrichten verpassen.
Der Haken: So groß und existenziell für die Austragung waren die Probleme wohl noch nie. Eine Hiobsbotschaft folgte zuletzt der nächsten.
- Nach der Verschiebung der Spiele um ein Jahr befindet sich Tokio aktuell schon wieder im Corona-Notstand – dem vierten insgesamt. Es gibt so viele Neuinfektionen wie seit einem halben Jahr nicht, weil die fünfte Welle durch die Hauptstadt rollt.
- Die Bürger sind angehalten, zuhause zu bleiben, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern.
- Zwei Drittel der Bevölkerung lehnen die Austragung der Spiele ab. In den letzten Tagen gingen Hunderte Japaner sogar auf die Straße, um zu protestieren – obwohl das in Japan gar nicht üblich ist.
- Vor zwei Wochen gaben das Internationale Olympische Komitee (IOC) als Veranstalter, die japanische Regierung sowie die Stadtverwaltung von Tokio bekannt, dass auch das heimische Publikum ausgeschlossen wird, die Spiele also bis auf wenige Ausnahmen vor leeren Rängen stattfinden.
- Noch in dieser Woche verkündete mit Toyota einer der Hauptsponsoren, die Ausstrahlung von Werbespots mit Bezug zu den Spielen zu stoppen – und somit auf eine Gegenleistung des Sponsorings zu verzichten. Dabei zahlt Toyota angeblich eine Milliarde Dollar, um für acht Jahre Partner der Spiele zu sein. Selbst die Sponsoren haben Angst vor einem Imageschaden.
- Gestern entließen die Organisatoren mit Kentaro Kobayashi den Kreativdirektor der heutigen Feier. Im Internet war ein Video aufgetaucht von einem alten Sketch, in dem er als junger Komiker über ein Rollenspiel mit Papierfiguren scherzt, das er "Lass uns Juden ermorden spielen" nennt.
- Nur einige Tage zuvor musste der Komponist der Eröffnungsfeier zurücktreten. Im Internet waren Interviews aufgetaucht, bei denen er erzählte, wie er in der Schulzeit behinderte Kinder gemobbt hatte.
- Zwei Tage vor der Eröffnungsfeier sagte mit Guinea ein Land sogar kurzfristig seine Teilnahme aufgrund der Corona-Sorgen ab, einen Tag später jedoch wieder zu.
- Mehrere Top-Vertreter aus Wirtschaft und Politik sagten ihre Teilnahme an der Eröffnungsfeier ab. Darunter der Toyota-Chef, der Panasonic-Chef und wohl auch der frühere Premierminister Shinzo Abe, der maßgeblich dafür gesorgt hat, dass Tokio 2013 trotz der heftigen Probleme aufgrund der Katastrophe in Fukushima die Spiele zugesprochen bekam.
- Das IOC kündigte ein "umfassendes Soundsystem" an, mit dem Zuschauerreaktionen der Sommerspiele aus Rio 2016 abgespielt werden. Das ist natürlich eine traurige Alternative zu echten Fans.
- Für mehr als 75 Athleten sind die Spiele aufgrund einer nachgewiesenen Corona-Infektion schon vorbei, bevor sie begonnen haben. Es werden wohl noch einige dazukommen.
Wie schlimm wird das alles? Und werden die Olympischen Spiele als Institution einen bleibenden Schaden davontragen? Auf die Fragen scheint es in Tokio hinauszulaufen.
Bevölkerung, Athleten und Journalisten – alle sind derzeit genervt von Skandalen, der Pandemie und den entsprechenden Einschränkungen.
Für t-online berichtet Melanie Muschong von vor Ort. Sie hat eine Odyssee in Form komplizierter und teils absurder Anmelde- und Anreiseprozesse hinter sich. Ein Beispiel der Bedingungen vor Ort: Im vom IOC vorgegebenen Hotel gibt es kein Essen. Um sich etwas zu besorgen, darf sie in den ersten 14 Tagen ihres Aufenthaltes, abgesehen von den Besuchen des Mediencenters und einiger Wettkampfstätten, jeweils nur exakt 15 Minuten vor die Tür – und erreicht in dieser Zeit nur einen Mini-Supermarkt mit überschaubarem Angebot. Schuld sind die Quarantänebestimmungen, die nicht komplett durchdacht scheinen.
Die Frage, die einen nicht loslässt: Hätten das IOC und die Regierung die Spiele nicht einfach noch mal verschieben oder gar absagen können?
Bevor man diese Frage beantwortet, sollte man sich zunächst einmal in die Lage der Sportler versetzen. Die Athleten haben oftmals nur ein großes Ziel in ihrer Karriere: Gold bei den Olympischen Spielen. Oder eine Medaille. Oder zumindest eine Teilnahme. Jahrelang üben sie sich im Verzicht, trainieren wie die Wahnsinnigen, ohne viel Geld dafür zu bekommen – und fiebern diesem einen Event entgegen. Die wenigen Sponsoren, die sie haben, wollen sie auf keinen Fall verlieren. Sie sind gefesselt von der Faszination Olympische Spiele. So wie IOC-Präsident Thomas Bach, der aufgrund des Boykotts der Bundesrepublik 1980 um seine zweiten Spiele gebracht wurde, nachdem er im Fechten 1976 mit der Mannschaft Gold gewonnen hatte. Das hat Bach geprägt.
Für das IOC und auch Japan geht es natürlich vor allem um Geld. Die Verschiebung der Spiele um ein Jahr soll schon rund 2,5 Milliarden Euro zusätzlich gekostet haben. Die Kosten insgesamt sollen längst jenseits der veranschlagten 13 Milliarden liegen. Bei einer Absage würden wohl diverse Versicherungen nicht mehr ausreichen, Ausgaben nicht ersetzt werden und Einnahmen wegbrechen. Neben den Sponsoren zahlt beispielsweise der TV-Sender NBC für die Übertragungsrechte in die USA oder Discovery für Europa Milliarden im Rahmen langfristiger Verträge.
Das IOC würde in jedem Fall unter massiven Einbußen leiden. Nächstes Problem: Ein Großteil der Einnahmen des IOC geht an Sportverbände in der ganzen Welt. Ein Loch in Milliardenhöhe hätte Folgen für die Strukturen im Sport auf der ganzen Welt. Das Defizit würde auch Deutschland zu spüren bekommen, bis hin zu regionalen Verbänden.
Das Interesse der japanischen Regierung an der Austragung? Schon jetzt müssen die Steuerzahler blechen, um die Kosten auszugleichen. Womöglich hätte das IOC bei einer Absage sogar noch Entschädigungen fordern können. So oder so: ein unvorstellbares Szenario.
Und auch ein weiteres wichtiges Argument gehört zur Wahrheit. Die Aussage des ehemaligen Premierministers Shinzo Abe aus dem März 2020 spielt dabei durchaus noch eine Rolle. Er sagte: "Die Olympischen Spiele werden den Sieg der Menschheit über das neuartige Coronavirus markieren."
Die japanische Regierung gab den Spielen eigentlich das Motto des Wiederaufbaus. Die Nuklearkatastrophe von Fukushima ist zehn Jahre her. Damals starben mehr als 20.000 Menschen. Weitere Hunderttausende standen plötzlich ohne Obdach da, weil ganze Städte unbewohnbar wurden.
Nun will man nicht nur den letztlich teilweise missglückten Wiederaufbau zum Anlass nehmen, sondern auch, selbst wenn das aufgrund der erneuten Corona-Welle offensichtlich zu früh ist, das Ende der Pandemie. Zumindest möchte man das lieber im eigenen Land einläuten, statt es China zu überlassen. Dort werden nämlich im kommenden Jahr die Olympischen Winterspiele stattfinden. In Peking hätte man nichts dagegen, Japan die Show zu stehlen.
Es gibt gute und weniger gute Gründe für die Austragung der Spiele. Aber sie finden nun mal statt.
Und womöglich werden sie trotz allem wieder unglaubliche Geschichten schreiben. Wie der Jamaikaner Usain Bolt, der sich 2008 in Peking weder von einem verpatzten Start des 100-Meter-Sprints noch von offenen Schnürsenkeln daran hindern ließ, seinen eigenen Weltrekord auf 9,69 Sekunden zu verbessern. Er flog über die Tartanbahn. Oder Gewichtheber Matthias Steiner, der ebenfalls in Peking über sich hinauswuchs und bei der Siegerehrung neben der Goldmedaille ein Foto seiner tödlich verunglückten Frau in die Kamera hielt.
Muhammad Ali, der 1996 in Atlanta die Flamme im Stadion entzündete und gezeichnet von seiner Parkinson-Krankheit die Zuschauer zu Tränen rührte. Schwimmstar Mark Spitz, der 1972 in sieben Wettkampftagen sieben Bestzeiten sowie sieben Goldmedaillen schaffte und neue Maßstäbe in Sachen Vermarktung schuf. Ulrike Meyfarth, die 1972 im Alter von 16 Jahren höher sprang als je eine Frau vor ihr und ebenfalls Gold holte. Armin Hary, der als Deutscher der schnellste Mann der Welt war und 1960 Gold gewann, nachdem das Zielfoto entscheiden musste.
Skandale, Pandemie und Proteste: Über den Spielen von Tokio liegt ein riesiger Schatten. Die Erinnerungen machen Hoffnung, dass er die Faszination Olympische Spiele trotz allem nicht unter sich begraben wird. Zumindest nicht langfristig.
Neuer Ärger in Thüringen
Seit am 5. Februar 2020 Thomas Kemmerich von der FDP mit den Stimmen der AfD Kurzzeit-Regierungschef wurde und einen Skandal auslöste, kommt Thüringen nicht zur Ruhe. Heute entscheidet der Landtag über einen Misstrauensantrag der AfD-Fraktion mit Chef Björn Höcke gegen Ministerpräsident Bodo Ramelow. Die AfD stellt Höcke als Gegenkandidaten zu Ramelow auf.
Der Vorstoß ist aussichtslos, weil alle anderen Fraktionen im Thüringer Parlament bereits angekündigt haben, nicht für Höcke stimmen zu wollen. Um Ramelow als Regierungschef zu Fall zu bringen, müsste der die absolute Mehrheit im Parlament auf sich vereinigen, also 46 Stimmen erreichen. Seine eigene Fraktion kommt nur auf 22 Sitze.
Warum dann überhaupt das Misstrauensvotum? Für Höcke ist jede Stimme, die über die 22 hinausgeht, ein Erfolg. Unruhe gibt es auch so schon genug. Die CDU-Fraktion hat angekündigt, sich an der Abstimmung nicht zu beteiligen. Die Abgeordneten wollen auf ihren Plätzen sitzen bleiben. Vertreter anderer Fraktionen reagierten angefressen, dass die CDU-Abgeordneten bei einem Kandidaten wie Höcke nicht mit Nein stimmen wollen.
Neuer Impfstoff für Kinder
Die EU-Arzneimittelbehörde EMA will eine Vorentscheidung über die Zulassung eines weiteren Corona-Impfstoffs für Kinder treffen. Die Experten beraten heute über die Zulassung von Moderna auch für 12- bis 17-Jährige. Wenn sie ihr Okay geben, muss nur noch die EU-Kommission zustimmen, was als Formsache gilt.
Die Grundlage für den Antrag ist eine Studie bei 2.500 Jugendlichen in den USA. Danach lag die Wirksamkeit nach Angaben des Unternehmens bei 100 Prozent. Moderna soll also für Minderjährige genauso sicher und verträglich sein wie für Erwachsene. Bisher war nur Ende Mai der Impfstoff von Pfizer/Biontech für 12- bis 17-Jährige zugelassen worden.
Was lesen?
Die Welt bewundert Chinas Aufstieg – und fürchtet ihn. Aber wie lange können die Kommunisten das Land noch autoritär beherrschen? Experte Klaus Mühlhahn hat im Interview mit meinen Kollegen Patrick Diekmann und Marc von Lüpke zum 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei Chinas erklärt, wo schwere Konflikte drohen.
Lange Zeit hat China eine Schmutzkampagne gegen den Biontech-Impfstoff gefahren, doch plötzlich scheint eine Zulassung zum Greifen nahe. Das Mainzer Unternehmen könnte auf einmal eine entscheidende Rolle bei der chinesischen Impfstrategie gegen die Delta-Variante spielen und einen Milliardenmarkt erschließen. Dieser plötzliche Sinneswandel hat mehrere Gründe. Nele Behrens erklärt, wie es zu dem Kurswechsel der Chinesen kam und wie Anleger in den kommenden Tagen davon profitieren können.
Immer mehr Menschen in Deutschland haben bereits den vollständigen Impfschutz gegen Covid-19. Viele jedoch warten noch auf ihre zweite Spritze – und fragen sich angesichts der Ausbreitung der noch ansteckenderen Delta-Variante: Was passiert eigentlich, wenn ich mich nach der ersten Impfung mit Corona infiziere? Gelte ich dann schon als vollständig geimpft? Meine Kollegin Melanie Weiner hat die Antworten.
Nach der desaströsen WM 2018 und dem peinlichen Abschneiden bei der EM 2021 hat die deutsche Nationalmannschaft in Japan die Chance auf ein kleines Stück Wiedergutmachung. Doch zum Auftakt der Olympischen Spiele schon vor der heutigen Eröffnungsfeier verlor das Team prompt mit 2:4 gegen Brasilien. Wer nun aber denkt, dass Trainer Stefan Kuntz und seine Spieler die Schuld an der Pleite tragen, liegt falsch. Den Kommentar von Robert Hiersemann zum missglückten Turnierauftakt lesen Sie hier.
Was amüsiert mich?
Eine Goldhoffnung im Volleyball sowie der beste deutsche Turmspringer führen die deutsche Mannschaft bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Tokio an. Ehre gebührt allerdings nicht nur den beiden.
Ich wünsche Ihnen einen spannenden Tag und ein schönes Wochenende. Am Montag schreibt an dieser Stelle mein Kollege Johannes Bebermeier für Sie.
Ihr
Florian Wichert
Stellvertretender Chefredakteur t-online
Twitter: @florianwichert
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Mit Material von dpa.
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