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Merkels wohl letzter EU-Gipfel: "Keine Antwort auf die drängendste Frage"


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Tagesanbruch
Europa hat keine Antwort auf die drängendste Frage

MeinungVon Camilla Kohrs

Aktualisiert am 25.06.2021Lesedauer: 9 Min.
Migranten werden von Lesbos auf das griechische Festland gebracht: In der EU gibt es noch immer keinen Verteilmechanismus für Asylbewerber.Vergrößern des Bildes
Migranten werden von Lesbos auf das griechische Festland gebracht: In der EU gibt es noch immer keinen Verteilmechanismus für Asylbewerber. (Quelle: Milos Bicanski/getty-images-bilder)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

heute geht es im Tagesanbruch um Abschiede, verdrängte Probleme und die neuen, alten Reisefreiheiten.

Die Baustellen der EU

"Abschied ist ein scharfes Schwert", sang einmal der britisch-kenianische Sänger Roger Whittaker. Das klingt so, als habe er recht. Abschiede können traurig sein, wenn man etwas verliert, jedoch durchaus heiter, wenn man zu neuen Ufern aufbricht. Dass Abschiede aber auch sehr nüchtern ausfallen können, hat Kanzlerin Angela Merkel gestern im Bundestag gezeigt.

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Dort gab sie ihre wahrscheinlich letzte Regierungserklärung ab – nach 16 Jahren im Amt. Dennoch hielt Frau Merkel sich – in typischer Manier – ans Protokoll. Und dort stand nun einmal nichts von Sentimentalitäten, sondern nur etwas von den Themen des EU-Gipfels. Und so sprach sie hauptsächlich vom Kampf der EU gegen die Corona-Pandemie und räumte freimütig ein, was dabei schiefgelaufen ist: Viel zu lange hätten sich die Mitgliedsländer einzeln mit der Seuche rumgeplagt, bevor ein gemeinsamer europäischer Weg gesucht worden sei. Die EU muss in der Krisenbewältigung besser werden, forderte Merkel. "Ich bin überzeugt, dass wir nur zusammen als Staatengemeinschaft erfolgreich die Herausforderungen der Pandemie, wie auch der anderen großen Aufgaben, meistern können."

Auch für diese anderen großen Aufgaben formulierte die Kanzlerin Ziele. Da sind erstens die Beziehungen zu Russland: Da muss die EU besser auf Provokationen antworten. Zweitens die Zusammenarbeit mit der Türkei: Die strategische Kooperation soll trotz Differenzen gestärkt werden. Drittens die Asyl- und Migrationspolitik: "Wir dürfen bei der Reform der gemeinsamen europäischen Asylpolitik nicht nachlassen, so schwierig diese Diskussion auch ist." Soweit die Ansage der Kanzlerin.

Für die passende Abschiedsstimmung sorgten dann erst jene Redner, die nach ihr ans Mikrofon traten. Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) bedankte sich für die Zusammenarbeit in der Europapolitik, FPD-Chef Christian Lindner sprach von großen Verdiensten Merkels in den vergangenen 16 Jahren und auch Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock lobte die Anstrengungen der Kanzlerin, "dieses Europa zusammenzuhalten". Ganz anders sahen das die Linken. "Europa taumelt wie ein angeschlagener Boxer kurz vor dem K.o.", resümierte deren Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch.

Kurz darauf düste Frau Merkel weiter zum nächsten Abschied, ihrem wohl letzten EU-Gipfel. Dort dürfte die Atmosphäre allerdings weniger kuschelig gewesen sein. Denn auf dem Zwei-Tages-Programm (der Gipfel geht heute weiter) steht gleich eine ganze Phalanx strittiger Punkte: Ungarns Zensurgesetz zu Homosexualität, die Beziehungen zur Türkei und Russland und eben auch das ewige Streitthema Asylpolitik. Letzteres steht nur auf Wunsch Italiens auf der Agenda – obwohl der Handlungsdruck übermächtig scheint.

Denn mittlerweile gibt es kaum noch eine Außengrenze der EU, an der die ungelöste Frage nicht sichtbar ist. Da ist das Mittelmeer, auf dem in diesem Jahr schon mindestens 800 Menschen ertrunken sind. Die Kanarischen Inseln mit ihren überfüllten Flüchtlingslagern und überforderten Lokalpolitikern. Der Ärmelkanal, den allein dieses Jahr schon Tausende von Frankreich nach Großbritannien mit Schlauchbooten überquert haben. Die Menschenrechtsverletzungen der kroatischen Grenzbeamten, die nachts Familien wieder aus der EU heraus zurück nach Bosnien-Herzegowina treiben, oft mit Gewalt. Die Kollegen vom Schweizer Fernsehsender SRF haben das gerade erst auf Video festgehalten.

Auf den griechischen Inseln leeren sich die Flüchtlingscamps zwar allmählich. Doch einigen der Zurückgebliebenen geht es besonders schlecht. Der Arzt und Professor für Sozialmedizin Gerhard Trabert ist gerade auf Lesbos in dem provisorischen Zeltlager Mavrovouni, auch Moria 2.0 genannt. In einem Telefonat hat er mir seine Eindrücke von vor Ort geschildert – und auch Videos geschickt. Folgende Antworten hat er mir auf meine Fragen gegeben:

Herr Trabert, wie erleben Sie derzeit die Situation in dem Camp auf Lesbos?

Gerhard Trabert: Wir kümmern uns hier besonders um Menschen mit Behinderung, und es ist ganz klar: Das ist hier kein Ort für sie. Wir suchen hier nun nach Menschen, die eine körperliche oder geistige Behinderung haben, versuchen, ihnen vor Ort zu helfen und Prothesen oder Ähnliches aus Deutschland heranzuschaffen. Auf Lesbos gibt es niemanden, der Prothesen anfertigt oder finanziert.

Können Sie uns einige Beispiele nennen?

Ich habe beispielsweise einem Mann, Abdul, eine neue Unterschenkelprothese gebracht. Seine war auf der Flucht und durch die schwierige Zeit im abgebrannten Moria-Camp funktionsunfähig geworden, er konnte sich kaum noch fortbewegen. Wir haben vor einigen Monaten seinen Amputationsstumpf ausgemessen und die Prothese in Deutschland anfertigen lassen. In dem Video sieht man, was es für ihn bedeutet, sich auf einmal wieder richtig bewegen zu können.

Dann ist da ein anderer Mann aus Syrien. Er ist spastisch gelähmt und kann seine Beine gar nicht und nur einen Arm bewegen. Wenn er zur Toilette will, muss er von zwei Männern dorthin getragen werden. Zu den Duschen kommt er gar nicht, weil sie auf einer kleinen Anhöhe liegen. Wir setzen uns derzeit dafür ein, dass er nach Deutschland kommen kann.

Eine andere Frau aus Somalia hat ihren Unterschenkel durch eine Schussverletzung verloren, und auch ihre Prothese ist nicht mehr brauchbar. Hinzu kommt, dass sie auch ihr anderes Bein wegen der Verletzung nur eingeschränkt und mit vielen Schmerzen verbunden nutzen kann. Auf ihrem Röntgenbild kann man die Projektilfragmente der Gewehrkugel noch erkennen. Wir haben zugesagt, die Operationskosten zur Entfernung der verbliebenen Fragmente zu zahlen und eine neue Prothese anfertigen zu lassen. Wir haben auch eine andere junge Frau aus Somalia mit ihrem kleinen Sohn getroffen. Er hatte wohl als Baby eine Infektion des Gehirns, wahrscheinlich eine Meningitis, und ist dadurch sehr stark eingeschränkt. Im untenstehenden Video sind sie zu sehen. Sie lebt mit ihrem behinderten Kind und vier weiteren Menschen in einem Zelt. Dort ist es teilweise über 40 Grad heiß.

Und die Menschen leben dort unter allen anderen Geflüchteten?

Vor knapp zwei Monaten wurde ja ein Lager für besonders schutzbedürftige Geflüchtete geschlossen. Diese knapp 400 Menschen sind nach Mavrovouni gebracht worden, es gab aber kein richtiges Konzept zur behindertengerechten Unterbringung. Sie sollten zunächst wie alle anderen einquartiert werden, ohne darauf zu achten, wie weit der Weg zu den Duschen oder zur Toilette ist. Die meisten von ihnen leben nun aber in einem speziellen Areal, da gibt es auch einige Behindertentoiletten mit Schloss. Besonders Frauen haben einen Schlüssel dafür, das ist natürlich gut. Aber es stellt sich trotzdem noch die Frage: Wie kommt ein Rollstuhlfahrer über Schotter zur Toilette? Etwa unser syrischer Patient Khalid mit der spastischen Lähmung: Er kommt dort nicht allein hin. So jemand dürfte überhaupt nicht in so einem Lager sein.

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Abseits von den Menschen mit Behinderung, wie ist es sonst um den Gesundheitszustand der Menschen dort bestellt?

Es gibt immer wieder Durchfallerkrankungen, das hat etwas mit dem Trinkwasser zu tun. Einige haben Krätze. Viele kochen am offenen Feuer und es ist sehr beengt. Deswegen gibt es immer wieder Kinder, die Verbrennungen haben. Gerade bei kleinen Kindern ist dann immer die Gefahr, dass es zu Infektionen kommt.

Nun hat Griechenland gemeldet, dass die Camps auf den Inseln immer leerer werden. Insbesondere auf Samos und Chios, aber auch auf Lesbos. Nehmen Sie einen Unterschied zu ihrem vorherigen Besuch wahr?

Vor einem Jahr lebten hier noch fast 16.000 Menschen, jetzt sind es wohl schätzungsweise 5.000 oder mehr. Die Zahl ist natürlich sehr gesunken. Dafür entstehen in Athen neue Flüchtlingslager, andere werden anerkannt. Hier wartet aber das nächste Problem: Als anerkannte Flüchtlinge steht den Menschen keine finanzielle Unterstützung mehr zu. Ich bin in Kontakt mit einem querschnittsgelähmten Mann, den ich im Moria-Camp kennengelernt habe. Er ist nun anerkannt und in Athen – bekommt also kein Geld mehr. Das ist für ihn ein großes Problem, gerade als Querschnittsgelähmter. Wie sollen er und seine Familie sich so ernähren?

So ist das auf der griechischen Insel. Herr Trabert, aber auch Menschenrechtsorganisationen, Politiker und Migrationsexperten fordern schon seit Jahren, die prekäre Lage in den Lagern schnellstens zu beenden und den Geflüchteten ein menschenwürdiges Asylverfahren zu ermöglichen, bei dem dann entschieden wird, ob sie in Europa bleiben dürfen. Ein neues Asylzentrum ist auf Lesbos zwar vorgesehen, aber noch nicht fertig.

Eigentlich wären das schon genügend Gründe für eine ausführliche Debatte auf dem EU-Gipfel, aber es kommen noch weitere hinzu: Einige unserer Nachbarstaaten haben nämlich erkannt, dass sie die EU mit Migranten und Geflüchteten ganz wunderbar erpressen können. Die Blaupause dafür legte im vergangenen Jahr der türkische Präsident Erdoğan, als er nach einem Streit seinen Deal mit den Europäern kurzerhand brach und die Grenzen öffnete. Im Mai demonstrierte dann Marokko, was passiert, wenn Spanien Regimegegner ins Land lässt. Und nun bahnt sich im Osten Europas der nächste Erpressungsversuch an. Davor warnte Litauens Präsident Gitanas Nauseda gestern eindrücklich: An der Grenze zu Belarus sei die Zahl der Migranten und Geflüchteten "dramatisch" gestiegen, die meisten kommen offenbar aus dem Irak. Sein Vorwurf: Das belarussische Regime will seine Macht demonstrieren, weil die EU Sanktionen gegen Belarus erlassen hat. Es habe sogar Sonderflüge von Bagdad nach Minsk gegeben, berichtete Herr Nauseda.

Auf all diese drängenden Probleme hat die EU bisher erstaunlich wenig Antworten. Eine davon ist, das Türkei-Abkommen zu erneuern. 3,5 Milliarden Euro sollen in konkrete Hilfsprojekte in der Türkei fließen, dafür soll das Land weiter Menschen davon abhalten, sich auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer zu machen. Während sich aber die EU-Staaten bei den Abkommen mit Drittstaaten relativ einig sind, liegt eine Einigung für eine innereuropäische Asylpolitik noch in ganz weiter Ferne – und das seit Jahren.

Denn die europäische Logik folgt im Großen und Ganzen noch immer der Idee, dass Geflüchtete dort Asyl beantragen sollen, wo sie angekommen sind – also in den Außenstaaten. Ausnahmen gibt es etwa für Asylbewerber, die bereits Familie in einem anderen EU-Staat haben. Einen Verteilungsmechanismus für die ganze EU, der das erhebliche Ungleichgewicht beseitigen würde, gibt es bisher aber nicht. Und die Fronten zwischen den EU-Staaten sind in dieser Frage verhärtet.

Bezeichnend dafür ist, dass Italien seine Ziele längst der Realität angepasst hat. Statt sich auf dem Gipfel für eine europäische Lösung einzusetzen, will Ministerpräsident Mario Draghi lediglich Frankreich und Deutschland dazu bewegen, Menschen aus italienischen Flüchtlingslagern aufzunehmen. Doch selbst darauf kann sich Herr Draghi nicht allzu große Hoffnungen machen.

Fazit: Die EU taumelt vielleicht noch nicht wie ein niedergestreckter Boxer. Aber sie weicht seit Jahren dieser großen Herausforderung bestenfalls halbherzig aus. Es wird Zeit, dass sie sich endlich wieder entschlossen bewegt.


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Was lesen und anschauen?

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Ihre

Camilla Kohrs
Redakteurin Politik/Panorama
Twitter: @cckohrs

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Mit Material von dpa.

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