Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Laschets Bluff
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
140 Seiten ist es stark und schon zerrissen worden, bevor es fertig war: das Wahlprogramm der Union. Präsentiert wurde es am Montag von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet und CSU-Chef Markus Söder mit dramatischer Musik, schnell geschnittenen Videosequenzen und auf die Leinwand fliegenden Begriffen wie "Mitmachen“ und "Handeln".
Laschet betonte den neuen Dreiklang, für den die Union nun stehen will: Klimaschutz, wirtschaftliche Stärke, soziale Sicherheit. CSU-Chef Söder legte wie üblich noch eine Schippe drauf: So ambitioniert wie "kaum ein anderes Land der Welt" solle Deutschland mit Unions-Antrieb beim Klimaschutz werden.
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Aber wie viel Zukunft steckt tatsächlich im Programm der Konservativen? Wie viel soziale Sicherheit hat es zu bieten für Deutschlands Bürger, wie viel Klimaschutz für die bedrohte Umwelt? Ein Anruf bei Experten für zwei der wichtigsten Zukunftsthemen zeigt: Die Antwort liegt – je nach Thema – zwischen "enttäuschend wenig" und "überraschend viel".
Die schlechte Nachricht zuerst: Beim Thema Rente enttäuscht die Union. Vier Seiten hat sie diesem Bereich gewidmet – doch das Urteil des Rentenexperten Johannes Geyer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung fällt vernichtend aus: "Nicht aufsehenerregend, in fast allen Punkten maximal unkonkret", bewertet er das Programm. "Von der Union als Regierungspartei habe ich mehr erwartet."
CDU und CSU schlagen zwar eine Generationenrente vor – bedeutet: Der Staat soll für jeden Bürger bis zu dessen 18. Lebensjahr in einen Fonds einzahlen. Doch der zunächst diskutierte konkrete Betrag von 100 Euro pro Monat und Bürger ist wieder aus dem Programm geflogen. Und schlimmer: "Die Generationenrente löst kein einziges von den Problemen, die aktuell drängend auf der Liste stehen", sagt Geyer. Sie löse sie, wenn überhaupt, erst Ende des Jahrhunderts.
Viel zu spät, viel zu wenig für das viel größere Problem der Gesamtfinanzierung, das zurzeit im Raum steht: Wie soll verhindert werden, dass der Beitragssatz schon 2025 auf über 20 Prozent steigt? Wie soll einer drohenden Absenkung des Rentenniveaus schon ab 2025 entgegengesteuert werden?
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Keinerlei praktische Antworten habe die Union darauf zu bieten, kritisiert Geyer. Nur einen Alterssicherungsbeirat schlage sie vor, in dem die Politik mit den Sozialpartnern zusammenarbeiten soll. Solche Gremien aber gebe es bereits. "Man vermeidet so ganz einfach, konkrete Vorschläge zu entwickeln, die Leuten auch wehtun und Stimmen kosten können – zum Beispiel den Vorschlag, das Renteneintrittsalter oder den Steuerzuschuss zu erhöhen." Ein Bluff, eine Mogelpackung also. Leerstellen statt Zukunft. Eine bittere Bilanz.
Und wie steht es um die Umwelt? Anruf bei Mark Lawrence, dessen Forschungsbereiche Nachhaltigkeit und Zukunft sind. Er ist geschäftsführender wissenschaftlicher Direktor am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam, der studierte Physiker und Atmosphärenwissenschaftler hat zuvor Forschungsgruppen am Max-Planck-Institut geleitet. Er bricht nicht in Begeisterungsstürme aus, klingt aber wesentlich positiver als Geyer. Als "schon etwas ambitioniert" bezeichnet er die Passagen im Unions-Programm zum Klimaschutz. Immerhin. Es ist weniger, als die Grünen fordern, aber mehr als prognostiziert.
Die Union bekenne sich klar zum Emissionshandel und zum koordinierten CO2-Preis und wolle erneuerbare Energien vorantreiben. So weit, so erwartbar. Mit zwei Punkten im finalen Papier aber hätten die Konservativen ihn tatsächlich überrascht: "Die Union will die bisher hochumstrittene CCS-Methode zur langfristigen unterirdischen Speicherung von Kohlenstoff angehen und nennt viele Details und konkrete Pläne zur Förderung von Wasserstoff-Technologien." Er holt aus zu einem Vortrag über blauen und grünen Wasserstoff im Unions-Papier, unterbricht sich selbst – zu kompliziert, zu detailliert. Aber genau diesen Sachverstand, diese Tiefe, auch den Mut zu kontroversen Ansätzen hat er bei CDU und CSU offensichtlich nicht kommen sehen.
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Dass kein konkreter CO2-Preis im Papier benannt wird, wie Kritiker oft anmerken? Geschenkt, findet Lawrence. Der Preis müsse bei Hunderten Euro pro Tonne landen, um die schädliche Wirkung des CO2 tatsächlich wieder wettzumachen, die wir jährlich in die Luft blasen. "Damit schreckt man Menschen ab, davon reden auch andere Parteien in der Regel nicht." Vielleicht hat die Union gelernt aus dem Benzinpreis-Gate der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock – die Forderung nach 16 Cent mehr für Benzin führte kurz vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt zu Entrüstungsstürmen.
Zum Teil zukunftsfähig – so könnte das vorläufige Fazit zum Union-Wahlprogramm lauten. Sollte sie wieder regieren, bleibt aber der wichtigste Auftrag: Nicht nur Ziele setzen, sondern auch handeln.
Von der Leyen verteilt Corona-Gelder
In Portugal, Spanien, Griechenland, Dänemark und Luxemburg war sie schon – jetzt kommt ihre Heimat an die Reihe: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) besucht Berlin und überbringt den Bescheid zu Corona-Aufbauhilfen. Erstmals hat die Staatengemeinschaft gemeinsam Schulden in so großem Umfang – 750 Milliarden Euro – aufgenommen. Den hart von der Pandemie getroffenen Ländern Spanien und Portugal sagte die EU 69,5 beziehungsweise 16,6 Milliarden Euro zu. Die Bundesregierung rechnet mit Zuschüssen von rund 26 Milliarden Euro netto. Finanzminister Scholz will das Geld zu 90 Prozent in Klimaschutz und Digitalisierung investieren.
Diskussionen zur Delta-Variante
Auch Österreichs Kanzler Sebastian Kurz besucht heute die deutsche Hauptstadt. Er will sich mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble treffen – und mit Charité-Virologe Christian Drosten. Dabei soll es um die Delta-Variante gehen, die sich derzeit auch in der Alpenrepublik verbreitet.
Alarmstufe Rot
In Frankfurt und Düsseldorf demonstrieren unter dem Stichwort "Alarmstufe Rot" wieder jene, denen Scholz' Ausgabepläne zu den EU-Corona-Geldern wenig gefallen dürften: Soloselbstständige, freischaffende Künstler, Bühnen- und Backstage-Mitarbeiter, die für rund eine Million Beschäftigte stehen und in vielen Ländern monatelang durch die Raster der Corona-Hilfen gefallen sind.
Verbindung gegen den Hass
Im Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten auf seiner Veranda erschossen – weil er Rückgrat gegen Fremdenhass zeigte und sich für die Aufnahme von Flüchtlingen einsetzte. Heute wird in Kassel eine Brücke nach ihm benannt. Nach zu wenig muss auch das sich zwangsweise anfühlen – aber es ist ein Zeichen der Verbindung, für die Lübcke stets stand, das dauerhaft bleibt.
Was lesen?
Zwei Torvorlagen und ein Treffer: "Den Namen von Robin Gosens kennt jetzt jeder", sagte der portugiesische Ex-Profi Nuno Gomes nach dem Spiel der Nationalelf gegen Portugal t-online. Sollte da nicht auch der größte Klub der Bundesliga Interesse an dem 26-Jährigen haben? Meine Kollegen Florian Wichert und Robert Hiersemann haben genau über diese Frage diskutiert, das Pro und Contra lesen Sie hier.
Auch Ex-Bundestrainer Berti Vogts widmet sich in seiner t-online-Kolumne Nachwuchsstar Gosens. Er feiert sein Spiel wie lange nicht mehr – und sieht Gosens Leistung gerade deswegen als ein "Alarmsignal" an den DFB. Warum lesen Sie hier.
Bei der EM stehen Tausende im Stadion, teils ohne Masken. In vielen deutschen Schulen aber gelten weiter Maskenpflicht und Wechselunterricht. Das wird vermutlich auch noch im Herbst und Winter so bleiben, wenn es nach Gesundheitsminister Jens Spahn geht. Warum Deutschland sich damit ein Eigentor schießt, erklärt Christiane Braunsdorff in diesem Kommentar.
Nora Tschirner, Kurt Krömer und Torsten Sträter haben das Tabu bereits gebrochen und über ihre Depressionen gesprochen. Auch Mirja du Mont will nicht mehr verstecken, dass ihre Welt oft nichts mit den perfekten Poolfotos auf Instagram gemein hat. "Ich konnte nicht mal mehr einkaufen gehen", sagt sie im Interview mit Janna Halbroth.
Worüber ich lachen kann?
"Ich selber fahr' praktisch gar kein Auto mehr – selbst": Wie sehr alle Politiker ins Schwimmen geraten, wenn sie nach dem aktuellen Benzinpreis gefragt werden. Am Ende auch Söder, wie sie in diesem Video sehen.
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Annika Leister
Redakteurin Politik
Twitter: @AnnLei1
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Mit Material von dpa.
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