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Attacke auf Kapitol in Washington: Eine Demokratie im Schockzustand


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Was heute wichtig ist
Amerika im Schockzustand

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 07.01.2021Lesedauer: 8 Min.
Radikale Trump-Anhänger stürmten das US-Parlament auf dem Kapitol in Washington.Vergrößern des Bildes
Radikale Trump-Anhänger stürmten das US-Parlament im Kapitol in Washington. (Quelle: Leah Millis/reuters)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

und ein frohes neues Jahr! Nach der wie angekündigt etwas längeren Weihnachtspause darf ich Ihnen ab heute wieder den Tagesanbruch servieren. Das Jahr 2021 wird spannend: Kampf gegen Corona, Bundestagswahl, neue Bundesregierung, sechs Landtagswahlen, Klimaschutz, Digitales, Migration, Fußball-EM, vielleicht sogar Olympische Spiele: Stoff für Kommentare und Analysen wird es genug geben, und Ihre vielen netten Rückmeldungen spornen uns an. Aber heute Morgen müssen wir zuerst nach Washington blicken:

WAS WAR?

Amerika ist krank. Es leidet an den Wunden seiner gesellschaftlichen Spaltung, und der Mafioso im Weißen Haus hat vier Jahre lang Salz in diese Wunden gerieben. Das Ergebnis haben wir gestern gesehen: Angestachelt von einer Hetzrede Donald Trumps, der seine Wahlniederlage partout nicht eingestehen will, stürmte eine Meute das Parlamentsgebäude des Kapitols, wo gerade das Ergebnis der Präsidentschaftswahl bestätigt werden sollte. Sie randalierten, griffen Polizisten an, schrien Beleidigungen, eine Frau wurde erschossen, drei weitere Menschen starben "nach medizinischen Notfällen". Videomitschnitte zeigen die beispiellosen Szenen in der Herzkammer der amerikanischen Demokratie.

Das ist also das Erbe des schlechtesten Präsidenten, den Amerika je hatte: ein hasserfülltes, vergiftetes Land, in dem die Gewalt alle paar Wochen eskaliert. Kenosha, Los Angeles, Madison, Minneapolis, nun Washington: eine Spur der gesellschaftlichen Verwüstung.

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Donald Trump hat zu keinem Zeitpunkt getan, was ein Staatsmann tun müsste: die Gemüter beruhigen, die rivalisierenden Lager zusammenführen und versöhnen. Stattdessen hat er sich mit dem geifernden Mob verbündet, hat ihn immer weiter angestachelt, hat täglich Lügen und Verschwörungstheorien verbreitet und in verschwurbelten Andeutungen zur Gewalt aufgerufen. Eine Mehrheit der republikanischen Wähler glaubt heute ernsthaft, die Wahl sei gefälscht worden oder zumindest nicht ganz korrekt verlaufen – dabei gibt es keinen einzigen Beleg dafür. Millionen Menschen haben sich von dem Pinocchio-Präsidenten und seinen rückgratlosen Claqueuren in der republikanischen Partei ins Bockshorn jagen lassen – und das Ergebnis ist eine brutale Attacke auf das Parlament. Von einem "beispiellosen Angriff auf die Demokratie" hat der gewählte Präsident Joe Biden gestern Abend gesprochen, in zwei Wochen soll er den Trump'schen Scherbenhaufen übernehmen.

Doch sein Amtsantritt wird die kranken Staaten von Amerika nicht schnell kurieren. Der Sturm auf das Kapitol lässt erahnen, was in den kommenden Monaten noch alles auf Amerika zukommen kann. Auch wenn Trump nun das Weiße Haus räumen muss, ist er ja nicht weg. Er ist immer noch da. Er wird weitermachen mit seinen Twitter-Tiraden, er wird weiter lügen, Hass säen und frustrierte Bürger aufwiegeln. Er wird weiter Salz in Amerikas Wunden streuen. Das ist das Einzige, was er wirklich gut kann, und er kann es so perfide wie kein anderer.

Eine Demokratie im Schockzustand: So sieht sie aus, die Amtsbilanz eines narzisstischen Populisten. Wir sollten uns dieses Drama genau ansehen. Und gewarnt sein. Auch wir in Europa sind nicht gegen das Virus des Populismus gewappnet, erst recht nicht inmitten einer Pandemie von historischem Ausmaß. Erinnern Sie sich noch an den Angriff der Corona-Leugner auf das Reichstagsgebäude in Berlin? Oder an die AfD-Abgeordneten, die den "Querdenker"-Chaoten die Tür zum Bundestag öffneten, wo diese dann Abgeordnete und einen Minister bedrängten? Lange her, nicht vergleichbar, nicht so schlimm? Täuschen Sie sich bitte nicht. Die Feinde der Demokratie werden immer frecher, auch hierzulande. Der Rechtsstaat muss ihnen entschlossen entgegentreten. Und aufrechte Demokraten müssen sich gegen ihr Gift immunisieren. Das ist mindestens ebenso wichtig wie eine Impfung gegen Corona.


Der Angriff auf den Kongress überschattete gestern Abend die politisch wichtigere Meldung: Im amerikanischen Bundesstaat Georgia haben sich die beiden Kandidaten der Demokraten in der Stichwahl durchgesetzt. Damit hat die Partei des gewählten Präsidenten Joe Biden in beiden Kongresskammern künftig die Mehrheit und kann durchregieren. Es ist ein historischer Moment, der Liberale beglückt und Konservative schockiert. Und er bietet dem neuen Präsidenten die Chance, das verwundete Land doch noch zu beruhigen. Dafür muss er allerdings an zwei Fronten aufräumen: einerseits die radikalen Extremisten auf der Rechten beruhigen und für den demokratischen Prozess zurückgewinnen – andererseits die Sozialismusfantasien von Bernie Sanders, Alexandria Ocasio-Cortez und anderen in seiner eigenen Partei eindämmen. Eine Herkulesaufgabe. Gelingt sie Biden, kann er in die Heldensphäre Franklin D. Roosevelts aufsteigen. Vermasselt er sie, wird er nur ein weiterer in einer langen Reihe gescheiterter US-Präsidenten sein.

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Die Festtagsruhe ist flugs verflogen. Die hohen Infektionszahlen, die Furcht vor der neuen Virusmutation und der Zank um den Impfstart haben das neue Jahr mit dem Sound der Hektik und der Hitzköpfigkeit eingeläutet. Das Crescendo der täglichen Wortmeldungen zum Thema Impfen erinnert an das Phrasengewitter zur Hochphase der Flüchtlingskrise vor fünf Jahren: Jeder weiß am besten, was nun dringend getan werden muss, wer schuld daran ist, dass nicht alles noch viel schneller geht, und die Herrschaften mit den seichtesten Argumenten gleichen ihren Mangel an Tiefgang durch Lautstärke aus. Ein Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften spricht von "grobem Versagen" der Bundesregierung, die Linkspartei setzt noch einen drauf und sieht gar ein "Staatsversagen". Der "Spiegel" raunt vom "Winterversagen", die "Welt" donnert vom "Impfdesaster" und einer "beispiellosen Blamage", der "Focus" meint, die "verheerendste Entscheidung der Kanzlerin in 15 Jahren Amtszeit" zu erkennen, und die "Bild"-Zeitung zündet den Doppelböller aus "Impfversagen" und "Merkels größter Krise".

Nun kann man Vorbereitung und Tempo der deutschen Impfkampagne gegen das Coronavirus zweifellos kritisieren, aber es wäre ratsam, dabei erstens Maß zu halten und zweitens genau hinzuschauen. Angela Merkels Impfplan war kein Versagen. Er war eine bewusste Entscheidung für eine gemeinsame Impfkampagne aller EU-Staaten – und gegen einen nationalen Alleingang des mächtigsten und reichsten Staates im Herzen des Kontinents. Man mag sich die Reaktionen in Paris, Rom, Den Haag, Madrid und Warschau nicht ausmalen, hätte Deutschland bei der Impfstoffbeschaffung auf Egoismus statt auf Solidarität gesetzt oder sich den Mainzer Biontech-Zaubertrank vor den anderen Ländern unter den Nagel gerissen. Die Organisation der Impfungen muss schneller und einfacher werden, keine Frage. Aber das muss sie nicht nur hierzulande, sondern auch in Frankreich, Österreich, Italien, Portugal, Polen und den anderen Partnerländern – und der Hebel dafür sind die EU-Strukturen.

Die Aussichten dafür sind seit gestern besser: Die EU-Kommission hat den Impfstoff des US-Konzerns Moderna zugelassen. Deutschland erhält davon 50 Millionen Dosen und erwartet kommende Woche die ersten Lieferungen. Die europäische Arzneimittel-Agentur will außerdem genehmigen, dass Ärzte aus den Ampullen von Biontech künftig sechs statt fünf Dosen abzapfen dürfen, die Fläschchen enthalten in der Regel mehr Flüssigkeit als die angegebene Menge. Meine Kollegin Annika Leister hat recherchiert, welche Bundesländer in den nächsten Wochen wie viele Dosen bekommen. Biontech und Moderna zusammengerechnet, hat die Bundesregierung bereits mehr als 130 Millionen Impfdosen bestellt. Die bloße Zahl wird die Lage nicht von heute auf morgen verbessern, die riesigen Mengen müssen erst produziert und ausgeliefert werden, das dauert Wochen und Monate. Aber sie zeigt, dass die Verantwortlichen in Berlin nicht tatenlos herumsitzen, während vor ihren Türen das Virus wütet.

Merke: Manchen Kommentatoren täte es gut, dem Reflex des ständigen Versagen-Sagens zu entsagen.


WAS STEHT AN?

Die SPD weiß wieder einmal nicht genau, was sie wollen soll: Schon in den Wahlkampfmodus schalten und den Koalitionspartner CDU auf dem nächstbesten Schlachtfeld attackieren? General Lars Klingbeil und Kanzleraspirant Olaf Scholz haben sich für diese Taktik entschieden und zum Halali auf Gesundheitsminister Jens Spahn geblasen: Nicht dass der zu selbstbewusst wird und womöglich doch noch selbst ins Kanzleramt einziehen will! Der Angriff kam nicht so gut an, wie die beiden es sich erhofften. Statt ein Bild der Stärke vermittelten sie eines der Zerstrittenheit, wie mein Kollege Stefan Rook in seinem Kommentar analysiert. Die beiden Genossen haben eine Regel aus dem Einmaleins der Politik missachtet: Wer Umfragekönige angreift (Herr Spahn erfreut sich unter den Bundesbürgern ähnlich großer Beliebtheit wie Frau Merkel), zieht meistens den Kürzeren. Die Kritik wird dann schnell als wohlfeil, neidisch, besserwisserisch wahrgenommen.

SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich scheint das zu ahnen und es klüger anstellen zu wollen, weshalb er vor der heute beginnenden Jahresauftaktklausur abrüstet und einen moderaten Ton anschlägt: "Das Entscheidende ist, dass wir beim Impfen erfolgreich sind“, hat er unserem Reporter Johannes Bebermeier gesagt. "Deswegen finde ich es richtig, dass jetzt eine von der Bundeskanzlerin eingesetzte Regierungsarbeitsgruppe dem Gesundheitsminister unter die Arme greift. Wir müssen sicherstellen, dass es keine weiteren Probleme bei Produktion, Beschaffung und Verteilung des Impfstoffes gibt. Ziel ist es, den Menschen für den Sommer eine Perspektive zu geben, dass wir die Pandemie besiegen werden. Daran werden wir unablässig arbeiten." So klingt jemand, der Führungsverantwortung ernst nimmt.

Auf der SPD-Klausur wird die Pandemie zwar ein wichtiges, aber nicht das einzige Thema sein. Wie die Sozialdemokraten Deutschlands Verhältnis zu den USA nach Donald Trumps Abgang neu definieren wollen, lesen Sie heute exklusiv auf t-online.


Halten sich die Bürger an die Lockdown-Regeln? Das Statistische Bundesamt veröffentlicht heute seine Zahlen zur Mobilität an Weihnachten und Silvester. t-online-Leser wussten schon gestern Bescheid, wenn Sie den Artikel meiner Kollegin Laura Stresing gelesen haben, die Handydaten der Bundesbürger ausgewertet hat. Hier zeigt Sie Ihnen, ob der "harte Lockdown" wirklich etwas bringt.


WAS LESEN?

Was ist von den neuen Corona-Regeln zu halten, und verspricht die Zulassung des Impfstoffs von Moderna wirklich Erleichterung an der Virusfront? Der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit kann die Lage so genau beurteilen wie wenige andere. Meinen Kollegen Sandra Sperling und Arno Wölk hat er Rede und Antwort gestanden.


Nun gilt also der verschärfte Lockdown – aber blicken Sie bei den Regeln noch durch? Ausflüge, Besuche, Kindergeburtstage: Was genau darf man jetzt noch und was nicht? Meine Kollegin Sandra Simonsen erklärt es Ihnen.


Manche Zeitgenossen echauffieren sich über die Corona-Politik der Bundesregierung. Aber was würden sie wohl sagen, lebten sie in Großbritannien? Dort ist wirklich Land unter. Boris Johnsons Corona – ja was: Schlingerkurs? – ist gekennzeichnet von Zaudern statt Handeln. Wie schon im vergangenen Frühjahr brauchte der Premierminister auch jetzt wieder Wochen, um eine Entscheidung zu treffen. Die war dann eine Kehrtwende. Statt "die Schulen sind sicher" heißt es nun: Alles dicht! Die Beliebtheitswerte von Mister Brexit stürzen im Corona-Chaos ins Bodenlose. Warum macht der Mann immer wieder dieselben Fehler? Mein Kollege Stefan Rook erklärt es Ihnen.


Der Doppelsieg der US-Demokraten in Georgia muss Besitzer von Technologie-Aktien beunruhigen: Nun wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die Datenkraken Amazon, Facebook und Google reguliert oder sogar zerschlagen werden – so wie vor gut hundert Jahren die Standard Oil Company. Dann würde Jeff Bezos, Marc Zuckerberg und die Google-Bosse dasselbe Schicksal ereilen wie einst John D. Rockefeller. Auf die Gefahr hin, manchen Aktionär zu verärgern: Es wäre eine gute Nachricht für die Digitalwirtschaft, den Datenschutz und die Demokratie. In diesem nicht ganz tauffrischen, aber aufschlussreichen Artikel erfahren Sie die Hintergründe.


WAS AMÜSIERT MICH?

Der Tagesanbruch ist zurück, also ist auch der liebe Mario Lars wieder da – und bringt wie gewohnt auf den Punkt, was ich nur beschreiben kann:

Ich wünsche Ihnen einen gesunden Tag und möglichst bald ein Pflaster auf dem Oberarm!

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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