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Migrationskrise im Mittelmeer: "Die EU macht sich erpressbar"


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Migrationskrise im Mittelmeer
"Die EU macht sich erpressbar"


24.05.2021Lesedauer: 5 Min.
Migranten warten, um in die spanische Enklave Ceuta zu gelangen: Beobachter fürchten, dass sich die dramatischen Szenen der vergangenen Woche wiederholen könnten.Vergrößern des Bildes
Migranten warten, um in die spanische Enklave Ceuta zu gelangen: Beobachter fürchten, dass sich die dramatischen Szenen der vergangenen Woche wiederholen könnten. (Quelle: Bernat Armangue/ap)

Mehrere Tausend Menschen schwimmen von Marokko in die spanische Exklave Ceuta. Und auch auf Lampedusa kommen wieder mehr Geflüchtete an. Ein Überblick über die Lage an den Hotspots im Mittelmeer.

Ein spanischer Polizeitaucher zieht ein unterkühltes Baby aus dem Mittelmeer vor Marokko. Eine Rote-Kreuz-Mitarbeiterin spendet einem verzweifelten, erschöpften Geflüchteten Trost. Ein Soldat führt einen weinenden Jungen aus dem Wasser. Wieder sind es emotionale Bilder, die Europa auf die Lage an seine Außengrenzen schauen lässt – und die Situation am Mittelmeer aus dem Schatten der Corona-Krise hervorholt.

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In der spanischen Exklave Ceuta schwammen in der vergangenen Woche Tausende Menschen von Marokko über die Grenze und auf italienischen Inseln wie Lampedusa kommen immer mehr Geflüchtete an. Für die prekäre Lage in diesen Hotspots am Mittelmeer gibt es sehr unterschiedliche Gründe – aber beide zeigen, wo die Schwachstellen der EU-Migrationspolitik liegen.

Migranten als diplomatisches Druckmittel

Es waren dramatische Szenen, die sich in der vergangenen Woche in Ceuta abspielten. Innerhalb von 36 Stunden schwammen mehr als 8.000 Menschen in die kleine spanische Exklave in Nordafrika – darunter mehr als 2.000 Minderjährige. Die marokkanischen Grenzsoldaten hatten die Menschen offenbar einfach durchgelassen – entgegen einer Vereinbarung mit Spanien. Dessen Ministerpräsident Pedro Sánchez flog selbst nach Ceuta und ordnete Massenabschiebungen an. Innerhalb kurzer Zeit wurden 5.600 Menschen durch eine kleine Tür am Grenzzaun wieder zurückgeschickt, bleiben durften vorerst vor allem Minderjährige. Videos des lokalen Fernsehsenders Faro TV zeigen, wie Grenzsoldaten Migranten ins flache Wasser stießen.

Der plötzliche Andrang an Menschen hat selbst die spanischen Grenzsoldaten überrascht – und könnte sich nach Meinung vieler Beobachter auch in Zukunft wiederholen. Denn dahinter steht ein diplomatischer Streit zwischen Spanien und Marokko, indem es sich weniger um Migranten, sondern vielmehr um die Westsahara dreht. Der dünnbesiedelte Landstreifen liegt südlich von Marokko, war bis 1975 eine spanische Kolonie. Heute beansprucht Marokko das Gebiet, international anerkannt ist das jedoch nicht. Im Gegenteil: Die Vereinten Nationen setzen sich für ein Referendum der Bevölkerung in dem Gebiet ein.

Wütende Proteste in Ceuta

Der marokkanische Außenminister Nasser Bourita räumte freimütig ein, dass der "wahre Grund" der Krise sei, dass Spanien den Chef der westsaharischen Unabhängigkeitsbewegung Polisario in medizinische Behandlung genommen hat. Spanien warf Marokko daraufhin "Erpressung" vor.

Ministerpräsident Sánchez steht auch innenpolitisch unter Druck: Menschenrechtsgruppen kritisieren seine Express-Abschiebungen als illegal, die Opposition kritisierte Sánchez Reaktion hingegen als "schwach". Bei seiner Ankunft in Ceuta wurde der sozialistische Ministerpräsident von wütenden Demonstranten attackiert, die sein Fahrzeug angriffen und ihn beschimpften. Der Bürgermeister der Enklave Ceuta bezeichnete die Migrationskrise als "Invasion" und rechtfertigte die Protestaktion seiner Bürger.

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"Wir sehen hier, wie Marokko Migranten als Mittel zur Erpressung benutzt hat", sagt Clemens Binder, Politikwissenschaftler am Österreichischen Institut für Internationale Politik, der zur europäischen Grenz- und Migrationspolitik forscht. Allerdings ist das Problem hausgemacht: Denn die EU verlässt sich bei der Migrationsfrage vor allem auf Drittstaaten wie Marokko oder die Türkei.

"Die EU muss einen Weg finden, in den Grenzregionen damit umzugehen. Solange sie den nicht hat, macht sie sich erpressbar", meint Binder. Und nicht nur das: Sie schwächt auch ihre eigene diplomatische Rolle. "Die EU kann dann zum Beispiel schlecht die Handlungen der Türkei etwa im Kurdengebiet verurteilen, weil man Angst hat, dass die Türkei ansonsten den Flüchtlingsdeal aufkündigt."

Keine Hilfe von Europa

Ein anderer Hotspot im Mittelmeerraum ist die kleine italienische Insel Lampedusa, die rund 300 Kilometer von der libyschen Küste und knapp 240 Kilometer von Sizilien entfernt im Mittelmeer liegt. Die Menschen kommen mit überfüllten Booten direkt an oder werden von der Küstenwache aufgesammelt. Seit Ende April sind es wieder mehr Menschen geworden – innerhalb weniger Tage Mitte Mai mehr als 2.000.

Auf der Insel fühlt man sich mit dem Problem alleingelassen: "Der Zustrom hat sich verändert, ich habe das seit Wochen weitergemeldet", sagte der Bürgermeister Lampedusas, Totò Martello, vergangene Woche in der Zeitung "La Repubblica". Lange seien es kleine Boote mit 15 bis 20 Personen aus dem nahen Tunesien. Jetzt würden aus Libyen zweistöckige Fischerboote mit 200 oder 300 Passagieren an Bord starten.

Aber ganz Italien verzeichnet derzeit erheblich mehr Ankünfte. In diesem Jahr sind mehr als dreimal so viele Menschen in dem Land angekommen wie im gleichen Zeitraum 2020, bisher mehr als 13.000 Menschen. Auch die Zahl der Toten und Vermissten ist erheblich gestiegen. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gelten in diesem Jahr offiziell 685 Menschen als vermisst oder tot, ein Großteil davon geht auf die zentrale Mittelmeerroute zwischen nordafrikanischer Küste und Italien zurück. Im vergangenen Jahr waren es im gleichen Zeitraum etwa 290.

Um zu verstehen, warum viele Menschen sich auf die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer begeben, sei es wichtig, die Situation in Libyen zu kennen, sagt Trygve Thorson, zuständig für Humanitäre Angelegenheiten bei Ärzte Ohne Grenzen. Rund 4.500 Migranten werden dort Schätzungen zufolge in Haftanstalten aufgehalten. "Diese Center sind derzeit stark überfüllt", so Thorson.

Mitarbeiter seiner Organisation haben Zugang zu einigen dieser "Center" und berichten von einer Vielzahl von Problemen: Es mangelt an Wasser, Lebensmitteln, die hygienische Ausstattungen sind minimal. Deswegen können sich Hautkrankheiten wie Krätze verbreiten. "Ein weiterer Teil sind Verletzungen, die durch Gewalt in den Centern entstanden sind", so Thorson. Besonders extrem war ein Fall Anfang April: Bei einer Schießerei wurde ein Insasse getötet, zwei weitere wurden verletzt.

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Abschreckung funktioniert nicht

Auf der zentralen Mittelmeerroute arbeitet die EU zusammen mit der Küstenwache in Libyen, die die Überfahrt von Migranten verhindern soll. Ärzte ohne Grenzen kritisieren das scharf. Denn die Migranten, die die libyschen Küstenwache abfängt, landen meist in den überfüllten Haftanstalten. Seine Organisation fordert – wie auch andere Rettungsorganisationen im Mittelmeer – , dass die EU wieder selbst in der Seenotrettung tätig wird. Allerdings rechnet sie offenbar nicht damit, dass das schon bald passieren wird. Ärzte ohne Grenzen hat gerade erst selbst ein Schiff für eine Rettungsmission auf den Weg ins Mittelmeer geschickt.

Und auch Italien steht bisher mit der Situation allein da. Zwar besuchte Außenminister Heiko Maas am 13. Mai seinen italienischen Amtskollegen Luigi Di Maio in Rom und stellte die Aufnahme von Migranten in Aussicht. Eine konkrete Zusage gibt es jedoch bis heute nicht.

Laut Politikwissenschaftler Binder zeigen die aktuellen Vorkommnisse, dass eine Politik der Abschreckung nicht funktioniere. "Die Menschen sind nicht in Bewegung, weil sie an einem Tag sehen, dass es einfach ist, in Ceuta hereinzukommen", sagt Binder. "Sie sind in Bewegung wegen Konflikten, ökonomischer Ungleichheit und zusehends wegen des Klimawandels." Die EU-Staaten aber lassen ihre Mitglieder im Süden mit dem Problem allein – und das nicht erst seit der Coronakrise.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräch mit Clemens Binder und Trygve Thorson
  • Nachrichtenagentur dpa
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